Nr. 38/2000
Respektierung der Menschenwürde / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen

(Schlüer c. „WochenZeitung“) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 3. November 2000

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I. Sachverhalt

A. In der „Wochenzeitung“ (nachfolgend WoZ) vom 24. August 2000 erschien in der Rubrik „familie monster“ eine satirischer Beitrag mit dem Titel „Zur Annahme der 18-Prozent-Initiative durch die SVP“, der sich mit Haltung der SVP im Vorfeld der Abstimmung über diese Initiative auseinandersetzte.

B. Mit Schreiben vom 5. September 2000 gelangte SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer mit einer Beschwerde an den Presserat. Darin machte er geltend, die WoZ habe mit dem Artikel elementarste berufsethische Grundsätze des Journalismus verletzt und die Autoren hätten gegen die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verstossen. Der beanstandete Text sei von einer so unsäglichen Niedertracht und verletzenden Gemeinheit, dass sich eine Kommentierung erübrige. Der Beschwerdeführer sah insbesondere die Ziffer 8 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt (Pflicht zur Respektierung der Menschenwürde).

C. Das Presseratspräsidium überwies die Beschwerde zur Behandlung an die 1. Kammer, der Roger Blum als Präsident sowie Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli Mazza, Silvana Iannetta, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina als Mitglieder angehören.

D. Mit Schreiben vom 2. Oktober 2000 bestritt die WoZ die Beschwerdelegitimation von Ulrich Schlüer und rügte die Beschwerdebegründung als ungenügend. Aus der Beschwerde werde nicht klar, unter welchem Titel (Privatperson, verantwortlicher Redaktor der „Schweizerzeit“ oder Nationalrat) Herr Schlüer Beschwerde führe. Zudem begründe der Beschwerdeführer nicht genau, welche Passagen des beanstandeten Artikels welche Punkte der „Erklärung“ verletzten. Schliesslich fehle eine Erklärung der Beschwerdeführers darüber, ob in derselben Angelegenheit eine Gerichtsverfahren angehoben worden sei. Aus diesen Gründen beantragte die WoZ, der Beschwerdeführer sei durch den Presserat zu einer Präzisierung seiner Beschwerde aufzufordern.

E. Mit Schreiben vom 19. Oktober 2000 wies das Presseratspräsidium die Einwände der WoZ grösstenteils zurück. Die Beschwerdelegitimation von Herrn Schlüer sei unzweifelhaft gegeben, da im Verfahren vor dem Presserat jede natürliche und juristische Person beschwerdeberechtigt sei. Darüber hinaus gehe aus der Beschwerde mit genügender Klarheit hervor, dass sich diese vorab auf die Ziffern 7 und 8 der „Erklärung“ beziehe. Dementsprechend wurde die „WoZ“ vom Presserat aufgefordert, materiell zur Frage Stellung zu nehmen, ob es aus ihrer Sicht mit den genannten berufsethischen Bestimmungen vereinbar sei, den Beschwerdeführer und die weiteren SVP-Exponenten Ueli Maurer und Hans Fehr in einem journalistischen Text auf die Art und Weise des am 24. August 2000 in der Rubrik „familie monster“ veröffentlichten Textes darzustellen. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, sich dazu zu äussern, ob er im Zusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand ein Gerichtsverfahren anhängig gemacht habe oder ob er ein solches noch einzuleiten gedenke.

F. In Ihrer Stellungnahme vom 30. Oktober 2000 machte die WoZ u.a. geltend, angesichts des notorisch berüchtigten Sprachgebrauchs der Zürcher SVP werde es dem Presserat unmittelbar einleuchten, dass in diesem Fall „auf einen groben Klotz ein grober Keil gehörte.“ Die Rubrik „familie monster“ sei in der WoZ ein gut eingeführtes satirisches Gefäss für ein aufgeklärtes politisches Publikum. Im übrigen sei in diesem Zusammenhang an das Wort von Kurt Tucholsky erinnern, wonach Satire alles dürfe. Für die WoZ heisse das konkret: Solange Satire in einem freien Medium wie der WoZ stattfinde, tue sie alles was sie politisch – und dass heisse auch presseethisch – als notwendig erachte. Aus Sicht der WoZ sei unter berufsethischen Gesichtspunkten nicht ihr eigenes Verhalten, sondern vielmehr dasjenige des „SVP-Pressedienstes“ zu verurteilen, der am 28. August 2000 den WoZ-Text vom 24. August 2000 integral abgedruckt habe, ohne dabei darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um einen satirischen Text handle.

G. Mit Schreiben vom 1. November 2000 teilte der Beschwerdeführer mit, dass er im Zusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand weder ein Gerichtsverfahren anhängig gemacht habe, noch ein solches einzuleiten gedenke.

H. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 3. November 2000 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Soweit die WoZ in ihrer Beschwerdeantwort vom 30. Oktober 2000 sinngemäss geltend macht, der „SVP-Pressedienst“ habe am 28. August 2000 durch den integralen Abdruck des WoZ-Textes vom 24. August 2000 ohne Hinweis auf die Satirerubrik „familie monster“ die journalistische Berufsethik verletzt, kann auf diese Rüge nicht eingetreten werden. Der „SVP-Pressedienst“ ist nicht Partei des vorliegenden Beschwerdeverfahrens. Überdies erschiene es zumindest fraglich, ob der „SVP-Pressedienst“ überhaupt den berufsethischen Regeln des Journalismus untersteht oder ob es sich dabei nicht eher um ein PR-Organ einer politischen Partei handelt, das Informationen nicht nach journalistischen Grundsätzen bearbeitet, sondern bei dem vielmehr die Selbstdarstellung der Partei im Vordergrund steht.

2. Der Presserat hat sich bereits in einer früheren Stellungnahme ausführlich zu den Grenzen der Satire geäussert (Stellungnahme vom 7. November 1996 i.S. EMD c. „Nebelspalter“, Sammlung 1996, S. 104ff.). Damals hat der Presserat u.a. darauf hingewiesen, dass kein Thema a priori von der journalistischen Bearbeitung – auch in der Form der Satire – ausgenommen sei. „Der grundsätzlichen Freiheit der Satire sind jedoch berufsethische Grenzen gesetzt, soweit andere durch satirische Beiträge betroffene Interessen im Einzelfall schwerer wiegen.“

3. Eine der auch von satirischen Beiträgen in Medien zu respektierende Grenze ist die Menschenwürde der von der Satire Betroffenen. Der Pressekodex des Deutschen Presserates drückt dies in Ziffer 1 des Pressekodexes wie folgt aus: „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Ziff. 8 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalisten“, der mit der per 1. Januar 2000 in Kraft gesetzten Revision der „Erklärung“ in den schweizerischen berufsethischen Kodex eingefügt wurde, lautet wie folgt: „Sie respektieren die Menschenwürde und verzichten in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf Anspielungen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion. das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben (…).“Das in Ziff. 8 der „Erklärung“ statuierte Diskriminierungsverbot bezieht sich zwar in erster Linie auf Gruppenzugehörigkeiten (Ethnie, Religion, Geschlecht usw.). Von solchen berufsethisch zu unterlassenden diskriminierenden Anspielungen gegen Gruppen kann im Zusammenhang mit den gegenüber der SVP und drei prominenten Exponenten erhobenen Vorwürfen offensichtlich keine Rede sein. Hingegen bezieht sich die grundsätzliche Pflicht der Respektierung der Menschenwürde nicht nur auf Gruppen, sondern auch auf Individuen. Gegenüber dem Einzelnen ist bei der Berichterstattung durch die Medien dementsprechend nicht nur die Privatsphäre zu respektieren, wenn kein überwiegendes öffentliches Interesse an einer Berichterstattung zu bejahen ist und sind nicht nur sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen. Aus dem berufsethischen Gebot der Respektierung der Menschenwürde ist darüber hinaus vielmehr auch eine berufsethische Pflicht abzuleisten, in den Medien auf Darstellungen zu verzichten, die die Betroffenen in erniedrigender Weise darstellen. 4. Der vom Beschwerdeführer beanstandete WoZ-Artikel enthält u.a. folgende Pas
sagen:

– der Beschwerdeführer „hustete und spuckte zwei oder drei Kotbrocken in sein kariertes Taschentuch“; – „ja lächelte Schlüer, dem die braune Scheisse langsam aus den Ohren rann (…)“; – „(…) ergänzte der Auns-Geschäftsführer Fehr, dem natterngleich zwei fette, dunkelbraune Kotstränge durch die Augenlöcher drangen“; – „(…) ergänzte Schlüer, nun ganz ein Stück braune Scheisse (…)“; – „(…) sagte Fehr und erbrach gradlinig einen Schwall Durchfall über Maurers Anzug (…)“.

5. Für den Presserat ist offenkundig, dass der WoZ-Artikel mit dieser Darstellungsweise die Grenzen des berufsethisch Zulässigen bei weitem überschreitet. Der systematische Rückgriff auf eine vulgäre „Fäkalien-Sprache“ verletzt die Pflicht zur Respektierung der Menschenwürde der davon Betroffenen, weil sie so auf eine äusserst erniedrigende Weise dargestellt werden. Auf diese Weise werden der Beschwerdeführer und die beiden weiteren SVP-Exponenten ihres elementaren Rechts beraubt, nicht in ihrem Menschsein herabgewürdigt zu werden. An dieser Wertung vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass der WoZ-Artikel für die Leserschaft der WoZ offensichtlich als Satire erkennbar ist. Die grosszügig auszulegende Freiheit der Satire darf aber nicht mit einer angeblichen Freiheit verwechselt werden, die Menschenwürde des politischen Gegners mit Füssen zu treten.

6. Die genannten SVP-Exponenten werden im Text darüber hinaus – wenn auch in karikierender Weise – als Sympathisanten von „Dölf“, d.h. Adolf Hitler dargestellt. Damit wird unterschwellig eine Gleichsetzung der rechtskonservativen Positionen der SVP mit der nazistischen Ideologie hergestellt. Gleichzeitig wird das mit dem Naziregime verbundene Unwerturteil auf diese Weise auf die SVP und ihre Exponenten übertragen.

In der bereits erwähnten Stellungnahme i.S. EMD c. „Nebelspalter“(Sammlung der Stellungnahmen 1996, a.a.O.) hat der Presserat darauf hingewiesen, dass die Leserschaft durch die Satire nicht irregeführt werden darf. „Satire in den Medien muss immer klar als solche gekennzeichnet sein. Der Leser muss jederzeit zwischen Information und Fiktion unterscheiden können. (…) Lügen bleiben Lügen ebenso wie Ehrverletzungen, auch wenn sie unter dem Zeichen ‘Satire’ auftreten.“ (Sammlung 1996, S. 126f.) In einer Stellungnahme vom 1. Oktober 1999 i.S. G. c. B. / „L’Impartial“ hat der Presserat zur Tragweite der Kommentarfreiheit weiter festgehalten: „Bei aller Freiheit sind aber die Fakten zu respektieren.“ Auch die im Rahmen eines satirischen Beitrags übertriebene und verfremdete Kommentierung ist berufsethisch dementsprechend nur dann zulässig, wen sie von einem wahren Kern ausgeht (Stellungnahme 36/2000 vom 3. November 2000 i.S. Ogi c. „Zeitfragen“).

7. Dieser wahre Kern ist vorliegend hinsichtlich der unterstellten Sympathie zu nazistischem Gedankengut nicht gegeben. Dem Presserat liegen keinerlei Anhaltspunkte vor, wonach die drei vom satirischen Beitrag der WoZ betroffenen SVP-Exponenten zu Recht Sympathien zu nazistischem Gedankengut und zu Adolf Hitler vorgehalten werden könnten. Wenn die „WoZ“ den SVP-Exponenten Ulrich Schlüer, Hans Fehr und Ueli Maurer trotzdem solches unterstellt, hat sie damit die Ziffern 1 und 7 der „Erklärung“ ungeachtet davon verletzt, dass diese Vorwürfe im Rahmen eines für die Leserschaft als solchen erkennbaren satirischen Beitrages veröffentlicht worden sind.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die WoZ hat mit der Publikation des Artikels „Zur Annahme der 18-Prozent-Initiative durch die SVP“ in ihrer Satirerubrik „familie monster“ in der Ausgabe vom 24. August 2000 gegen die Ziffern 1, 7 und 8 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verstossen.

3. Der systematische Rückgriff auf eine vulgäre „Fäkalien-Sprache“ verletzt die Menschenwürde der davon Betroffenen. Auf diese Weise werden die politischen Gegner ihres elementaren Rechts beraubt, nicht als Menschen verunglimpft zu werden. Die grosszügig auszulegende Freiheit der Satire darf nicht mit einer angeblichen Freiheit verwechselt werden, die Menschenwürde des Gegenübers mit Füssen zu treten.

4. Die Publikation des unbelegten Vorwurfes von Sympathien zu nazistischem Gedankengut und zu Adolf Hitler bleibt auch dann warheitswidrig und stellt eine sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigung dar, wenn dieser im Rahmen satirischen Beitrages veröffentlicht wird, der für die Leserschaft als solcher zu erkennen ist.