Nr. 11/2006
Pauschalisierender Vorwurf in Leserbrief

(X. c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Presserates vom 23. Februar 2006

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Juni 2005 druckte der «Tages-Anzeiger» auf der Leserbriefseite unter dem Titel «Potentielle Täter» folgenden Leserbrief ab: «Viele Informatiker sind Täter; sie haben beispielsweise Sexualdelikte begangen oder sind verantwortlich für Bluttaten in der eigenen Familie. Meiner Meinung nach ist ihr Gehirn in der Informatiktechnik ausser Kontrolle geraten. Bekanntlich bedienen sich Informatiker des Kokses. Das steigert die Fantasie, und sie können effizienter und kreativer programmieren. Kein Wunder, wenn bei Leuten, die tagaus, tagein Zugriff auf alles haben, was die Welt im Internet anbietet, die Fantasie-Sicherungen durchbrennen. Ich bin überzeugt, dass es Aufsichtsorgane für Informatiker braucht, die mögliche Täterschaften frühzeitig aus dem Verkehr ziehen.»

B. Gleichentags gelangte X. mit einer Beschwerde gegen den Abdruck dieses Leserbriefes an den Presserat. Der «Tages-Anzeiger» habe mit der Veröffentlichung des Textes von Y. gegen die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Diskriminierung; Respektierung der Menschenwürde) verstossen und die Ehre der «grossen, heterogenen» Bevölkerungsgruppe der Informatiker verletzt.

C. Mit Stellungnahme vom 15. Juli 2005 beantragte die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion des «Tages-Anzeigers», die Beschwerde sei abzuweisen. Im Nachhinein sei zwar einzuräumen, dass man darüber diskutieren kann, ob undifferenzierte pauschalisierende Texte dieser Art publiziert werden sollten. Eine Verletzung der Ziffer 8 der «Erklärung» sei aber zu verneinen. Weder habe der Leserbriefautor geschrieben, alle Informatiker seien Sexualtäter, noch werde diese Berufsgruppe durch Ziffer 8 des Journalistenkodex vor Diskriminierung geschützt.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Presseratspräsidenten Peter Studer und den beiden Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher hat die vorliegende Stellungnahme per 23. Februar 2006 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 8 der «Erklärung» lautet: «Sie (die Journalist/innen) respektieren die Menschenwürde und verzichten in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben.» Gemäss der Richtlinie 8.1 zur «Erklärung» hat sich die Informationstätigkeit an der Achtung der Menschenwürde zu orientieren. «Sie ist ständig gegen das Recht der Öffentlichkeit auf Information abzuwägen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der direkt betroffenen oder berührten Person als auch gegenüber der Öffentlichkeit.»

2. Der Beschwerdeführer sieht Ziffer 8 der «Erklärung» und die Richtlinie 8.1 durch die Veröffentlichung der generalisierenden Behauptung eines Leserbriefschreibers verletzt, «viele» Informatiker» seien Sexualtäter. Der Beschwerdeführer übersieht dabei allerdings, dass die Berufsgruppe der Informatiker als gesamte Gruppe nicht zu den durch Ziffer 8 der «Erklärung» vor Diskriminierung zu schützenden Minderheiten gehört. Ebenso wenig werden durch den Leserbrief bestimmte individualisierbare Personen verunglimpft oder in ihrem Menschsein herabgewürdigt (Stellungnahme 1/2005). Hinzu kommt, dass die These des Leserbriefschreibers für die Leserinnen und Leser als offensichtlich abstrus erkennbar ist. Eine Verletzung der vom Beschwerdeführer angerufenen Ziffer 8 der «Erklärung» fällt unter diesen Umständen von vornherein ausser Betracht.

3. Auch wenn die Beschwerde abgewiesen wird, ist es trotzdem wünschenswert, wenn professionelle Redaktionen bei der Bearbeitung von Leserbriefen darauf achten, ihrer Leserschaft nicht jeglichen vorurteilsträchtigen Unsinn zuzumuten.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird abgewiesen.