Nr. 44/2006
Veröffentlichung anonymer Vorwürfe / Quellenschutz / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Turina / «NZZ am Sonntag») Stellungnahme vom 12. September 2006

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I. Sachverhalt

A. Ende April 2004 führte Professor Marko Turina im Universitätsspital Zürich eine Herzoperation an einer schwerkranken Patientin durch. Nachdem die Operation wegen inkompatibler Herzen misslungen und die Patientin gestorben war, eröffnete die Staatsanwaltschaft Zürich ein Strafverfahren. Mehr als ein Jahr später – in der Ausgabe vom 12. Juni 2005 – überraschte die «NZZ am Sonntag» mit dem Aufmacher «Fatales Risiko im Operationssaal – im Fall Rosmarie Voser wagten Zürcher Herzchirurgen zu viel» und dem Hintergrundartikel von Mathias Ninck unter dem Titel «Das Wagnis des Starchirurgen». Dem Titel der Hintergrundseite folgte der Vorspann (Auszug): «Es habe eine Verwechslung der Blutgruppen gegeben, lautete die offizielle Erklärung. Recherchen zeigen, dass die Ärzte bewusst das ‹falsche Herz› eingepflanzt haben.» Unter dem Zwischentitel «Eine Ikarus-Operation» stand der Passus: «Die ‹NZZ am Sonntag› hat mit vielen direkt und indirekt Beteiligten gesprochen, wir halten diese Leute anonym. Mehrere verlässliche Quellen, die über die Operation an Rosmarie Voser gut informiert sind, kommen unabhängig voneinander zum selben Schluss: Die Verwechslungstheorie ist falsch. Marko Turina hat der Patientin bewusst das ‹falsche› Herz eingesetzt. Man habe es versucht im Glauben, es könnte gelingen. Man habe eine medizinische Heldentat vollbringen wollen.» Weiter unten im Artikel hiess es: «Marko Turina sagt der ‹NZZ am Sonntag›: ‹Ich äussere mich nicht dazu. Staatsanwalt Jokl hat mich mehrmals verhört. Fragen Sie ihn.›»

B. Tags darauf wandte sich Turina mit einer Erklärung an die Medien. Er wehre sich «vehement»; die Vorwürfe «hätten ihn getroffen» («Tages-Anzeiger»). Der Hauptvorwurf, Turina habe bewusst ein falsches Herz eingesetzt, treffe nicht zu; er «verletze in grober Weise die Unschuldsvermutung». Rechtliche Schritte seien in Abklärung («Neue Zürcher Zeitung»). In der SF-Sendung «10 vor 10» rechtfertigte Chefredaktor Felix E. Müller das Vorgehen der «NZZ am Sonntag»: Die anonymen Quellen seien «sehr gut», verfügten über «medizinischen Background» und hätten sich «im Umfeld der Operation» aufgehalten. Turina hingegen verwahrte sich energisch gegen den Vorwurf, er habe «wissentlich» ein unverträgliches Herz eingesetzt. Zwar habe er einen Telefonanruf früh um 3.30 Uhr des Operationstags missverstanden, «niemals» aber würde er so handeln, wie ihm jetzt vorgeworfen werde.

C. Anschliessend verlangte die Staatsanwaltschaft vom Journalisten der «NZZ am Sonntag» die Aufdeckung der anonym gehaltenen Quellen. Sie benötige die Namen, um auch diese Personen einzuvernehmen und den nunmehr in den Raum geschobenen Vorwurf der eventualvorsätzlichen Tötung abzuklären. Nachdem zuerst die Anklagekammer des Zürcher Obergerichts das Begehren der Staatsanwaltschaft am 15. Juli 2005 abwies, hob die II. Zivilkammer des gleichen Obergerichts diesen Entscheid wieder auf. Schliesslich befand aber das Bundesgericht am 11. Mai 2006 (BGE 132 I 181ff.), der Journalist der «NZZ am Sonntag» müsse seine Informanten nicht aufdecken.

D. Inzwischen hatte das Plenum des Presserats an seiner Plenarsitzung vom 7. Juli 2005 und per Zirkularbeschluss per Ende August 2005 in Anwendung von Art. 6 Abs. 2 seines Geschäftsreglements beschlossen, den Bericht der «NZZ am Sonntag» vom 12. Juni 2005 von sich aus aufzugreifen und zum Gegenstand einer Stellungnahme zu den Themen «Veröffentlichung anonymer Vorwürfe», «Quellenschutz» und «Anhörung bei schweren Vorwürfen» zu machen.

E. Vom Presserat zu einer Stellungnahme aufgefordert, beantragte Chefredaktor Felix E. Müller am 30. November 2005, das Verfahren einzustellen oder mindestens zu sistieren, bis das durch eine Strafanzeige von Marko Turina vor dem Bezirksgericht Zürich gegen Mathias Ninck eingeleitete Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen sei. Das Presseratspräsidium lehnte die Anträge der «NZZ am Sonntag» am 27. Dezember 2005 unter Hinweis auf die jüngere Praxis des Presserats zu Art. 15 Abs. 3 seines Geschäftsreglements ab. Danach ist bei gleichzeitig hängigen Gerichts- und Presseratsverfahren die ohnehin schwierig abzuschätzende mögliche Beeinflussung des Gerichtsverfahrens durch eine Stellungnahme des Presserats nicht entscheidend. Der Presserat tritt trotz eines parallelen Gerichtsverfahrens auf eine Beschwerde ein, wenn sich grundlegende berufsethische Fragen stellen. Die «NZZ am Sonntag» hat gegenüber Marko Turina den aussergewöhnlich schweren Vorwurf der eventualvorsätzlichen Tötung erhoben und damit eine breite Mediendiskussion ausgelöst. Deshalb hält der Presserat trotz des parallel hängigen Gerichtsverfahrens an der vorliegenden Stellungnahme fest.

F. Auf Einladung des Presserates führte der anwaltlich vertretene Marko Turina am 29. März 2006 aus, er sei vom Journalisten «überhaupt nicht mit konkreten Vorwürfen konfrontiert», sondern lediglich gefragt worden, «ob er inzwischen bereit sei, zum Fall Voser ein Interview zu geben». Er habe dies verneint und auf das laufende Strafverfahren hingewiesen und gebeten, die «NZZ am Sonntag» möge sich an die Staatanwaltschaft halten, bei der er Aussagen gemacht habe. Er reichte dem Presserat zudem eine Aktennotiz einer telefonischen Besprechung mit seinem Anwalt vom 12. Juni 2005 sowie einen E-Mail-Austausch mit seinem Anwalt vom 21./22. Juni 2005 zu den Akten. Am 22. Mai 2006 protestierte die «NZZ am Sonntag» gegen das Vorgehen des Presserates. Gleichzeitig weigerte sie sich, zu den Ausführungen von Marko Turina materiell Stellung zu nehmen.

G. Die vom Presseratspräsidium gestützt auf Art. 10 Abs. 6 und 7 des Geschäftsreglements damit betraute 1. Kammer beriet den Sachverhalt an ihrer Sitzung vom 2. Juni 2006 und beschloss ihrerseits, die Angelegenheit dem Presseratsplenum zu unterbreiten.

H. Das Plenum des Presserats verabschiedete die vorliegende Stellungnahme an seiner Sitzung vom 12. September 2006 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Der Schweizer Presserat steht dem Publikum und den Medienschaffenden als Beschwerdeinstanz für medienethische Fragen zur Verfügung. Er soll zudem zur Reflexion über grundsätzliche medienethische Probleme – auch in den Redaktionen – beitragen. Gerade im Hinblick auf die wichtige Diskursfunktion des Presserates sieht Art. 6 Abs. 2 des Geschäftsreglements vor, dass er nicht bloss auf Beschwerde hin reagieren, sondern mit Mehrheitsbeschluss Fälle von sich aus aufgreifen und zum Gegenstand einer Stellungnahme machen kann. Dies gilt auch dann – sofern sich grundlegende berufsethische Fragen stellen – wenn im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Presseratsverfahrens bereits ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden ist (Art. 15 Abs. 3 des Geschäftsreglements). Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Berichterstattung der «NZZ am Sonntag» stellen sich bedeutende berufsethische Fragen zu den Themen «Veröffentlichung anonymer Vorwürfe», «Quellenschutz» und «Anhörung bei schweren Vorwürfen». Es ist dem Presserat nicht zuzumuten, mit der Äusserung zu aktuellen berufsethischen Themen unter Umständen mehrere Jahre zuzuwarten, bis ein über mehrere Instanzen geführtes Gerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

b) Der Presserat nimmt in den ihm durch Beschwerde unterbreiteten oder aus eigenem Antrieb aufgegriffenen Fällen auch dann Stellung, wenn sich die betroffene Redaktion – wie hier die «NZZ am Sonntag» – weigert, gegenüber dem Presserat materiell Stellung zu nehmen (vgl. Stellungnahmen 8/1994, 14/1999; ebenso § 7 Abs. 7 Ziffer 1 der Beschwerdeordnung des Deutschen Presserats). Dabei stellt er nicht einseitig auf die Vorbringen der anderen Partei oder eines nicht am Verfahren beteiligten Dritten ab, sondern würdigt die Verfahrensakten mit kritischer Distanz.

2. a) Der Presserat hat im Leitentscheid 6/2001 dara
uf hingewiesen, dass Medienschaffende gemäss Ziffer 3 der ‹Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten› nur Informationen, Dokumente, Bilder und Töne veröffentlichen sollen, deren Quellen ihnen bekannt sind. Weiter dürfen sie keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen. Der Presserat hat aus dieser Bestimmung abgeleitet, dass Quellen zu prüfen und in der Publikation grundsätzlich bekanntzugeben sind (Postulat auf Quellentransparenz; Stellungnahme 3/1993). Umgekehrt sind die Journalistinnen und Journalisten aufgrund von Ziffer 6 der «Erklärung» gehalten, das Redaktionsgeheimnis zu wahren und die Quellen vertraulicher Informationen nicht preiszugeben. Diesem Interessenkonflikt zwischen Transparenz und Fairness der Berichterstattung auf der einen und dem Quellenschutz auf der anderen Seite trägt die Richtlinie 3.1 zur «Erklärung» Rechnung. Danach liegt eine genaue Bezeichnung einer Quelle im Interesse des Publikums; sie ist vorbehältlich eines überwiegenden Interesses an der Geheimhaltung einer Quelle unerlässlich, wenn dies zum Verständnis der Information wichtig ist. Mit anderen Worten ist im Einzelfall immer eine Interessenabwägung vorzunehmen.

b) Stösst ein Journalist bei seiner Recherche zu einem Strafverfahren auf ernstzunehmende Aussagen, welche für ihn nahe legen, dass es entgegen den bisherigen Annahmen der Untersuchungsbehörden nicht um fahrlässige, sondern um eventualvorsätzliche Tötung gehen könnte, besteht ein Interesse der Öffentlichkeit, davon Kenntnis zu erhalten. Zudem erscheint es nachvollziehbar, dass die offenbar von Arbeitnehmer/innen des Universitätsspitals Zürich stammenden Indizien, wonach Marko Turina der Patientin wissentlich ein Herz der falschen Blutgruppe transplantiert habe, dem recherchierenden Journalisten ohne Zusicherung der Anonymität nicht mitgeteilt worden wären. Denn Angestellte, deren Sachverhaltsdarstellung von derjenigen anderer Mitglieder des Operationsteams abwich, mussten unter Umständen mit Repressalien rechnen. Zudem hatte die Spitalleitung des Universitätsspitals Zürich dem Personal laut dem Bericht offenbar verboten, über den Vorfall mit Journalisten zu reden.

Ob Mathias Ninck die in seinem Artikel anonym gehaltenen Quellen in genügendem Umfang auf ihre Glaubhaftigkeit überprüfen konnte, vermag der Presserat nicht zu beurteilen. Im Bericht das «Wagnis des Starchirurgen» führt er zu den Informanten aus: «Mehrere verlässliche Quellen, die über die Operation an Rosemarie Voser gut informiert sind, kommen unabhängig von einander zum selben Schluss.». Unbestritten ist weiter, dass er oder eine Redaktionskollegin offenbar vor der Publikation versucht hat, Marko Turina für eine Stellungnahme zu erreichen. Unklar ist bloss, wie konkret Professor Turina bei diesem Gespräch mit den Vorwürfen konfrontiert worden ist (vgl. dazu eingehend die Ziffer 4 der Erwägungen).

3. a) Ziffer 6 der «Erklärung» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, das Redaktionsgeheimnis zu wahren und die Quellen vertraulicher Informationen nicht preiszugeben. Gemäss der Richtlinie 6.1 geht die Berufspflicht, das Redaktionsgeheimnis zu wahren «weiter als das gesetzliche Zeugnisverweigerungsrecht. Das Redaktionsgeheimnis schützt die Quellen der Journalistinnen und Journalisten (Notizen, Adressen, Ton- und Bildaufnahmen usw.). Es schützt Informantinnen und Informanten, sofern sie ihre Mitteilungen unter der Voraussetzung abgegeben haben, dass sie bei einer Publikation nicht identifizierbar gemacht werden dürfen.» Laut der Richtlinie 6.2 haben Journalistinnen und Journalisten «ungeachtet der gesetzlichen Ausnahmeregelungen des Zeugnisverweigerungsrechts in jedem Einzelfall eine Interessenabwägung zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und anderen schützenswerten Interessen vorzunehmen. In Extremfällen können sich Journalistinnen und Journalisten von der abgegebenen Zusicherung der Vertraulichkeit entbunden fühlen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie Kenntnis von besonders schweren Verbrechen oder Drohungen erhalten, ebenso bei Angriffen auf die innere oder äussere Sicherheit des Staates.»

b) Mit der Verankerung des Quellenschutzes in Art. 27bis des Strafgesetzbuches (in Kraft seit dem 1. April 1998) haben sich Medienethik und Medienrecht einander wesentlich angenähert. Allerdings gilt das strafrechtliche Redaktionsgeheimnis der Medienschaffenden nicht absolut. Denn der zweite Absatz von Art. 27bis StGB setzt den Quellenschutz ausser Kraft, wenn «der Richter feststellt», dass ohne das Zeugnis «ein (vorsätzlich begangenes) Tötungsdelikt» nicht aufgeklärt werden (…) kann». Ebenso weist die oben zitierte Richtlinie 6.2 zur «Erklärung» darauf hin, dass die Berufsethik der Journalistinnen und Journalisten die Pflicht zur Zeugnisverweigerung gegenüber den (Strafverfolgungs-)Behörden nicht (mehr) absolut setzt, sondern in Extremfällen (besonders schwere Verbrechen und Drohungen; Angriffe auf die innere und äussere Sicherheit des Staates) Ausnahmen zulässt.

c) Zumindest die bekannten Fakten deuten darauf hin, dass Mathias Ninck, seine anonym gehaltenen Quellen zu Recht nicht offengelegt hat. Die Veröffentlichung des Artikels der «NZZ am Sonntag» erfolgte über ein Jahr nach dem Tod von Rosemarie Voser. Die Staatsanwaltschaft hatte damit genügend Zeit, alle nahe liegenden eventuellen Tatbeteiligten und Zeugen bereits vor der Publikation einzuvernehmen. Deshalb scheint es selbst bei einer Offenlegung der anonymen Quellen durch die «NZZ am Sonntag» als höchst unwahrscheinlich, dass sich das Untersuchungsergebnis mit einer (nochmaligen?) Befragung der Informanten wesentlich verändert hätte. Unter diesen Umständen hatte der Journalist von vornherein keine Veranlassung, sich von der Zusicherung der Anonymität gegenüber seinen Quellen entbunden zu fühlen.

4. a) Dem Interesse des Publikums an der Veröffentlichung des gegenüber dem Arzt Marko Turina erhobenen Verdachts stand dessen legitimes Interesse gegenüber, sich in fairer Weise gegen diese Kritik verteidigen und gegebenenfalls unwahre Vorwürfe entkräften zu können. Die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten entsprechend die berufsethische Pflicht, die Betroffenen vor der Publikation anzuhören und deren Stellungnahme im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Gerade bei der Veröffentlichung von schweren Vorwürfen anonym gehaltener Informanten kommt der korrekten Durchführung der Anhörung der davon Betroffenen ein ganz besonders Gewicht zu (Stellungnahmen 29/2000, 11/2002).

b) Der gegenüber Marko Turina erhobene Vorwurf, bei Rosmarie Voser eine «unmögliche» Operation in unverantwortlicher Weise riskiert und damit den Tod der Patientin in Kauf genommen zu haben, wiegt ganz aussergewöhnlich schwer. Entsprechend war die Anhörung des Betroffenen zu diesem konkreten Vorwurf unabdingbar. Der Journalist darf dabei nicht leichthin annehmen, ein vorerst unwilliger Gesprächspartner verzichte auf die Anhörung zu den konkreten schweren Vorwürfen. Je direkter die zur Publikation vorgesehenen Vorwürfe jemanden persönlich angreifen, desto nachdrücklicher muss der Journalist sich um eine Äusserung des Betroffenen bemühen. Die Annahme, er könne ja später mit Berichtigung oder Gegendarstellung korrigierend eingreifen, genügt nicht (29/2005). Die Anhörungspflicht soll im Sinne einer «minimalen Fairnessgarantie» sicherstellen, dass der Betroffene die Chance hat, seine besten Argumente wenigstens in aller Kürze darzulegen (27/2004).

c) Der den «Starchirurgen» Turina sowohl beruflich als auch persönlich treffende Vorwurf einer eventualvorsätzlichen Tötung – Art. 111 StGB sieht eine Mindeststrafe von 5 Jahren Zuchthaus vor – musste den Journalisten Mathias Ninck dazu bewegen, sich nachdrücklich und konkret um eine direkte Stellungnahme zu bemühen. Ob er die dazu erforderliche Transparenz seiner Untersuchung gegenüber Marko Turina h
ergestellt, die Klarheit über seine Vorwürfe und Hypothesen geliefert hat? Ernsthafte Zweifel sind angebracht. Wie aus der von Marko Turina dem Presserat eingereichten Aktennotiz vom Publikationstag hervorgeht, behauptete dieser damals seinem Anwalt gegenüber, die Person, die ihn anrief, sei bloss mit einem allgemeinen Interviewwunsch vorstellig geworden – den er wie immer abgewiesen habe. Tags darauf liess er den Medien über seinen Anwalt ausrichten, er bestreite «vehement», die Verwechslung bewusst in Kauf genommen zu haben («NZZ» und «Tages-Anzeiger» vom 14. Juni 2005). In «10 vor 10» (vom 13. Juni 2005) präzisierte er persönlich, er habe geglaubt, es handle sich um ungleiche, aber kompatible Herzen – aufgrund eines telefonischen Missverständnisses in der Frühe. Die ihm unterschobene Risikooperation «würde ich niemals tun». Wäre er transparent und vollständig befragt worden – hätte er den Journalisten der «NZZ am Sonntag» derart beiläufig «abgewimmelt» und auf die Chance verzichtet, seine «besten Argumente» einzubringen, was er dann einen Tag später versuchte?

Auch wenn dem Presserat die Darlegungen von Marko Turina zur telefonischen Kontaktnahme durch die «NZZ am Sonntag» vor dem Artikel vom 12. Juni 2005 schlüssig erscheinen, steht für ihn angesichts der ihm vorliegenden zwangsläufig unvollständigen Beweismittel trotzdem nicht mit Sicherheit fest, dass der Journalist der «NZZ am Sonntag» sorgfaltswidrig gehandelt hat. Die wenigen Angaben über das Telefon Ninck-Turina lassen weder die Folgerung zu, dass Mathias Ninck den von seinen anonymen Quellen erhobenen Vorwurf Marko Turina konkret unterbreitet hat, noch lassen sie eindeutig den gegenteiligen Schluss zu. Auch wenn es dem Presserat nicht wahrscheinlich erscheint, wäre es zumindest auch denkbar, dass sich Marko Turina (eventuell nach Rücksprache mit seinem Anwalt) erst tags darauf – unter dem Eindruck des publizierten Artikels – zu einer offensiveren Kommunikationsstrategie entschloss. Dementsprechend ist für den Presserat – mit seinen beschränkten Prüfungsmöglichkeiten – eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» nicht erstellt. Es wird Sache der zuständigen Gerichtsbehörde im hängigen Ehrverletzungsprozess sein, nach Durchführung des Beweisverfahrens festzustellen, ob die Qualität der Recherche unter den gegebenen Umständen genügte.

d) Ohnehin ist für den Presserat nicht entscheidend, ob im konkreten Fall eine Rüge wegen Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» auszusprechen ist oder nicht. Vielmehr liegt ihm in erster Linie daran, anhand dieser Veröffentlichung eines aussergewöhnlich schweren Vorwurfs daran zu erinnern (vgl. hierzu bereits die Stellungnahmen 9/1997, 14/1998) und zu verdeutlichen, dass sich Medienschaffende nicht mit einer bloss formellen Kontaktnahme kurz vor der Veröffentlichung begnügen dürfen. Vielmehr sind die von schweren Vorwürfen Betroffenen ausdrücklich mit den konkreten, zentralen Vorwürfen zu konfrontieren. Bei Verweigerung einer Stellungnahme empfiehlt es sich, die konkreten Vorwürfe ergänzend schriftlich (z.B. per E-Mail und/oder Telefax) zu unterbreiten. Ebenso sollte der Medienbericht darauf hinzuweisen, dass der Betroffene mit den zentralen Vorwürfen ausdrücklich konfrontiert worden ist.

III. Feststellungen

1. Bei der Berichterstattung der «NZZ am Sonntag» über den «Fall Turina» überwog das Interesse an einer auf anonym gehaltenen Quellen beruhenden Berichterstattung gegenüber dem Postulat auf Quellentransparenz. Stösst ein Journalist bei seiner Recherche zu einem Strafverfahren auf Fakten und ernstzunehmende Aussagen, welche nahe legen, dass es entgegen den bisherigen Annahmen der Untersuchungsbehörden nicht um fahrlässige, sondern stattdessen um eventualvorsätzliche Tötung gehen könnte, besteht ein Interesse der Öffentlichkeit, davon Kenntnis zu erhalten.

2. Die dem Presserat bekannten Fakten deuten darauf hin, dass Mathias Ninck seine anonym gehaltenen Quellen gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zu Recht nicht offengelegt hat. Ausgehend vom Verhältnismässigkeitsprinzip erscheint es selbst bei einer Offenlegung der Quellen als höchst unwahrscheinlich, dass sich das Untersuchungsergebnis nach einer Befragung der Informanten wesentlich verändert hätte. Unter diesen Umständen hatte der Journalist keine Veranlassung, sich von der Zusicherung der Anonymität entbunden zu fühlen.

3. Vor der Veröffentlichung des gegenüber Marko Turina geäusserten Verdachts, er habe bei einer Herzplantation bewusst das «falsche» Herz eingepflanzt und damit den Tod der Patientin in Kauf genommen, war die Anhörung des Betroffenen unabdingbar. Ob die «NZZ am Sonntag» diese Anhörung mit der erforderlichen Sorgfalt durchführte, bleibt für den Presserat angesichts der ihm vorliegenden unvollständigen Beweismittel offen. Eine Verletzung der Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» ist deshalb nicht erstellt.

4. Journalistinnen und Journalisten dürfen nicht leichthin annehmen, ein vorerst unwilliger Gesprächspartner verzichte auf die Anhörung zu detaillierten schweren Vorwürfen. Je direkter die zur Publikation vorgesehenen Vorwürfe jemanden persönlich angreifen, desto nachdrücklicher muss der Journalist sich um eine Äusserung des Betroffenen bemühen. Dabei sind die Betroffenen ausdrücklich mit den konkreten, zentralen Vorwürfen zu konfrontieren. Bei Verweigerung einer Stellungnahme empfiehlt es sich, die Vorwürfe ergänzend schriftlich (z.B. per E-Mail und/oder Telefax) zu unterbreiten. Es empfiehlt sich, im Medienbericht darauf hinzuweisen, dass der Betroffene mit den zentralen Vorwürfen ausdrücklich konfrontiert worden ist.