Nr. 32/2006
Respektierung der Menschenwürde / Diskriminierung

(X. c. «NZZ am Sonntag») Stellungnahme des Presserates vom 23. Juni 2006

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I. Sachverhalt

A. Am 12. März 2006 veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» in der Rubrik «Showdown» unter dem Titel «Die Aufrichtung» eine Kolumne von Mathias Ninck. Darin führt der Autor aus, die Tendenz zur Angleichung von Mann und Frau sei unübersehbar, dies gelte auch für den Körperbau, «seit in jeder Arztpraxis Geräte zum Absaugen / Aufspritzen / Umgiessen stehen. Der Mensch hat heute Entwurfscharakter, Adoleszenz bedeutet heute Warten auf die chirurgische Vervollkommnung. Ganz in der Logik dieser Entwicklung liegt auch das vollständige ‹Umbauen› von Menschen. (…) Natürlich, Transsexualität ist eine Krankheit, und Heilungsversuche durch Abänderung von Geschlechtsmerkmalen sind nicht nur lächerlich, sondern auch tragisch. Aber mal ehrlich, muss eine Frau, wenn sie einen Piepel angenäht bekommen hat, diesen auf Teufel komm raus auch aufrichten können? Ist sie wirklich erst dann ein Mann, wenn sie die vielzitierte Manneskraft besitzt? Die Frage, ob denn jeder koitieren müsse, hat kürzlich das Eidgenössische Versicherungsgericht erörtert, seitenlang, und die Antwort lautet: Ja. ‹Eine Umwandlung zum Mann erscheint erst dann vollständig, wenn auch die Erektion möglich ist›, schreibt das Gericht in seinem Urteil.»

B. Am 21. März 2006 beschwerte sich X. beim Presserat über die Kolumne der «NZZ am Sonntag». Mit seinem Text habe Mathias Ninck die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Respektierung der Menschenwürde; Diskriminierung) verletzt. «Transsexualität ist keine sexuelle Orientierung, aber eine Störung der Geschlechtsidentität.» Mit der Gegenüberstellung zu Lifestyleproblemen werde suggeriert, dass auch Transsexualität ein solches sei. Dies geschehe in einer Art und Weise, mit der die Betroffenen lächerlich gemacht würden. Transsexualität sei zudem keine Krankheit, sondern als Störung der Geschlechtsidentität eine Veranlagung. «Nicht die Transsexualität muss behandelt oder therapiert werden, sondern dass dadurch hervorgerufene Leiden.» Schliesslich habe sich der Autor auch bei der Wortwahl (Vergleich des bei der Operation entfernten Gewebes mit schimmligen Joghurts und dreckigen Windeln; «Piepel») vergriffen.

C. Gemäss Art. 9 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates sind offensichtlich unbegründete Beschwerden durch das Presseratspräsidium zurückzuweisen.

D. Das Presseratspräsidium – bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher – hat die vorliegende Stellungnahme per 23. Juni 2006 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 8 der «Erklärung» lautet: «Sie (die Journalistinnen und Journalisten) respektieren die Menschenwürde und verzichten in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben.» Die Richtlinie 8.2 zur «Erklärung» verdeutlicht dazu, dass diskriminierende Anspielungen bestehende Vorurteile gegen Minderheiten verstärken können.

Der Presserat hat in seinen Stellungnahmen zum Diskriminierungsverbot und zur Menschenwürde (vgl. die Stellungnahmen 38/2000, 32/2001, 6/2002, 9/2002, 37/2002 und 44/2003) konstant darauf hingewiesen, dass die abwertende Äusserung gegen eine Gruppe oder ein Individuum eine Mindestintensität erreichen muss, um als herabwürdigend oder diskriminierend zu gelten. Nur dann verletzt sie Ziffer 8 der «Erklärung».

2. Ausgangspunkt der vom Beschwerdeführer beanstandeten Kolumne ist ein Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, das sich zu einer Auseinandersetzung zwischen einer Krankenkasse und einem (offenbar transsexuellen) Versicherten zu äussern hatte. Dabei ging es darum, ob die Implantation einer Penisprothese – mit der mittels einer Pumpe eine Erektion herbeigeführt werden kann – zu den durch die Kasse zu übernehmenden Versicherungsleistungen gehört. Im Lichte der Meinungsäusserungs- und Kommentarfreiheit ist es ohne weiteres zulässig, das den Versicherungsanspruch bejahende Gerichtsurteil kritisch zu hinterfragen und dabei gedanklich über den konkreten Sachverhalt hinaus den Bogen zu – zumindest nach Auffassung des Autors – vergleichbaren Fällen von «Identitätsstörungen» zu ziehen.

Entgegen der Behauptung von X. suggeriert die Kolumne von Mathias Ninck damit keineswegs, Transsexualität sei ein «blosses Lifestyleproblem». Vielmehr führt der Text wörtlich aus, Transsexualität sei als Krankheit ernst zu nehmen und entsprechend dürften die Betroffenen nicht bloss lächerlich gemacht werden.

Nachdem er zuvor moniert hatte, Ninck würdige die Transsexualität als blosses Lifestyleprolem herab, wirkt der Beschwerdeführer widersprüchlich, wenn er weiter kritisiert, dass der Kolumnist die Transsexualität fälschlicherweise als Krankheit anstatt korrekterweise als Veranlagung bezeichne. Ungeachtet dieser vom Presserat nicht zu entscheidenden und offenbar in Fachkreisen nicht unumstrittenen Frage, stellt X. damit überzogene Ansprüche an die Präzision der (medizinischen) Ausdrucksweise in einem journalistischen Alltagstext. Der Presserat hat bereits in der Stellungnahme 28/2000 darauf hingewiesen, dass bei tagesaktuellen Medien keine wisssenschaftliche Präzision bei der Verwendung von fachspezifischen Begriffen erwartet werden darf. Zudem ist dem Beschwerdeführer entgegenzuhalten, dass die Diagnose «Transsexualismus» immerhin Aufnahme in die internationale Klassifizierung der Krankheiten durch die WHO (ICD – 10) gefunden hat, mithin die Einstufung als Krankheit oder krankheitswerter Zustand zumindest vertretbar erscheint.

3. Die von X. weiter kritisierte «verfehlte Wortwahl» von Mathias Ninck verstösst ebenso wenig gegen Ziffer 8 der «Erklärung», bezieht sich doch das Bild mit den «schimmligen Joghurts und dreckigen Windeln» nicht nur auf den Transsexualismus. Vielmehr wirft der Kolumnist damit die für medizinische Laien schwierige Frage auf, wie eigentlich «Abfälle» bei chirurgischen Operationen entsorgt werden. Und schliesslich würdigt auch die Verwendung des norddeutschen Synonyms für Penis, «Piepel» (kleiner Junge), die «Transsexuellen» nicht als Minderheit herab.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.