Nr. 4/2000
Quellenkritik bei der Kriegsberichterstattung

(G. c. Bluewindow) Stellungnahme des Presserates vom 9. Februar 2000

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I. Sachverhalt

A. Der Online-Nachrichtendienst von Bluewindow verbreitete am 19. November 1999 die Meldung, dass russische Kampfflugzeuge ihre Angriffe „gegen Stützpunkte moslemischer Rebellen in der abtrünnigen Kaukasus-Republik Tschetschenien“ fortgesetzt und dabei „rund 150 Moslem-Rebellen getötet“ hätten. Dies habe die Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf das Hauptquartier der russischen Kaukasus-Streitkräfte in Mosdok berichtet. Bluewindow stützte sich dabei auf eine Meldung der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA).

B. G. reichte beim Presserat gegen Bluewindow Beschwerde ein, weil seiner Meinung nach die Übernahme der Sichtweise und Sprachregelung einer Kriegspartei, die schwere Menschenrechtsverletzungen begehe, die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Unabhängigkeit des journalistischen Berufes) und 3 (Abstützung auf bekannte Quellen) der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletze.

C. Der Presserat überwies die Beschwerde seiner 1. Kammer, der Roger Blum als Präsident sowie Sylvie Arsever, Sandra Baumeler, Esther Maria Jenny, Enrico Morresi und Edy Salmina als Mitglieder angehörten. Die Kammer beschloss an ihrer Sitzung vom 9. Februar 2000, auf die Einholung einer Stellungnahme der betroffenen Medien zu verzichten und die Beschwerde abzuweisen. Ihr lag ein Briefwechsel zwischen S. und der SDA vor.

II. Erwägungen

1. Medienschaffende sind gemäss dem berufsethischen Kodex gehalten, nur Informationen zu veröffentlichen, deren Quellen ihnen bekannt sind. Dies heisst aber bei Korrespondenzen nicht, dass einer Redaktion die Ursprungsquelle bekannt sein muss. Die Redaktion muss lediglich ihre direkte Quelle einschätzen können. Für Bluewindow war in diesem Fall die SDA die Quelle, für die SDA war es vermutlich die Nachrichtenagentur AFP (gemäss Auskunft des Auslanddienstes der SDA handelt es sich beim in der umstrittenen Meldund verwendeten Kürzel „ASE“ um einen Tippfehler), für diese die private russische Agentur Interfax. Interfax wiederum stützte sich auf Aussagen des Hauptquartiers der russischen Kaukasus-Streitkräfte. Jeder nachgeordneten Nachrichtenvermittlerin war die vorherige Quelle bekannt. Dem Publikum wurden alle Quellen bekanntgegeben, so dass die Rezipientinnen und Rezipienten den Weg der Nachricht rekonstruieren konnten.

2. In der Kriegsberichterstattung müssen allerdings die Medien besonders vorsichtig sein, da alle Kriegsparteien immer auch einen Propagandakrieg führen und versuchen, die Medien für ihre Sichtweise zu instrumentalisieren. Da es aber den Medien unmöglich ist, auf allen Kriegsschauplätzen stets mit journalistischen Beobachterinnen und Beobachtern zugegen zu sein – erstens, weil es zu gefährlich ist, und zweitens, weil der moderne Krieg nicht mehr wie weiland bei Sempach oder Murten auf einem einzigen Schlachtfeld ausgetragen wird – , müssen sich Medien oft auf die Aussagen der Kriegsparteien stützen. Dabei gilt es, sie klar als solche zu deklarieren – was in der beanstandeten Meldung der Fall ist – und sie im Laufe des Krieges durch eigene Berichte und Analysen zu ergänzen.

3. Die Beschwerde richtet sich gegen eine einzige Meldung eines einzigen Tages. Oft werden solche Agentur-Meldungen im Laufe des Tages ergänzt, und neue Quellen mit anderen Bewertungen treten hinzu. Nachrichtenagenturen versuchen dann jeweils, in einer zusammenfassenden Tagesmeldung möglichst ausgewogen zu berichten und die verschiedenen Positionen und differierende Tatsachenbehauptungen zu spiegeln. Auch wenn jemand nur die eine Nachricht rezipiert, so ist wichtig, dass diese den Hinweis auf die Quelle enthält, auf die sie sich stützt. Das Schweizer Publikum nimmt im übrigen den zweiten Tschetschenien-Krieg als Summe einer Vielzahl von Berichten wahr – aus mehreren Medien, über eine längere Periode, aus verschiedenen Quellen. Dabei kann nicht gesagt werden, dass die Schweizer Medien einseitig moskaufreundlich berichten. Sie vermitteln kritische Stimmen. Sie zeigen das Elend der tschetschenischen Bevölkerung. Sie sind der Moskauer Sichtweise gewiss nicht hörig.

4. Es trifft sicherlich zu, dass die Formulierung „moslemische Rebellen“ einen tendenziösen Charakter hat. Des einen Rebellen sind des andern Freiheitskämpfer. Aber im Zweifelsfall hält man sich an die staatsrechtliche Struktur, und hier gilt, dass Tschetschenien und Dagestan noch immer zur Russischen Föderation gehören. Wer nicht mehr dazu gehören will, rebelliert. Im übrigen gilt auch hier, dass der Hinweis auf die Hauptquelle jene Bezeichnung rechtfertigt, die in der Hauptquelle benützt worden ist.

III. Feststellungen

Der Presserat weist die Beschwerde ab.