Nr. 60/2006
Wahrheitssuche / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(X. c. «Rote Anneliese») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 7. Dezember 2006

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I. Sachverhalt

A. In der Ausgabe Juni 2006 veröffentlichte die Oberwalliser Oppositionszeitung «Rote Anneliese» unter dem Titel «Am Muttertag griff sogar der Pfarrer zum Telefon» einen Artikel von Redaktor Kurt Marti über eine in der Ortschaft Y. im Obergoms geplante Überbauung. Der Lead lautete: «Der Deutsche X. will die Y. Matte mit Chalets im Sypcherstil überbauen. Weil X. die finanziellen Mittel für die Zweitwohnungen im ‹gehobenen Stil› fehlen, sollen die insgesamt 20 EigentümerInnen ihr Geld erst dann bekommen, wenn eines Tages die ersten Chalets verkauft sind. Kritische EigentümerInnen werden mit seltsamen Methoden bearbeitet.» Aufhänger des Berichts ist ein Telefon des örtlichen Pfarrers, der am Muttertag bei einer der betroffenen Grundstückeigentümerinnen angerufen habe, die sich «zusammen mit anderen standhaft weigert, ihre Parzelle zu verkaufen». Der Pfarrer hätte im Nachhinein erklärt, bloss Herrn X. zu helfen, wolle aber jetzt mit der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu tun haben. X. wird im Artikel als «wortgewandter Visionär» beschrieben, der das Obergoms «mit wackligen Konzepten (…) aus der Depression boxen» wolle. «Sein bisheriger Leistungsausweis bleibt im Dunkeln. Einzig seine zwei Konkurse lassen sich eindeutig feststellen. (…) Auf der Suche nach Bauland im Goms ist der Visionär offensichtlich auf die Y. Matte gestossen, eine der schönsten unverbauten Bauzonen im Goms.» Da nur rund die Hälfte der betroffenen Landeigentümer definitive Verkaufzusagen gemacht hätten, sei X. zu einer breit angelegten «Überzeugungsarbeit» geschritten. «Die Skepsis der VerkaufsgegnerInnen hat einen naheliegenden Grund, denn X. und seine sogenannte Investorengruppe sind offenbar knapp bei Kasse. (…) Die Eigentümer erhalten das Geld erst, wenn der Promotor die ersten Häuser verkauft hat. Eine höchst riskante Sache!» Unter Umständen müssten sie mit einem Totalverlust rechnen. «Es gibt sinnvollere Alternativen zu Luftschlössern.»

B. Am 20. Juli 2006 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen die «Rote Annelise» an den Schweizer Presserat. Der Bericht von Kurt Marti sei unsachgemäss, falsch und voreingenommen. Die berufsethisch gebotene Wahrheitssuche (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») habe den Verfasser überhaupt nicht interessiert. Die betroffenen Eigentümer seien vom Beschwerdeführer sachlich informiert worden und er habe mit diesen das Gespräch gesucht. Er habe sie jedoch weder gedrängt, noch mit Vorwürfen beleidigt. Seine fachliche Kompetenz sei bekannt und unbestritten. Die beiden Firmenkonkurse hätten keine persönlichen Gründe, sondern seien auf äussere Umstände zurückzuführen. Dass er das Land nicht sofort, sondern erst nach dem Verkauf der ersten Häuser kaufe, sei nicht eine Frage von knapper Kasse, sondern vielmehr eine solche des Risikomanagements. Das Risiko eines Totalverlusts bestehe für die Grundstückverkäufer nachweislich nicht, da gemäss Kaufrechtsvertrag die Eigentumsübertragung erst bei Vorlage einer Banksicherheit erfolge, welche die Zahlung des Kaufpreises garantiere. Insgesamt enthalte der Artikel äusserst schwere, vernichtende Vorwürfe, die eine Anhörung zwingend notwendig gemacht hätten (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung»).

C. Am 23. August 2006 beantragte Kurt Marti, Redaktor der «Roten Anneliese», die Beschwerde sei abzuweisen. Diverse Briefe und Telefonate zeigten klar, dass X. die GrundeigentümerInnen gedrängt habe. Zudem habe er die kritischen Eigentümerinnen und Eigentümer beleidigt, wenn er ihnen schriftlich eine «fehlende Bereitschaft» unterstellte, «sich mit einem Problem auseinanderzusetzen, da man eine vorgefertigte Meinung hat». Zur bisherigen Tätigkeit von X. habe er lediglich die Fakten wiedergegeben. Und wenn «jemand eine Millionenüberbauung realisieren will und mit möglichen Investoren winkt und schliesslich das notwendige Kapital offensichtlich nicht zur Verfügung hat, der ist logischerweise knapp bei Kasse». Schliesslich habe er nicht behauptet, ein Kaufrechtsvertrag sei generell eine riskante Sache. Im konkreten Fall sei es aber möglich, dass sich nach dem Bau der Häuser keine Käufer fänden und folglich auch keine Bankgarantien vorhanden seien. Der Beschwerdeführer behaupte schliesslich wahrheitswidrig, er sei nicht angehört worden. Tatsächlich habe er X. jedoch am 16. Januar 2006 in einem Restaurant in Brig zu einem zweistündigen Gespräch getroffen. Dabei seien Fragen über seine berufliche Vergangenheit, seine Visionen im Goms, seine Überbauungspläne, insbesondere in Y., die Finanzierung inklusive die möglichen Investoren ausführlich zur Sprache gekommen. Herr X. habe sich geweigert, konkrete Angaben über seinen beruflichen Werdegang zu machen und sei insbesondere nicht bereit gewesen, Namen von Firmen zu nennen, bei denen er gearbeitet hat.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu. Ihr gehören Esther Diener Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. Dezember 2006 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die kommentierende Berichterstattung über die geplante Überbauung einer «der schönsten unverbauten Bauzonen im Goms» fällt unter die Freiheit der Information und der Kritik. Wer wie der Beschwerdeführer mit einem derartigen Grossprojekt an die Öffentlichkeit tritt, muss sich kritische Fragen und Einschätzungen zum Projekt, dessen Finanzierbarkeit, seiner Person und seinem bisherigen Leistungsausweis gefallen lassen.

2. Gemäss konstanter Praxis des Presserates kann aus der Ziffer 1 der «Erklärung» und ebenso aus der zugehörigen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abgeleitet werden. Berufsethisch sind auch einseitige, parteiergreifende und fragmentarische Standpunkte zulässig. So weit der Beschwerdeführer sinngemäss die Einseitigkeit des Berichts der «Roten Anneliese» beanstandet und seine Sichtweise an Stelle derjenigen des beanstandeten Artikels setzt, kann die Beschwerde deshalb von vornherein nicht gutgeheissen werden. Ebenso wenig leitet sich aus der Verpflichtung zur Wahrheitssuche eine Pflicht der «Roten Anneliese» ab, die Kritik am Bauprojekt von X. vor der Publikation durch eine umfassende Recherche detailliert abzuklären. Vorauszusetzen ist allerdings, dass bei parteiergreifendem Journalismus die Pflicht zur Anhörung Betroffener (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung») respektiert wird (vgl. dazu unten die Erwägung 4 sowie zuletzt die Stellungnahme 51/2006 mit weiteren Hinweisen).

3. In Bezug auf die vom Beschwerdeführer als verletzt gerügte Pflicht zur Wahrheitssuche (Ziffer 1 der «Erklärung»; Richtlinie 1.1) stellt der Presserat aufgrund der ihm eingereichten Unterlagen fest, dass sich Redaktor Kurt Marti auf mehrere schriftliche Quellen abgestützt und diverse Recherchegespräche geführt hat. So u.a. mit dem Beschwerdeführer selber, dem im Bericht erwähnten Pfarrer, einem von X. als «Koordinator und Unterstützer des Projektes» bezeichneten Raumplaner sowie verschiedenen der betroffenen Grundeigentümer. Die Quellen des Artikels werden – mit Ausnahme der Namen der darin erwähnten kritischen Grundeigentümer zudem im Text transparent gemacht. In genereller Hinsicht ist der «Roten Anneliese» entsprechend keine ungenügende Wahrheitssuche vorzuwerfen.

In Bezug auf einzelne Kritikpunkte stellt der Presserat fest:

– Aus den dem Presserat eingereichten Korrespondenzen geht hervor, dass der Beschwerdeführer mit grossem Einsatz versuchte, möglichst alle Grundeigentümer zu überzeugen, das angestrebte Kaufrecht zu erteilen. Andernfalls drohe unter Umständen die Auszonung dieses Baulandes, was zu einem Vermögensverlust bis zu 95 Proz
ent führen könnte. Er bat dabei auch Verwandte oder Bekannte von «unschlüssigen» Landeigentümer/innen, auf diese einzuwirken. Weiter stellte er in Aussicht, auch den Gemeindepräsidenten «im Interesse der Region für die Überzeugungsarbeit der Betroffenen zu gewinnen.» Der Artikel der «Roten Anneliese» gibt diese und weitere aus den Unterlagen hervorgehende Fakten korrekt wieder. Der vom Beschwerdeführer besonders beanstandete Satz «nicht ohne die VerkaufsgegnerInnen mit Vorwürfen zu beleidigen» ist ebenso als Wertung erkennbar wie ihre – wiederum durch Korrespondenzen belegte – faktische Grundlage: Skeptische Grundeigentümer seien wegen vorgefasster Meinungen nicht bereit, sich die sachlichen Argumente von X. anzuhören.

– Zur Kritik an den beruflichen Qualifikationen des Beschwerdeführers sind die Fakten ebenfalls belegt. Bei den beiden Firmenkonkursen aus den Jahren 2000 und 2003 lagen der Beschwerdegegnerin die Handelsregisterauszüge vor. Weiter konnte sich Kurt Marti auf ein ihm von X. zugesandtes «Infoblatt zur Person» abstützen. Daraus wird nicht klar ersichtlich, was der Beschwerdeführer in seiner beruflichen Laufbahn genau gemacht hat. Dies vor allem deshalb, weil bloss vage, ohne Angabe konkreter Firmen steht, für wen er in den letzten Jahren alles gearbeitet hat. Nähere Angaben dazu macht X. auch in seiner Beschwerde an den Presserat nicht, sondern begnügt sich mit dem Hinweis auf ein 35 Jahre zurückliegendes Lizentiat der Wirtschafts-Universität Köln und folgender Behauptung: «Dass ich in meinem Leben interessante Positionen bekleidet habe, steht ausser Zweifel.» Gerade weil es um ein Bauprojekt in einer Randregion ging, von dem wie X. in seiner Beschwerde selber erwähnt «Analysen von bedeutenden Institutionen» wegen fehlender Nachfrage und zu hohem Risiko abraten würden, war es berufsethisch gerechtfertigt, die beiden Firmenkonkurse zu erwähnen und angesichts der wenig konkreten weiteren Angaben zur beruflichen Tätigkeit von einem «im Dunkeln liegenden Leistungsausweis» zu schreiben.

– Ebenso gilt dies für die Wertung des Autors, X. und seine «Investorengruppe» seien «offenbar knapp bei Kasse». Auch dieser Satz ist als eigener Schluss Martis erkennbar und wiederum werden der Leserschaft auch die faktischen Grundlagen der Wertung geliefert: Laut X. sei es «‹nicht beabsichtigt, das Grundstück im Vorfeld zu kaufen›. Vielmehr sollen die Eigentümer ein Kaufrecht auf drei Jahre einräumen (…) Das heisst, die Eigentümer erhalten das Geld erst, wenn der Promotor die ersten Häuser verkauft hat.»

– Schliesslich war es auch gerechtfertigt, auf die aus Sicht der «Roten Anneliese» hohen wirtschaftlichen Risiken für die betroffenen Grundeigentümer/innen hinzuweisen. Ob sie wie in einem von Redaktor Kurt Marti dargelegten Szenario im schlimmsten Fall tatsächlich mit einem Totalverlust rechnen müssten, oder ob die Einräumung eines Kaufrechts an den Beschwerdeführer wie dieser darlegt, in jedem Fall risikolos wäre, kann der Presserat aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen nicht abschliessend beurteilen. Denn der Entwurf des Kaufrechtsvertrags, auf den sich das Worst-Case-Szenario bezieht, äussert sich nicht zu der diesbezüglich zentralen Frage, ob der Bau der «teuren Luxus-Chalets» wie in Martis Szenario angenommen tatsächlich bereits vor dem Übergang des Grundeigentums vorgesehen wäre oder ob sich die Tätigkeit des Promotors vor dem Verkauf der Häuser und der Ausübung des Kaufrechts – wie von X. angegeben – auf die Planung und die Einholung der Baubewilligung beschränken würde. Geht man von der Annahme Martis aus, erscheint sein theoretisches Szenario jedenfalls nicht a priori unmöglich. Zumindest geht auch hier für die Leserschaft hervor, auf welchen Annahmen seine Einschätzung beruht.

4. Angesichts der im Bericht der «Roten Anneliese» geäusserten schweren Bedenken zur Person des Beschwerdeführers und zu den wirtschaftlichen Risiken seines Projektes wäre es jedoch unabdingbar gewesen, ihn vor der Publikation des Berichts nicht nur anzuhören, sondern ihn zu den zentralen Vorwürfen darin auch zumindest kurz zu Wort kommen zu lassen. Denn gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» sind Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören, und deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben.

Der beanstandete Artikel läuft auf den schwer wiegenden Vorwurf hinaus, wer dem Beschwerdeführer das von diesem angestrebte Kaufrecht einräume und die Realisierung des Bauprojekts ermögliche, laufe Gefahr, an Stelle des «Luftschlosses» in Form eines Grundstückpreises von 120 Franken pro m2 einen Totalverlust zu realisieren. Insbesondere zu diesem Vorwurf wäre eine Anhörung von X. und die Wiedergabe seiner Entgegnung berufsethisch zwingend gewesen. Zwar macht die «Rote Anneliese» zur Anhörungspflicht allgemein geltend, den Beschwerdeführer im Januar 2006 zu einem zweistündigen Gespräch in einem Briger Restaurant getroffen zu haben. Dazu ist aber anzumerken, dass dieses Gespräch rund ein halbes Jahr vor Erscheinen des beanstandeten Berichts stattfand und dass Kurt Marti zudem nicht geltend macht, den Beschwerdeführer mit dem Totalverlustszenario konfrontiert zu haben. Vor allem aber kommt X. im Bericht selber dazu an keiner Stelle zu Wort.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Die «Rote Anneliese» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Am Muttertag griff sogar der Pfarrer zum Telefon» in der Ausgabe Juni 2006 die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt. Angesichts des im Artikel erhobenen Vorwurfs, die Einräumung eines Kaufrechts am Bauland für ein kritisiertes Bauprojekt berge für verkaufswillige Grundeigentümer das Risiko eines Totalverlusts, wäre eine Anhörung des von diesem Vorwurf Betroffenen und die Wiedergabe seiner Entgegnung berufsethisch zwingend gewesen.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

Reaktion von Kurt Marti zur Stellungnahme 60/2006