Nr. 1/2000
Widerspruch zwischen Kontext und Wortlaut

(N. c. „Weltwoche“) Stellungnahme des Presseratesvom 20. Januar 2000

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I. Sachverhalt

A. Am 17. Juni 1999 veröffentlichte die „Weltwoche“ eine kommentierende Analyse zum Ende des Kriegs im Kosovo von G. Darin schrieb der Autor unter anderem: „Schon 1986 wurde das Programm zur Errichtung Grossserbiens in einem Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften vorformuliert. Die darin empfohlene ethnische Säuberung propagierte Slobodan Milosevic seit 1987.“

B. Gegen diesen Artikel erhob N. am 3. November 1999 beim Presserat Beschwerde. Er hatte der „Weltwoche“ bereits am 25. Juni 1999 einen Leserbrief zugestellt, der aber nicht abgedruckt worden war. Der Beschwerdeführer argumentierte, der im Artikel unterstellte Inhalt des Memorandums der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste sei schlicht erfunden und komme einer Desinformation gleich. Darum seien die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Quellengenauigkeit) und 5 (Berichtigungspflicht) der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt.

C. Der Presserat wies den Fall der 1. Kammer zu, der Roger Blum als Präsident sowie Sylvie Arserver, Sandra Baumeler, Esther-Maria Jenny, Enrico Morresi und Edi Salmina als Mitglieder angehören. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 16. Dezember 1999 sowie auf dem Korrespondenzweg.

D. In ihrer Stellungnahme vom 10. Dezember 1999 hielt die Redaktion der „Weltwoche“ an ihrer Darstellung fest und beantragte, die Beschwerde abzuweisen.

II. Erwägungen

1. N. argumentiert, dass das Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste ein unvollendetes Arbeitspapier mit diversen Thesen zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen Jugoslawiens gewesen sei. Es sei gar nie richtig publiziert worden. Es behandle je zur Hälfte die Krise der jugoslawischen Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Lage Serbiens und des serbischen Volkes. Das Memorandum enthalte kein nationales Programm des serbischen Volkes, sondern nur Analysen, Feststellungen, Schlussfolgerungen und globale Empfehlungen. Es sei ihm vor allem den Charakter einer Anklage an die Adresse des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens zugekommen.

2. Für die „Weltwoche“ stellt sich Auslandchef F. auf den Standpunkt, dass der enge Zusammenhang zwischen dem Memorandum, der damaligen Stimmungslage im zerfallenden Jugoslawien und dem Erstarken eines militanten grossserbischen Nationalismus für alle unabhängigen Beobachter erwiesen sei. Im engen Konnex mit dem Memorandum müssten auch Texte von Akademiemitgliedern gesehen werden, die dem Memorandum unmittelbar vorausgingen oder ihm folgten, wie das Memorandum „Die Vertreibung der Albaner“ von Vaso Cubrilovic mit genauen Rezepten für die ethnische Säuberung im Kosovo, oder die Schrift „L’effondrement de la Yugoslavie“ des späteren jugoslawischen Staatspräsidenten Cosic. Das Memorandum sei entgegen den Behauptungen des Beschwerdeführers sofort öffentlich zirkuliert. Es werde von allen wichtigen Beobachtern als Durchbruch, als konstituierender Akt der neuen nationalistischen Politik von Präsident Slobodan Milosevic betrachtet.

3. In der Tat verlangte das Memorandum „die Herstellung der vollen nationalen und kulturellen Integrität des serbischen Volkes, unabhängig davon, in welcher Republik oder Provinz es sich befinden mag“, als historisches Recht. Da das Memorandum den physischen, politischen, juristischen und kulturellen Genozid am serbischen Volk in Kosovo und Metohija beklagte und die raffinierte Assimilationspolitik für das serbische Volk in Kroatien kritisierte, konnte der Text als Aufforderung zur (Wieder-)Herstellung der serbischen Nation auf Kosten der anderen Nationalitäten gelesen werden. Nicht der Wortlaut, der Kontext machte das Memorandum zum Schlüsseldokument für die Formulierung und Legitimierung der serbischen Politik in Bosnien und vor allem im Kosovo. Es war für Milosevic ein Vorteil, durch die Akademie „gedeckt“ zu sein. Heute, da Milosevic als Kriegsverbrecher angeklagt ist, dürfte die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste logischerweise alles Interesse haben, den Text zu verharmlosen und den Zusammenhang mit den ethnischen Säuberungen zu negieren.

4. Diese Erwägungen zeigen, dass der erste Satz in der beanstandeten Stelle des Artikels von G. zulässig ist: Das Programm zur Errichtung Grosserbiens wurde im Memorandum „vorformuliert“. Es ist jedoch fraglich, ob der zweite Satz ebenfalls verantwortet werden kann, wonach das Memorandum ethnische Säuberungen empfohlen habe. Stellt man auf den Kontext ab, so ist die Stossrichtung nicht zu bestreiten. Schaut man hingegen auf den Inhalt des Memorandums, so ist der Satz nur im grösseren Zusammenhang wahr. Die Formulierung ist auf jeden Fall unglücklich. Da es jedoch wahr ist, dass ethnische Säuberungen stattfanden, und da es ebenfalls wahr ist, dass das Memorandum die Herstellung der serbischen Nation auf Kosten anderer Nationalitäten und unabhängig von der Provinz (womit vor allem Kosovo im Visier war) propagierte, kann eine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der „Erklärung“) nicht bejaht werden. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die „Weltwoche“ Quellen nicht kannte oder Tatsachen unterschlagen wollte. Zwar ist möglich, dass der Autor das Memorandum nie im Wortlaut gelesen hat. Aber fest steht, dass die Redaktion das Memorandum und andere einschlägige Dokumente kennt und deshalb den Artikel „en connaissance de cause“ veröffentlichte. Insofern ist auch der Vorwurf, die „Weltwoche“ habe sich nicht auf die Quellen gestützt und Tatsachen unterschlagen (Ziffer 3 der Erklärung), nicht haltbar.

5. Hingegen fragt es sich, ob die „Weltwoche“ nicht gehalten gewesen wäre, einen kurzen Leserbrief zu veröffentlichen, der darauf hinweist, dass der Wortlaut des Memorandums die im Artikel unterstellte Aussage so nicht macht. Die Redaktion hätte in einem Nachsatz immer noch auf den Kontext hinweisen können. Auf diese Weise wäre die Differenz offengelegt, wäre Transparenz hergestellt worden. Auch wenn N. als einschlägiger Korrespondenzpartner bekannt ist und die „Weltwoche“ bereits einer grossen Zahl von Briefen und Dokumenten eindeckte, wäre es korrekt gewesen, in diesem konkreten Fall seine abweichende Meinung zu publizieren. Zwar ging es nicht darum, eine Aussage zu berichtigen. Ziffer 5 der „Erklärung“ ist somit nicht verletzt. Aber es wäre darum gegangen, den Unterschied zwischen Wortlaut und Kontext zu klären.

III. Feststellungen

1. Es ist zulässig, einen Zusammenhang herzustellen zwischen den grossserbischen Thesen des „Memorandums der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste“ von 1986 und den ethnischen Säuberungen durch serbische Organe im Kosovo. Da der Kontext stimmt, hat die „Weltwoche“ mit ihrem Artikel „Sieg auf Bewährung“ die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ nicht verletzt.

2. Die „Weltwoche“ hätte jedoch gut daran getan, einen Leserbrief des Beschwerdeführers zu veröffentlichen, um die Differenz zwischen Kontext und Wortlaut des Memorandums transparent zu machen.