Nr. 15/2000
Unabhängige Bearbeitung von Leserbriefen

(R. c. NZZ) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 26. April 2000

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I. Sachverhalt

A. Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) veröffentlichte am 27. Oktober 1999 einen Beitrag über öffentliche Reaktionen in Israel auf den Wahlsieg der Schweizerischen Volkspartei (SVP) in den nationalen Parlamentswahlen. Die NZZ berichtete, dass sich Israels Aussenminister David Levy im israelischen Fernsehen besorgt erklärt und bemerkt habe, er werde die Zusammensetzung der künftigen Schweizer Regierung aufmerksam verfolgen. Antisemitismus sei ein Problem Europas und auch der Schweiz. Die NZZ berichtete ferner über ein Interview der Zeitung „Yediot Acharonoth“ mit Nationalrat Christoph Blocher, Präsident der Zürcher SVP. Blocher sei insbesondere gefragt worden, ob Juden in der Schweiz nach dem Wahlsieg der SVP etwas zu befürchten hätten. Blocher hätte geantwortet, dass es in der Schweiz keinen Antisemitismus gebe, dass sich aber viele Schweizer durch die finanziellen Forderungen des Jüdischen Weltkongresses erpresst gefühlt hätten. Der Bericht der NZZ enthielt weitere Einzelheiten aus diesem Zeitungsinterview. Es folgte ein kurzer Kommentar des NZZ-Redaktors W.: Die Frage, ob Schweizer Juden antisemitische Übergriffe befürchten müssten, sei reichlich absurd. Das Urteil des israelischen Aussenministers, welches die SVP mit Antisemitismus assoziiere, sei in unhaltbarer Weise pauschalisierend und voreilig, da die Haltung der SVP sowie das genaue Wahlresultat unberücksichtigt geblieben seien und die Bundesratswahlen erst bevorstünden.

B. Als Reaktion auf den Kommentar von W. stellte der Beschwerdeführer der NZZ am 30. Oktober 1999 einen Leserbrief zu und bat um Veröffentlichung. Die Frage antisemitischer Übergriffe in der Schweiz sei keineswegs absurd, wie mehrere Vorfälle der letzten Jahre zeigten. Diese Fakten seien der NZZ bekannt, von ihr aber vernachlässigt worden. Der Redaktor sei zu rügen. Christoph Blocher verdiene das Engagement der NZZ nicht, ihn vor dem Verdacht des Antisemitismus zu schützen.

Den Leserbrief des Beschwerdeführers beantwortete Redaktor W. am 24. November 1999 im Namen der NZZ mit der Versicherung, dass es nicht um die Verdrängung antisemitischer Gewalttaten gehe, und mit dem Hinweis auf ein Missverständnis. Seines Erachtens hätte die Publikation des Leserbriefes nicht zur Klärung beigetragen, weshalb er nicht veröffentlicht worden sei.

Diesem Antwortschreiben der NZZ folgte ein weiterer Briefwechsel zwischen dem Beschwerdeführer und Redaktor W., in welchem es um die inhaltliche Frage antisemitischer Übergriffe und der Rolle der SVP ging, aber auch um die allgemeine Frage der Behandlung von Leserbriefen durch die NZZ. Der Beschwerdeführer wollte wissen, ob der angegriffene Redaktor tatsächlich selber über die Veröffentlichung oder Nicht-Veröffentlichung entscheiden könne. Das mache ihn nach Ansicht des Beschwerdeführers zum Richter in eigener Sache. Eine Kopie dieses Briefes des Beschwerdeführers vom 28. November 1999 ging an den Chefredaktor der NZZ, „mit der Bitte um eine kurze Stellungnahme“. In der Sache antwortete Wehrli dem Beschwerdeführer am 1. Dezember 1999 nochmals kurz. Zur Leserbrief-Politik der NZZ erwähnte W. einzig, dass es um eine sinnvolle Auswahl der Meinungsäusserungen gehe, wobei die NZZ an gutem Einspruch durchaus interessiert sei.

C. Der Beschwerdeführer gelangte daraufhin am 27. Dezember 1999 mit einer Beschwerde an den Presserat. Darin führte er u.a. aus, seine Beanstandung gegen die Behandlung seines Leserbriefes durch die NZZ habe eine inhaltliche und eine formale Seite. Heute gehe es ihm einzig um den formalen Teil. Er finde es stossend, dass ein nicht näher bezeichnetes „wir“-Kollegium, von welchem der betroffene Redaktor ganz sicher ein Teil sei, die eingegangenen Leserbriefe qualifiziert. Eine Trennung der „Gewalten“ dränge sich hier auf, denn die Entscheidung, was in einer Zeitung veröffentlicht wird und was nicht, betreffe ein wichtiges Gut. Darüber sollte ein etwas weniger abhängiges/betroffenes Gremium entscheiden. Dass dabei auch der Redaktor angehört werde, störe ihn nicht. Im übrigen habe er auch den Chefredaktor der NZZ um eine kurze Meinungsäusserung zur Auseinandersetzung gebeten. Leider sei seine Bitte unbeantwortet geblieben.

D. In seiner Stellungnahme vom 2. Februar 2000 verteidigte der Chefredaktor der NZZ die Kompetenzordnung der Zeitung bei der Behandlung von Leserzuschriften. Entscheide über die Publikation würden sinnvollerweise in erster Linie dort getroffen, wo am meisten Sachkompetenz vorhanden ist. Dies sei der für das jeweilige Sachgebiet verantwortliche Redaktor. Erst in zweiter Instanz komme der Ressortleiter oder Chefredaktor zum Zuge, an den sich die Leser wenden könnten, wenn sie sich von einem Redaktor ungerecht behandelt fühlten. Im vorliegenden Fall habe der Chefredaktor der NZZ ein Nachdoppeln allein aufgrund einer gleichzeitig ein-gereichten Briefkopie der laufenden Auseinandersetzung mit Redaktor Wehrli nicht für nötig gehalten, weil dem erfahrenen Redaktor ein sachlich begründetes Urteil und ein fairer Umgang mit Lesern zugetraut werden könne. Die Publikation kritischer Leserbriefe auf die Veröffentlichung von Artikeln hin liege im übrigen im Interesse der Redaktion, denn darin könne ein Hin-weis auf ein besonderes Profil der Zeitung liegen. Eine bestimmte redaktionsinterne Organisation des Umgangs mit Leserbriefen – z.B. der Einsatz eines unabhängigen Gremiums – sei berufsethisch nicht vorgeschrieben.

E. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde der ersten Kammer zu, welche sie an der Sitzung vom 26. April 2000 sowie auf dem Korrespondenzweg behandelte. Der ersten Kammer des Presserates gehören der Kammerpräsident Roger Blum sowie die Mitglieder Ma-rie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli Mazza, Silvana Iannetta, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina an.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde richtet sich gegen die im vorliegenden Fall zum Ausdruck kommende Praxis der NZZ, dem verantwortlichen Redaktor eines veröffentlichten Berichtes oder eines Kommen-tars die Entscheidung zu überlassen, ob ein kritischer Leserbrief veröffentlicht werden soll oder nicht. Während die NZZ der Ansicht ist, die Pflicht des Mediums erschöpfe sich darin, Leserbriefe sachlich und fair zu behandeln, gleichgültig mit welcher Organisationsstruktur sie es tue, vertritt der Beschwerdeführer die Meinung, eine Zeitung habe eine organisatorische „Gewaltentrennung“ innerhalb des Mediums zu verwirklichen, jedenfalls dann, wenn ein Leser einen Text des betroffenen Redaktors angreift. In zweiter Linie vertritt der Beschwerdeführer – wenn auch gegenüber dem Presserat nicht mehr ausdrücklich – den Standpunkt, dass sein Leserbrief hätte veröffentlicht werden sollen.

2. Vorauszuschicken ist die gefestigte Praxis des Presserates, wonach die Bearbeitung von Leserbriefen als redaktionelle Tätigkeit der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ unterliegt und somit vom Presserat auf ihre Übereinstimmung mit der journalistischen Ethik geprüft werden kann (vgl. zuletzt die Stellungnahme Nr. 22/1999 vom 15. Dezember 1999, Sammlung 1999, S. 174ff.). Zunächst ist aber das Hauptanliegen des Be-schwerdeführers zu untersuchen, welches sich gegen die interne Organisation der NZZ im Bereich der Leserbriefe richtet. Sinngemäss behauptet der Beschwerdeführer, ein Redaktor sei nicht genügend unabhängig, wenn er einen Leserbrief „in eigener Sache“ beurteilen müsse.

3. Die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ widmet sich der Unabhängigkeit von Journalistinnen und Journalisten an verschiedenen Stellen. So haben sich Berufsangehörige an die Wahrheit zu halten, und zwar ohne Rücksicht auf die Folgen (Ziffer 1); sie verteidigen die Unabhängigkeit und das Ansehen ihres Berufs (Ziffer 2); sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen (
Ziffer 3); sie lassen es nicht zu, dass ihre Meinungsbildung und ihre Äusserungen durch Vorteile oder Versprechungen Dritter beeinflusst werden (Ziffer 9); sie unterlassen kommerzielle Werbung und Schleichwerbung (Ziffer 10); sie nehmen Weisungen nur von den Vorgesetzten in ihrer Redaktion entgegen. Der Presserat hat in seiner Spruchpraxis zum Unabhängigkeitsgebot u.a. darauf hingewiesen, dass die Unabhängigkeit eine wesentliche Voraussetzung für die Ausübung der Journalistenberufs darstellt. Voraussetzung dieser Unabhängigkeit ist die Wahrung einer gewissen Distanz zu Personen und Themen, die Gewährleistung von Transparenz sowie der Ausstand bei „grosser Nähe“ (vgl. die Stellungnahmen i.S. “Bilanz” / “Finanz und Wirtschaft” vom 18. Juni 1992, Samm-lung 1992, S. 12ff., i.S. H und Co. c. “Stadt-Anzeiger Opfikon-Glattbrugg” vom 7. November 1996, Sammlung 1996, S. 88ff.).

Diese begrifflich weit verstandene Unabhängigkeit von Journalistinnen und Journalisten ist auch für die Bearbeitung von Leserbriefen erforderlich. Journalistinnen und Journalisten sollten jederzeit selbständig in der Lage sein, Tatsachen und Meinungen, die vom Publikum vorgebracht werden, nach sachlichen Kriterien und nicht nach persönlicher Betroffenheit auszuwählen. Daraus kann jedoch noch nicht abgeleitet werden, dass Redaktionen für die Bearbeitung von Leserbriefen im Sinne der Argumentation des Beschwerdeführers generell organisatorisch für eine “Gewaltenteilung” zu sorgen hätten.

Journalistinnen und Journalisten kommen immer wieder in die Lage, im redaktionellen Teil über Personen und Themen zu berichten, mit denen sie sich bereits früher konfrontiert waren. Ungeachtet davon wird von ihnen erwartet, dass sie immer für Neuigkeiten, Ergänzungen und Berichtigungen offen bleiben. Dasselbe hat konsequenterweise auch für die Bearbeitung von Leserbriefen zu gelten. Allein aus dem Umstand, dass sich ein Leserbrief kritisch auf einen Me-dienbericht bezieht oder in einzelnen Punkten Berichtigungen geltend macht, kann deshalb noch nicht abgeleitet werden, dass der betroffene Redaktor oder die betroffene Redaktorin nicht in der Lage wären, diesen Leserbrief mit der berufsethisch gebotenen Unabhängigkeit zu bearbeiten. Deshalb verstösst es nicht a priori gegen die journalistische Berufsethik, den Entscheid über den Abdruck eines kritischen Leserbriefes dem Autor des Medienberichts zu überlassen, auf den sich der Leserbrief bezieht. Einzig dann, wenn aufgrund einer aussergewöhnlichen persönlichen Betroffenheit Medienschaffende nicht in der Lage sind, einen Leserbrief mit der berufsethisch gebotenen Unbefangenheit zu bearbeiten, sind sie verpflichtet, von sich aus in den Ausstand zu treten.

4. Die Umstände des zu beurteilenden Falles geben dem Presserat keine Hinweise auf eine be-sondere Nähe des betroffenen Redaktors zur Person des Beschwerdeführers oder zum Thema, die ihn zum Ausstand verpflichten würde. Die Redaktion der NZZ hat dementsprechend im konkreten Fall die Berufsethik nicht verletzt, wenn sie die Entscheidung über den Abdruck des Leserbriefs des Beschwerdeführers dem verantwortlichen Redaktor überlassen hat, anstatt eine unabhängige Instanz damit zu betrauen.

5. Generell erscheint es dem Presserat aber empfehlenswert, wenn die Redaktionen die Forde-rung des Beschwerdeführers nach einer organisatorischen und personellen Unabhängigkeit der Leserbriefredaktionen zumindest prüfen, da eine solche Trennung regelmässig ein Indiz für Fairness und Unabhängigkeit darstellt und dementsprechend das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Medien fördert. Zumindest ist ihnen aber zu empfehlen, durch diese oder andere geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass die persönliche Unabhängigkeit auch bei der Auswahl und Bearbeitung von Leserbriefen gewährleistet ist und so Entscheide, bei denen Interessenkon-flikte eine Rolle spielen könnten, nach Möglichkeit von Vornherein vermieden werden.

6. Zu prüfen bleibt, ob Redaktor W. gegen die berufsethischen Pflichten verstossen hat, als er die Veröffentlichung des Leserbriefs des Beschwerdeführers verweigerte. Diesbezüglich ist vorab festzuhalten, dass der Beschwerdeführer mit seinen Hinweisen auf tatsächlich erfolgte verbale und körperliche Übergriffe auf Juden in der Schweiz Wichtiges zur geführten Diskussion beizutragen hatte. Auch die Bedeutsamkeit eines Anliegens vermag für sich allein jedoch nichts an der grundsätzlichen Freiheit der Redaktion zu ändern, allein über die Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung eines Leserbriefes zu entscheiden. (vgl. zuletzt die Stellungnahme i.S. S. c. “Tages-Spiegel” vom 16. Dezember 1999, Sammlung 1999, S. 183ff. sowie die dort angeführten Verweise).

Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus sinngemäss geltend gemacht, die NZZ wäre in Anwendung von Ziff. 5 der “Erklärung” verpflichtet gewesen, den aus seiner Sicht auf unrich-tigen Fakten beruhenden Kommentar von Redaktor W. z.B. durch den Abdruck seines Leserbriefs zu berichtigen, ist zu prüfen, ob die beanstandete Passage des Kommentars (die Frage, ob Schweizer Juden antisemitische Übergriffe befürchten müssten, mute reichlich absurd an) im dazugehörigen Kontext ein sachbezogenes Fundament hat bzw. für die Leserschaft nachvoll-ziehbar ist (vgl. die Stellungnamen i.S. H. .c. Zuger Presse vom 1. Oktober 1999, Sammlung 1999, S. 128ff. sowie S. c. NZZ vom 20. Februar 1998, Sammlung 1998 S. 48ff.).

Dem Beschwerdeführer ist diesbezüglich zwar zuzugestehen, dass dieser Satz bei separater Be-trachtung missverständlicherweise dahingehend verstanden werden konnte, antisemitische Übergriffe seien in der Schweiz von Vornherein ausgeschlossen. Aufgrund des Kontextes des Kommentars erscheint aber klar, was der Autor vielmehr sagen wollte: Übergriffe als direkte Folge des guten Wahlergebnisses der SVP seien undenkbar. Über Übergriffe gegen Schweizer Juden im Allgemeinen sollte damit nichts gesagt werden. Weil diese kommentierende Einschät-zung durch die NZZ im kritisierten Text eine Stütze findet, kann von einer Pflicht zur Berichti-gung durch die Zeitung nicht die Rede sein, zumal es hier um eine Meinungsäusserung des Redaktors W. und nicht um eine Nachricht geht.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

2. Die “Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten” ist auch für die Behandlung von Leserbriefen verbindlich. Medien sind aber nicht verpflichtet, Leserbriefe einer besonderen Instanz zu unterbreiten, welche unabhängig von der übrigen Redaktion über die Veröffentlichung und Bearbeitung der Leserbriefe zu entscheiden hat.

3. Den Redaktionen wird indessen empfohlen, durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass die persönliche Unabhängigkeit der Journalistinnen und Journalisten auch bei der Auswahl und Bearbeitung von Leserbriefen gewährleistet ist und Entscheide vermieden werden, die durch Interessenkonflikte beeinflusst werden könnten.