Nr. 83/2020
Identifizierung

(X./Y. c. «Blick»)

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Zusammenfassung

Der Schweizer Presserat rügt den «Blick», weil der eine junge Frau mit Bildern und zahlreichen Angaben so weit kenntlich machte, dass auch Leute, die nicht zu ihrem engeren Umfeld gehören, diese erkennen konnten. Eine Leserin und ein Leser hatten sich beschwert, der Artikel «Wegen ihr mussten 280 Leute in Quarantäne» stelle die junge Frau an den Pranger und mache sie identifizierbar. Die Frau war, obwohl sie infiziert und zuhause isoliert war, feiern gegangen.

Der Presserat befand, «Blick» habe mit der Häufung persönlicher Angaben, einem Porträtfoto und dem Bild des Hausteils, in dem die Frau wohnt, deren Privatsphäre verletzt. Die Redaktion verstiess gegen den Journalistenkodex, obwohl «Blick» das Porträt mit einem Balken versehen hatte und den Namen änderte. Trotzdem war die junge Frau nach Beurteilung des Presserats durch die Kumulation der Angaben für Personen, die nicht zur Familie, dem sozialen oder beruflichen Umfeld der Frau gehören, identifizierbar.

Résumé

Le Conseil suisse de la presse blâme le «Blick» pour avoir rendu une jeune femme reconnaissable à l’aide de photos et de nombreuses indications que des personnes extérieures à son entourage proche pouvaient elles aussi reconnaître. Une lectrice et un lecteur se sont plaints que l’article intitulé «Wegen ihr mussten 280 Leute in Quarantäne» (280 personnes mises en quarantaine à cause d’elle) clouait la jeune femme au pilori en permettant de l’identifier. Bien qu’infectée et placée en isolement chez elle, la jeune femme était sortie faire la fête.

Le Conseil de la presse a jugé que le «Blick», en combinant des indications personnelles, un portrait-photo et une image de la maison où la jeune femme habite, a violé sa sphère privée. La rédaction a porté atteinte au code de déontologie des journalistes, bien que le «Blick» ait apposé un bandeau sur le portrait et modifié le nom. Le cumul des informations, estime le Conseil de la presse, permettait aux personnes extérieures à la famille et à l’environnement social et professionnel de la jeune femme de l’identifier.

Riassunto

Il Consiglio della stampa ha accolto due reclami presentati contro il «Blick», dopo che immagini e altri particolari atti all’identificazione erano stati resi pubblici dal giornale, rendendo riconoscibile una donna anche a persone estranee al suo ambiente. Due i reclami presentati contro l’articolo, intitolato: «Per causa sua, 280 persone sono finite in quarantena». La donna aveva partecipato a una festa malgrado fosse contagiata dal Covid-19 e le fosse stato prescritto di stare a casa.

L’identità della donna, secondo il Consiglio della stampa, era resa palese grazie a una foto di lei e a un’immagine della casa in cui abita: l’intrusione nella sua sfera privata è dunque evidente. Non bastava che il «Blick» ne avesse modificato il nome e coperto parzialmente la foto con una striscia. È l’accumulo dei dati forniti su di lei che la rendevano riconoscibile ben al di là della sfera sociale o professionale cui appartiene.

I. Sachverhalt
A. Am 8. Juli 2020 veröffentlichte «Blick» online den Artikel «Camilla T. (21) ging in Grenchen SO mit Corona in den Ausgang. Wegen ihr mussten 280 Leute in Quarantäne!». Tags darauf, am 9. Juli 2020, folgte in der Printausgabe derselbe Text; auf der Frontseite angekündigt mit der Schlagzeile «Wegen ihr mussten 280 Leute in Quarantäne», im Innenteil überschrieben mit dem Titel «Camilla T.* (21) ist die Corona-Ignorantin von Grenchen SO. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft». Darin wird über die 21-jährige Camilla T. (Name geändert) berichtet, die trotz einer Corona-Infektion und einer amtlich verfügten Isolation feiern ging. In der Folge mussten 280 Personen in Quarantäne. Gemäss «Blick» soll daraufhin der Kantonsärztliche Dienst beziehungsweise das Departement des Innern eine Anzeige gegen die junge Frau eingereicht haben. Da sie Ansteckungen anderer in Kauf genommen habe, drohe ihr eine Busse von bis zu 10’000 Franken. Diese Anzeige bestätigte die Staatsanwaltschaft Solothurn gegenüber «Blick».

Im Artikel wird Camilla T. als junge Frau beschrieben, die im Betreuungsbereich arbeitet und nahe des Stadtzentrums mit ihrer Mutter (48) in einer Parterrewohnung wohnt. Eine Kontaktaufnahme mit Camilla T. sei sowohl telefonisch als auch per Klingeln an der Haustür gescheitert. Einzig der Vater (52), der ebenfalls in Grenchen lebe, habe die Tür geöffnet. Gemäss «Blick» bestätigte er, dass seine Tochter in besagter Partynacht unterwegs war und sich deshalb in Quarantäne befinde. Von ihrer Corona-Infektion habe er nichts gewusst. Nachdem er telefonisch bei ihr nachgefragt hatte, habe er gegenüber dem «Blick» angegeben, sich nicht mehr dazu äussern zu wollen. Ein Bekannter gab an, dass Camilla T. überfordert sei und nicht über die Vorkommnisse sprechen wolle. Weder der Kantonsarzt noch andere Behördenmitglieder machten gegenüber «Blick» Angaben zu Camilla T..
Sowohl der Print- als auch der Online-Text zeigen ein grosses Foto der jungen Frau, deren Augen- und Nasenpartie mit einem dicken schwarzen Balken verdeckt sind. In der Print-Version ist zudem ein Foto erschienen, das ihren Wohnort zeigen soll. Dieses Foto wurde gemäss Beschwerdeführerin X. online ebenfalls aufgeschaltet, später aber wieder von der Website entfernt.

B. Am 10. Juli 2020 reichte Beschwerdeführerin X. eine Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen den Artikel des «Blick» ein. Am 13. Juli 2020 folgte eine weitere Beschwerde durch Beschwerdeführer Y. Aufgrund ähnlicher Beanstandungen wurden die beiden Beschwerden zusammengeführt und gemeinsam beurteilt.

Beschwerdeführerin X. macht geltend, der «Blick»-Artikel verstosse allgemein gegen den Journalistenkodex und insbesondere gegen die Wahrheitssuche, die Richtlinie 1.1 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), die Informationsfreiheit (Richtlinie 2.1), den Meinungspluralismus (Richtlinie 2.2) und den Schutz der Privatsphäre (Richtlinie 7.1). Beschwerdeführerin X. argumentiert, dass der «Blick» einseitig über die Coronakrise berichte. Kritische Haltungen gegenüber den behördlich verhängten Massnahmen in der Coronakrise würden als Verschwörungstheorien abgetan oder in die «rechte Ecke» gestellt. Im «Blick» kämen einzig Experten zu Wort, die das Coronavirus als «Killervirus» einstuften. Darauf gestützt würde die «Blick»-Berichterstattung «drastische Massnahmen» fordern wie etwa den Lockdown, die Maskenpflicht oder ein Versammlungsverbot. Wer sich gegen solche Massnahmen wehre, würde verunglimpft. So auch Camilla T.. Indem der «Blick» Fotos und Informationen über sie veröffentlicht habe, sei die junge Frau an «einen öffentlichen Pranger» gestellt worden, kritisiert Beschwerdeführerin X.. Obwohl der schwarze Balken ihr Gesicht auf dem Foto zwar teilweise bedecke, könne Camilla T. aufgrund des Kontexts identifiziert werden. Das verletze ihre Persönlichkeitsrechte. Zudem sei ihr keine Möglichkeit gegeben worden, sich zum Sachverhalt zu äussern.

Beschwerdeführer Y. sieht ebenfalls die Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung») und die Menschenwürde (Ziffer 8) als verletzt an. Aufgrund der Berichterstattung lasse sich auf die Person schliessen. Ein öffentliches Interesse läge jedoch nicht vor, dass der Artikel derart personenbezogen zu sein habe. Somit sei er unnötig hetzerisch und anklagend. Gegenüber einer jüngeren Generation enthalte der Artikel zudem diskriminierende Ansätze, kritisiert Beschwerdeführer Y.

C. Am 14. Juli 2020 informierte der Presserat die Beschwerdeführenden und die Redaktion «Blick», dass er gestützt auf Art 17 Abs. 2 seines Geschäftsreglements das Beschwerdeverfahren auf die wesentlichen Beschwerdegründe beschränke. Das betrifft in diesem Fall die Ziffer 7 der «Erklärung», die beide Beschwerdeführer verletzt sehen.

D. Die Beschwerdeantwort des anwaltlich vertretenen «Blick» folgte am 17. Juli 2020. «Blick» fordert, die Beschwerde abzuweisen. Die Darlegungen des Beschwerdeführers Y. seien ungenügend, indem dieser nicht erkläre, welche konkreten Angaben im Text zu einem Verstoss gegen Ziffer 7 führten. Auch Beschwerdeführerin X. würde den Vorwurf inhaltlich nicht begründen.

Die junge Frau sei aufgrund des schwarzen Balkens für den Durchschnittsleser nicht erkennbar. Auch die Altersangabe reiche nicht für eine Identifizierung aus. Dass sie im Betreuungsbereich arbeite, sei derart unspezifisch, dass keinerlei Rückschlüsse auf ihren Beruf oder ihren Arbeitsort möglich seien. Zudem halte der Artikel fest, dass der Name der jungen Frau geändert worden sei. Somit liege kein Verstoss vor.

Beschwerdeführerin X. behaupte zudem nicht, dass der Bericht nicht wahrheitsgemäss sei. Sie vermute lediglich, dass das Einverständnis der jungen Frau zur Veröffentlichung des Fotos nicht vorliege. Das reiche aber nicht für einen Verstoss. Zu Unrecht gehe sie davon aus, Camilla T. sei nicht für eine Stellungnahme angefragt worden. Der Text beschreibe vielmehr, dass sie diese Möglichkeit ausgeschlagen habe, nachdem ihr Vater mit ihr telefoniert hatte.

E. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde der 3. Kammer zu. Ihr gehören Max Trossmann (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Marianne Biber, Jan Grüebler, Markus Locher, Simone Rau und Hilary von Arx an.

F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerden an ihrer Sitzung vom 29. Oktober 2020 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat entschieden, dass er gestützt auf Art 17 Abs. 2 seines Geschäftsreglements das Beschwerdeverfahren auf Ziffer 7 der «Erklärung» beschränkt. Diese Ziffer sehen beide Beschwerdeführer verletzt. Hingegen steht es dem Presserat nicht an, über die allgemeine Haltung oder die Berichterstattung eines Mediums generell zu befinden. Insbesondere nicht, wenn die Berichterstattung des «Blick» als stellvertretend für alle «Mainstream-Medien» angeführt wird, wie dies Beschwerdeführerin X. macht. Und die dazu meint: «Wir befinden uns aktuell in einem Gesundheitsfaschismus, der alle Grenzen der fairen Berichterstattung verletzt.» Damit ein Verstoss geltend gemacht werden kann, muss ein konkreter Sachverhalt benannt werden und ist die Verletzung einer Ziffer der «Erklärung» zu begründen. Das liegt bei Beschwerdeführerin X. hinsichtlich der Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1), der Informationsfreiheit (Richtlinie 2.1) und dem Meinungspluralismus (Richtlinie 2.2) nicht vor. Ebenfalls fehlt eine entsprechende Begründung bei Beschwerdeführer Y. bezüglich der Menschenwürde (Ziffer 8).

2. Ziffer 7 der «Erklärung» verpflichtet Journalisten, die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Camilla T. ist eine Privatperson, die weder öffentlich aufgetreten ist noch in irgendeiner Form die öffentliche Aufmerksamkeit gesucht hat. Der «Blick»-Artikel suggeriert in seinem Text jedoch ein öffentliches Interesse, indem Journalist Ralph Donghi schreibt: «Bis heute weiss kaum jemand in Grenchen SO, welche Person am 27. Juni trotz Corona-Erkrankung und einer verfügten Isolation an einer Party im Parktheater und später in einem Club war.» Selbst die Polizei sei nicht über die Identität informiert worden, denn der Kantonsärztliche Dienst sei an den Datenschutz gebunden. Damit würden viele Grenchner hadern. Recherchen des «Blick» brächten «nun Licht ins Dunkel». Diese Argumentation ist für den Presserat nicht nachvollziehbar. Zwar ist das öffentliche Interesse sehr wohl zu berücksichtigen, indem in der Coronakrise darüber informiert wird, an welchen Orten eine infizierte Person sich aufgehalten hat. Dies, um die ebenfalls dort anwesenden Personen zu informieren und weitere Ansteckungen zu verhindern. Eine identifizierende Berichterstattung jedoch enthält für die Öffentlichkeit keinen Mehrwert. Den Schutz der Privatsphäre und die Identität von Einzelnen gilt es somit unbedingt zu wahren.

«Blick» hat den Namen der jungen Frau zwar geändert, geht allerdings mit der Enthüllung weiterer Angaben weit. Die Leserschaft erfährt, dass die 21-jährige Camilla T. im Betreuungsbereich arbeitet und mit ihrer 48-jährigen Mutter nahe des Grenchner Stadtzentrums in einer Parterrewohnung lebt. Der Vater lebe ebenfalls in Grenchen und ist 52 Jahre alt. Ein Porträtfoto zeigt die junge Frau, jedoch verdeckt ein schwarzer Balken ihre Augen- und Nasenpartie. Wohl schon aufgrund dieser Informationen und Angaben ist die Identität der jungen Frau in einer Kleinstadt wie Grenchen für manche Dritte, die ausschliesslich über die Medien informiert wurden, erschliessbar. Personen, die zur Familie oder dem sozialen und beruflichen Umfeld von Camilla T. gehören, dürften die Frau aufgrund der Angaben ohnehin erkennen. Schon die Häufung dieser Angaben trug wenig bis nichts zum Verständnis der Leserschaft für die Situation bei. Und ein solcher Beitrag zum Verständnis der Lesenden ist nach konstanter Praxis des Presserats Voraussetzung, um allenfalls nähere Angaben zu rechtfertigen (vergleiche die Stellungnahmen 6 und 12/2018, 65/2019 und 10/2020).

Dazu kam dann noch das Foto des Wohnorts der Frau. Der Ausschnitt zeigt einen Hausteil mit beiger, getäfelter Fassadenverkleidung und einem dunkelgrauen Fundament. Die grau-bläulichen Läden des gezeigten Fensters sind geschlossen und im ersten Stock ist ein Balkon mit weissen Plastikstühlen, Tisch und einem Blumentopf ersichtlich. Gemäss der Bildlegende handelt es sich um ein Mehrfamilienhaus. Im Text wird zudem festgehalten, das Haus befinde sich «unweit vom Stadtzentrum». Der Presserat anerkennt zwar, dass es sich bei der Aufnahme des Hauses nur um einen Ausschnitt handelt und «Blick» nicht das ganze Gebäude zeigt. Dennoch verletzt dieses Foto zusammen mit den übrigen Angaben die Privatsphäre der jungen Frau. Zu viele Details des Hauses sind ersichtlich. Verbunden mit der Ortsangabe ist es für Dritte – Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner oder Passanten – möglich, aufgrund des Artikels den Wohnort von Camilla T. zu erkennen und somit auch ihre Identität in Erfahrung zu bringen. Damit hat «Blick» gegen die Ziffer 7 der «Erklärung» (Identifizierung) verstossen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Blick» hat mit dem Artikel «Camilla T.* (21) ist die Corona-Ignorantin von Grenchen SO. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft» die Ziffer 7 (Identifizierende Berichterstattung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.