Nr. 21/2021
Wahrheit

(X. c. «Luzerner Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 9. November 2020 veröffentlichte die «Luzerner Zeitung» online ein Interview mit dem Medizinhistoriker Flurin Condrau unter dem Titel «‹Das hätte man im Zweiten Weltkrieg nicht den Kantonen überlassen›: Historiker sagt, warum die Schweiz bei Corona versagt». Untertitel: «Der Medizinhistoriker Flurin Condrau (56) forscht zu Pandemien. Im Interview erklärt der Professor der Universität Zürich, wie die Schweiz frühere Pandemien gemeistert hat und wo die Behörden versagen.»

In dem sehr ausführlichen Interview kommt der Experte nach einem Exkurs über frühere Pandemien zum Schluss, dass «die föderale Schweiz den gegenwärtigen Stresstest der Pandemie eher schlecht» bestehe, es scheine, dass nicht alle Behörden gleich gut auf diese Entwicklung vorbereitet gewesen seien. Insbesondere die verschiedenen Vorgehensweisen der einzelnen Kantone werden kritisch beurteilt, oder dass einzelne Akteure offenbar nur bis zum Lockdown geplant hätten, aber nicht darüber hinaus (wann endet der Lockdown?), die kantonalen Unterschiede im Contact Tracing werden angesprochen. Aufgrund der speziellen Situation der Schweiz, sagt Condrau, würde er aber «noch keine abschliessende Beurteilung der Strategien wagen». Später im Gespräch nimmt er Stellung zur Frage, wie man eine Pandemie in einem demokratischen System besser bekämpfen könnte und sagt, rasche Entscheide seien wichtig, wissenschaftliche Beratung, die Taskforce hätte schon viel früher bereitgestellt werden müssen und die Kommunikation müsse verbessert, auf andere Kanäle ausgeweitet werden als nur auf diejenigen zum traditionellen, aber überalterten SRF-Publikum.

B. Am 9. November 2020 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Titel des Interviews verletze die Ziffer 1, das Wahrheitsgebot der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).

Der Beschwerdeführer (BF) hält es für «zu weit hergeholt», wenn die Antworten von Prof. Condrau mit der Charakterisierung zusammengefasst werden: «Historiker sagt, warum die Schweiz bei Corona versagt». Wenn der Historiker im Interview doch ausdrücklich sage: «Ich würde darum noch keine abschliessende Beurteilung der Strategien wagen», dann lasse diese offene Formulierung «nicht darauf schliessen, dass er (selbst zwischen den Zeilen) ein ‹Versagen› orten würde».

Im Weiteren kritisiert der Beschwerdeführer, dass im Titel pauschal von «der Schweiz» gesprochen werde, womit unklar sei, wer mit der Kritik des Versagens genau gemeint sei, dass aber davon ausgegangen werden müsse, dass hier die Verantwortung dem Bund zugewiesen werde, was der Interviewpartner aber so nicht sage.

Schliesslich regt der BF an, dass die «Erklärung» um eine Regel zum Thema «clickbait» ergänzt werde. Darauf wird hier nicht weiter eingegangen, da das Präsidium des Presserates die damit gemeinten Fragen zwar regelmässig diskutiert, aber selber nicht Änderungen der «Erklärung» vornehmen kann.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 21. Dezember 2020 beantragte der Chefredaktor der «Luzerner Zeitung», Jérôme Martinu (Beschwerdegegner, BG) die Beschwerde sei abzuweisen. Der kritisierte Titel bestehe aus einem Zitat und einer von der Redaktion gesetzten Aussage, welche zentrale Passagen «subsummiere». Das sei grundsätzlich zulässig und aufgrund des kenntlich gemachten Zitates auch klar ersichtlich. Die zusammenfassende Passage («Historiker sagt, warum die Schweiz bei Corona versagt») sei eine in Titeln gebräuchliche Pointierung. Diese sei berechtigt angesichts verschiedener Aussagen von Flurin Condrau im Interview. Als Beispiele solcher Aussagen zitiert der BG Condraus Aussage, es scheine, dass nicht alle Behörden gleich gut auf diese Entwicklung vorbereitet gewesen seien, weiter: seiner Ansicht nach bestehe die föderale Schweiz diesen Stresstest eher schlecht, Condraus Kritik am unterschiedlich gehandhabten Contact Tracing, oder seine Aussage, wonach es ihm ein Rätsel sei, warum so viele Kantone nicht in der Lage waren, auf bereits ausgebauten Strukturen aufzubauen. Zwar relativiere Condrau mit dem vom BF angeführten Zitat tatsächlich seine Wertungen, indem er sie als «noch nicht abschliessend» beurteile. In der Summe seien aber seine kritischen Aussagen klar in der Mehrheit. Deswegen sei der Vorwurf einer Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» nicht haltbar.

D. Am 26. Februar 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus der Präsidentin Susan Boos, sowie den Vizepräsidenten Dominique von Burg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 12. April 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Frage, wann ein Titel «zuspitzt», wann er «stark zuspitzt» – was gemäss der Praxis des Presserates beides zulässig ist – und wann er so stark zuspitzt respektive überspitzt, dass er nicht mehr stimmt und damit die Wahrheitspflicht verletzt, beschäftigt den Presserat häufig.

Im vorliegenden Fall trifft die Bemerkung des Beschwerdeführers zu, wonach der Interviewte im ganzen Interview nie von einem «Versagen der Schweiz» gesprochen hat. Auch hat er an einer Stelle ausdrücklich gesagt, er würde noch keine abschliessende Bewertung wagen. Insofern ist die Schlagzeile mindestens sehr stark zugespitzt formuliert.

Sie ist aber nach Auffassung des Presserates gesamthaft nicht unwahr, weil Flurin Condrau sich in der Tat in den verschiedensten Passagen sehr kritisch zu verschiedenen Aspekten der Corona-Bekämpfung auf verschiedenen Ebenen der Schweiz äussert. Er spricht nicht ausdrücklich von «Versagen», das spitzt sehr stark zu, aber er kritisiert viele Mängel auf verschiedenen Ebenen. Deswegen qualifiziert der Presserat den Titel als sehr weitgehende Zuspitzung, aber nicht als Überspitzung, nicht als eigentlichen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht.

2. Dass die Schlagzeile zu ungenau von «der Schweiz» spricht, wie der BF weiter moniert, ist nicht zu kritisieren. Im Interview wird mehrfach die Ebene gewechselt zwischen Bund und Kantonen, es werden Mängel auf beiden Ebenen diskutiert, dies zusammenfassend mit «der Schweiz» zu titulieren erscheint als unproblematisch. Auch hier: kein Verstoss gegen die Ziffer 1 der «Erklärung».

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Luzerner Zeitung» hat mit dem Titel ihres Online-Artikels «‹Das hätte man im Zweiten Weltkrieg nicht den Kantonen überlassen›: Historiker sagt, warum die Schweiz bei Corona versagt» vom 9. November 2020 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.