Nr. 41/2014
Wahrheitspflicht / Unterschlagen von Informationen / Diskriminierung

(X. und Y. c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 22. Dezember 2014

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I. Sachverhalt

A. Am 15. Februar 2014 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» einen Artikel mit dem Titel «Der andere Sonderfall». Der Untertitel lautete: «Die Schweiz und Japan sind bis in ihre Kerne verschieden. Doch die Rhetorik der Schweizer SVP ähnelt den xenophoben Sprüchen japanischer Politiker». Im Artikel vergleicht der Journalist Christoph Neidhart die beiden grundverschiedenen Länder nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 über die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative. Wenn Schweizer Bundesräte Japan besuchten, so wie vorige Woche Didier Burkhalter, so redeten sie von gemeinsamen Werten und bemühten die üblichen Klischees, etwa die Liebe zur Natur oder zur präzisen Arbeit. In Wahrheit verbinde Japan und die Schweiz wenig – bei den sogenannten «Werten» trennten sie Welten. Unter dem Zwischentitel «Demokratie als Staffage» führt er unter anderem aus, die Schweizer misstrauten Autoritäten, die Japaner könnten ohne sie nicht einmal reden, denn im Japanischen lege der Sprechende mit jedem Satz eine Hierarchie fest. Der Schweizer poche auf Individualität, der Japaner nehme sie als Störung wahr. In der Schweiz zelebriere man die Demokratie, in Japan sei diese reine Staffage. Unter dem Zwischentitel «Gesetz der Diskriminierung» führt er weiter aus, die meisten Japaner seien Rassisten. Sie klammerten sich an den Mythos, ein homogenes Volk zu sein und diskriminierten sogar Japaner, die im Ausland aufgewachsen sind und zurückkehren. Japan habe seine Innovationskraft verloren. Die Xenophobie, die Unfähigkeit oder fehlende Bereitschaft, Neues zu denken und sich einer Entwicklung anzupassen, all dies lasse Japans Wirtschaft seit über zwei Jahrzehnten stagnieren. Anders als Japan sei die Schweiz weltoffen, heterogen und tolerant, Fremde hiesse sie stets willkommen. Aber die Töne, welche die SVP heute anschlage, klängen erstaunlich ähnlich wie die fremdenfeindlichen Sprüche mancher japanischer Politiker. Japaner seien zwar überaus höflich, hätten jedoch keine Achtung für Schwächere, Andersdenkende, Aussenseiter – oder Ausländer. Der Journalist kommt zum Schluss, die Schweiz und Japan seien bis in ihre Kerne verschieden. Aber die SVP mache – ohne es zu wissen – die Schweiz ein bisschen mehr wie Japan: ein Rosinenpickerland, xenophober, unsolidarischer und isolationistischer als bisher. Dabei demonstriere Japan klar, dass dies eine Sackgasse sei.

B. Am 10. März 2014 reichten X. und Y. beim Schweizer Presserat gegen den Artikel vom 15. Februar 2014 Beschwerde ein. Die beiden Beschwerdeführenden machen eine Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» geltend. Die Aussage, die meisten Japaner seien Rassisten sei eine Diffamierung und entspreche nicht der Wahrheit, es gebe dafür keine Beweise. Laut E-Mailkorrespondenz mit dem Autor beziehe sich diese Aussage auf einen Uno-Bericht aus dem Jahre 2005 (dies steht im Artikel nicht), woraus hervorgehe, dass Japan tief rassistisch sei. Dies bedeute aber noch lange nicht, dass die meisten Japaner Rassisten seien. Zudem besage ein anderer Uno-Bericht aus dem Jahr 2010, dass Japan Fortschritte gemacht habe auf diesem Gebiet. Der Journalist behaupte zudem, dass in Japan die Demokratie Staffage sei. Die Grundregeln der Demokratie wie Redefreiheit und Wahlfreiheit seien jedoch tief verankert, Neidharts Aussage entspreche also nicht der Wahrheit. Indem der Artikel weiter behaupte, es störe nur wenige Japaner, wenn Ausländer wie z.B. Koreaner verunglimpft werden, unterschlage er ein Gerichtsurteil vom Oktober 2013, das die rassistische Gruppierung Zaitokukai zu einer Geldstrafe von 12,2 Millionen Yen verurteilt habe sowie die Protestaktionen vieler Japaner gegen Rassismus und Hassreden im vergangenen Jahr. Damit werde Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen von Informationen) verletzt. Indem der Journalist die meisten Japaner als Rassisten bezeichne, verletze er deren Menschenwürde aufs Gröbste. Ein ganzes Volk als Rassisten zu bezeichnen, sei eine Diskriminierung sondergleichen und verletze Ziffer 8 (Diskriminierung, Menschenwürde) der «Erklärung».

C. Gemäss Art. 12 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

D. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Präsident Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann, hat die vorliegende Stellungnahme per 22. Dezember 2014 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Artikel 10 Absatz 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn diese offensichtlich unbegründet erscheint.

2. Kern der Beschwerde bildet die Aussage: «Die meisten Japaner sind Rassisten.» Dabei handelt es sich zweifellos um eine grob pauschalisierende und für sich allein genommen extreme Aussage. Sie ist jedoch klar als Wertung des Autors zu erkennen. Er erklärt diese Wertung, indem er zahlreiche Elemente, die diese begründen, anführt, beispielsweise den Umgang Japans mit Pflegerinnen aus Indonesien und den Philippinen, welche sich nach zwei Jahren sieben Stunden lang auf ihre Japanischkenntnisse prüfen lassen mussten und zum grossen Teil wieder nach Hause geschickt wurden, oder in Bezug auf den Status ausländischer Arbeitskräfte in Fischerei, Landwirtschaft und Gastgewerbe, die als Praktikanten ohne jegliche Rechte für ein Taschengeld schuften. Politiker bezichtigten etwa chinesische Arbeiter pauschal der Kriminalität oder verunglimpften die seit Generationen in Japan lebenden Koreaner. Die besten Sumoringer seien heute fast alle Ausländer. Aber sie trügen japanische Namen, dann falle es weniger auf. Der Autor scheint diese Aussage zudem auf einen Bericht der Uno aus dem Jahre 2005 abzustützen. Es wäre wünschenswert gewesen, diese Quelle zu nennen. Laut Praxis des Presserats lässt sich jedoch aus der «Erklärung» keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung und Ausgewogenheit ableiten (vgl. dazu die Stellungnahmen 17, 27 und 49/2011 mit weiteren Hinweisen sowie 59/2011). Unter berufsethischen Gesichtspunkten ist es zudem zulässig, einen Bericht über einen Anlass oder ein Thema auf einen oder mehrere aus journalistischer Sicht relevante Aspekte zu beschränken. Die vom Journalisten im beanstandeten Artikel gemachte Gewichtung lässt sich angesichts dieser Praxis des Presserats nicht beanstanden. Er bewegt sich klar in den Grenzen der Informationsfreiheit, weshalb die Beschwerde offensichtlich unbegründet ist.

III. Feststellung

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.