Nr. 31/2016
Wahrheitspflicht

(X. c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 26. September 2016

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Der Presserat hat den Entscheid 31/2016 berichtigt. Dieser hatte eine Beschwerde gegen Tamedia teilweise gutgeheissen, weil der «Tages-Anzeiger» im Rahmen eines Interviews mit der Expertin Regina Spiess nicht darauf hingewiesen habe, dass die von dieser angeführte sogenannte «Zwei-Zeugen-Regel» bei der Beurteilung von Sexualdelikten seitens der Zeugen Jehovas – anders als von ihr behauptet – nicht mehr in Kraft sei. Inzwischen ist aber gerichtlich rechtsgültig festgestellt worden, dass die Expertin Regula Spiess Recht hatte: Diese Regel ist noch immer in Kraft. Aufgrund dieses Urteils hat der Presserat seine Stellungnahme geändert und die Beschwerde gegen den «Tages-Anzeiger» vollumfänglich abgewiesen.

I. Sachverhalt

A. Unter dem Zitat-Titel «Zeugen Jehovas reissen Familien auseinander» veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» am 27. Juli 2015 ein von Hugo Stamm gezeichnetes Interview mit der Psychologin Regina Spiess, Projektleiterin beim Verein «Infosekta». Der Beitrag erschien im Rahmen eines «Gedenktages für die Opfer von Zeugen Jehovas» vom Vortag, an dem sich die Interviewte engagiert hatte. Das Interview dreht sich hauptsächlich um Formen und Anlässe des Ausschlusses aus der Glaubensgemeinschaft, wenn Mitglieder gegen bestimmte Grundsätze verstossen. Entsprechend dem Anliegen des Gedenktages steht insbesondere die mit einem Ausschluss verbundene Ächtung selbst durch engste Familienmitglieder im Zentrum des Interviews («Gemeinschaftsentzug»). Angesprochen wird dabei, dass Eltern gegenüber Jugendlichen den Kontakt stark einschränken würden, etwa wenn diese rauchen, Sex vor der Ehe haben oder sich in Nichtmitglieder verlieben. Ebenso würden Kinder durch religiös motivierte Einschüchterungen Angst erleben. Zudem fördere die «Geschlossenheit des Systems und der dogmatische Glaube» den sexuellen Missbrauch von Kindern. Entsprechenden Vorwürfen werde nur nachgegangen, wenn es mindestens zwei Zeugen gibt, was natürlich nie der Fall sei. Ebenfalls zur Sprache kommt im Interview das generelle Verbot der Bluttransfusion, welche als schwere Sünde gelte und immer wieder zu Todesfällen führe.

B. Am 26. Januar 2016 reichte X. Beschwerde gegen den «Tages-Anzeiger» ein. Gerügt wird die Verletzung der Wahrheitspflicht. Gemäss Beschwerdeführer, der sich als langjähriges, aber inzwischen ausgetretenes Mitglied der Glaubensgemeinschaft bezeichnet, seien verschiedene Aussagen der Interviewten falsch und würden sich so nicht in den Schriften der Zeugen Jehovas finden. Namentlich beziehe sich das Gebot, den Kontakt zu ausgeschlossenen Kindern einzuschränken, nur auf volljährige Kinder, welche nicht mehr im gleichen Haushalt leben. Als Beleg legt der Beschwerdeführer einen Auszug aus der Zeitschrift «Der Wachtturm» der Glaubensgemeinschaft von 2007 bei. Bezüglich sexuellen Missbrauchs führt der Beschwerdeführer an, dass die Regel der zwei Zeugen bereits seit einigen Monaten vor dem Erscheinen des Artikels nicht mehr bestehe. Und der Gebrauch von Bluttransfusionen würde nicht zum Ausschluss führen, sondern nur dazu, dass Personen als «ausgeschlossene behandelt» werden, was zugegebenermassen «ein kleiner Unterschied sei». Im Übrigen sei es nicht so, dass bei den Zeugen Jehovas «alles Weltliche verpönt» sei, wie es im Interview heisst. Namentlich seien zwar Kampfsportarten verboten, nicht jedoch alle Wettkampfsportarten (wie etwa Fussball oder Tennis), wie im Artikel suggeriert werde.

C. Mit Schreiben vom 16. März 2016 nahm der Rechtsdienst der Tamedia zur Beschwerde Stellung. Tamedia verweist darauf, dass es zum Auftrag der Medien gehöre, über «irritierende gesellschaftliche Missstände» zu berichten, wie sie der «Tages-Anzeiger» in seinem Interview bezüglich einer Glaubensgemeinschaft schildert. Die Glaubwürdigkeit der Interviewpartnerin sowie deren Aussagen zu überprüfen sei hinreichend vorgenommen worden. Zu den einzelnen, von X. als unwahr gerügten inhaltlichen Vorwürfen der Sektenexpertin gegenüber den Zeugen Jehovas nimmt die Beschwerdegegnerin detailliert Stellung; sie sieht diese jedoch weder durch Aussagen noch durch beigebrachte Belege des Beschwerdeführers widerlegt. In zwei Punkten anerkennt die Redaktion Mängel beim Interview. Zum einen betrifft dies die mangelhafte Differenzierung bezüglich der Zeugen Jehovas erlaubten beziehungsweise verbotenen Sportarten. Zum anderen anerkennt die Beschwerdegegnerin, dass die «2-Zeugen-Regel» bei sexuellen Übergriffen nicht mehr in Kraft ist. Allerdings könne noch nicht «abschliessend beurteilt» werden, ob die Regel nicht weiterhin angewendet werde und die Neuregelung nicht bloss eine «taktische Massnahme zur Beruhigung der Öffentlichkeit» darstelle. «Angesichts der langjährigen menschenrechtswidrigen Praxis», so die Beschwerdegegnerin weiter, sei «die Aufrechterhaltung medialer Fokussierung ohne Weiteres gerechtfertigt.»

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall der 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Präsidentin), Francesca Luvini, Klaus Lange, Casper Selg, Michael Herzka, Dennis Bühler und David Spinnler angehören.

E. Die 1. Kammer des Presserats behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 30. Juni 2016 und auf dem Korrespondenzweg. Sie kam in ihren Feststellungen zum Schluss, die Beschwerde sei teilweise gutzuheissen. Der «Tages-Anzeiger» habe mit der Veröffentlichung des Interviews mit einer Sektenexpertin die Ziffer 1 der «Erklärung» verletzt, indem er nicht auf die Änderung der sogenannten «2-Zeugen-Regel» der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas bei sexuellen Übergriffen hinwies.

F. Am 14. Januar 2019 informierte der Rechtsvertreter von Regina Spiess den Presserat, dass die Vereinigung Zeugen Jehovas ein Strafverfahren wegen übler Nachrede gegen Frau Spiess angestrengt haben. Gegenstand der strafrechtlichen Beschuldigungen bildeten in erster Linie Äusserungen von Regina Spiess im Interview von Hugo Stamm, welches Grundlage für den Artikel im «Tages-Anzeiger» bildete. Der Rechtsvertreter machte geltend, die Stellungnahme enthalte Stellen, welche die Rechtsstellung seiner Klientin beeinträchtige, und zwar ohne dass seine Klientin angehört worden sei und indem der Presserat ausschliesslich auf die Zugabe der Beschwerdegegnerin abgestellt habe. Er vertrat die Ansicht, eine Klarstellung/Berichtigung sei somit der Stellungnahme beizufügen.

G. Mit Schreiben vom 27. Februar 2019 beantragte der Rechtsdienst von Tamedia, Stellungnahme 31/2016 sei aufzuheben und zu berichtigen. Die Beschwerdegegnerin habe in Bezug auf die Existenz der «2-Zeugen-Regel» eine offene Antwort gegeben. Bei der Schlussfolgerung des Presserats, die Beschwerdegegnerin habe anerkannt, dass die Regel im Zeitpunkt des Interviews nicht mehr bestand, handle es sich um ein offensichtliches Missverständnis.

H. Mit Schreiben vom 9. Januar 2020 teilte der Rechtsvertreter dem Presserat mit, das Bezirksgericht Zürich habe Regina Spiess mit Urteil vom 9. Juli 2019 vom Vorwurf der üblen Nachrede freigesprochen und festgehalten, «dass die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel existiert». Laut Gericht habe Regina Spiess den Wahrheitsbeweis erbracht und ihre Aussagen zur Zwei-Zeugen-Regel und den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas entsprächen im «Kernbereich der Wahrheit». Er erneuerte seine Forderung nach Berichtigung und Klarstellung.

I. Das Präsidium des Presserats wies die Schreiben wiederum seiner 1. Kammer zu.

K. Die 1. Kammer behandelte die Gesuche an ihrer Sitzung vom 24. Juni 2019 sowie auf dem Korrespondenzweg. Die Kammer setzte sich gleich zusammen wie unter D. aufgeführt.

II. Erwägungen

Gemäss Artikel 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sind Journalisten verpflichtet, sich an die Wahrheit zu halten. Dies erfordert auch eine kritische Überprüfung der Quellen, einschliesslich der Aussagen von Interviewten. Im Fall des von X. beanstandeten Interviews stammen die Aussagen von einer Expertin der Fachstelle Infosekta, die mit Name und Bild identifiziert wird. Die von einem Verein getragene Fachstelle beschäftigt sich laut eigenen Aussagen (Website) mit Sekten und sektenartigen Gruppen. Der seit rund 25 Jahren bekannte Verein wird von der öffentlichen Hand und den Landeskirchen mitfinanziert, Spenden sind von der Steuer befreit. Der Journalist konnte also grundsätzlich von der Glaubwürdigkeit seiner Quelle und einer bestimmten Qualität der Expertise ausgehen.

Beschwerdeführer X. begründet seine Kritik mehrfach damit, dass die Interview-Aussagen nicht durch die Schriften der Glaubensgemeinschaft belegt seien. In einem Fall (Gemeinschaftsentzug bei Kindern) dokumentiert er dies mit einem Auszug aus einer Publikation der Zeugen Jehovas. Dieser Auszug widerlegt die Aussagen im Interview jedoch nicht. Auch wenn die Expertin gegenüber der Glaubensgemeinschaft eine sehr pointierte Haltung vertritt, so ist in Bezug auf den Titel «Zeugen Jehovas reissen Familien auseinander» und die Ächtung einzelner Mitglieder als Hauptthema des Beitrags nicht erkennbar, inwiefern die Wahrheitspflicht verletzt worden wäre. Auch laut Beschwerdeführer ist es unbestritten, dass ein Verstoss gegen Regeln der Glaubensgemeinschaft zu Sanktionen bis hin zu einem Ausschluss führen kann, auch bei Kindern und Jugendlichen. Dass dies zu Spannungen bis hin zur Entzweiung von Familien führen kann, ist naheliegend. Die Aussagen im Interview beziehen sich denn auch auf solche Fälle, was für den Leser und die Leserin deutlich erkennbar ist.

Im Interview führt Sektenexpertin Spiess aus, Wettkampfsport sei verpönt. Der Beschwerdeführer hingegen macht geltend, Kampfsportarten seien verboten, nicht jedoch alle Wettkampfsportarten. Die Redaktion sieht darin zwar eine Ungenauigkeit, diese vermöge die medienethischen Grundsätze aber nicht zu verletzen. Im Interview wird nicht differenziert zwischen Wettkampsportarten und Kampfsportarten. Die Aussage, Wettkampfsport sei verpönt, ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden, sie sagt insbesondere nichts über ein allfälliges Verbot gewisser Sportarten aus. Es gibt bei den Zeugen Jehovas dazu keine Kodifizierung. Beim Interview des «Tages-Anzeiger» handelt es sich um eine Sammlung von Aussagen einer Beratungsstelle, die Erfahrungen mit der Praxis der Zeugen Jehovas gemacht hat. Zudem liegt der Hauptfokus des Artikels nicht auf diesem Aspekt.

Wie verhält es sich mit der bei sexuellen Übergriffen geltenden «2-Zeugen-Regel», wonach dem Verdacht auf eine Sexualstraftat an einem Kind nur dann nachgegangen werden soll, wenn es dafür mindestens zwei Zeugen gibt? Der Beschwerdeführer macht geltend, dass diese Regel zum Zeitpunkt des Interviews nicht mehr bestand. Die Beschwerdegegnerin Tamedia anerkannte dies in ihrer Beschwerdeantwort, macht in der Folge jedoch ein Missverständnis in der Interpretation, die der Presserat vornahm, geltend. Inzwischen hat das Bezirksgericht Zürich mit Urteil vom 9 Juli 2019 Regina Spiess vom Vorwurf der üblen Nachrede freigesprochen und festgehalten, «dass die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel existiert». Laut Gericht hat Regina Spiess den Wahrheitsbeweis erbracht und ihre Aussagen zur Zwei-Zeugen-Regel und den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas entsprechen im «Kernbereich der Wahrheit». Der Presserat kommt deshalb zum Schluss, dass die in Ziffer 1 der «Erklärung» statuierte Wahrheitspflicht auch in diesem Punkt nicht verletzt wurde.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit der Veröffentlichung des Interviews mit einer Sektenexpertin unter dem Titel «Zeugen Jehovas reissen Familien auseinander» vom 27. Juli 2015 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.