Nr. 4/2006
Kommentarfreiheit

(X. c. «NZZ am Sonntag») Stellungnahme des Presserates vom 20. Januar 2006

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I. Sachverhalt

A. In der Ausgabe vom 7. August 2005 veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» in der Rubrik «Meinungen» einen Beitrag mit dem Titel «Ein Trostpflästerchen fürs Volk» und dem Untertitel «Wieso der Bund lieber Jodtabletten gegen Atomunfälle statt Wirkstoffe gegen die Vogelgrippe verteilt». Beda M. Stadler, Professor für Immunologie an der Universität Bern, kritisiert in seinem Text das Risikoverständnis der «offiziellen Schweiz» im Zusammenhang mit der Vogelgrippe. Während der Bevölkerung im Umkreis von zwanzig Kilometern eines Kernkraftwerks für den nicht wahrscheinlichen Fall eines Unfalls ungefragt Jodtabletten verteilt werden, gelte für die Vogelgrippe ein ganz anderes Risikoverständnis, obwohl es hier nicht darum gehe, «ob etwas passiert, sondern nur darum, wann es passiert». Deshalb wäre es gemäss Stadler durchaus sinnvoll – wenn politisch auch wenig wahrscheinlich – das gegen Vogelgrippe wirksame Medikament Tamiflu an die Haushalte zu verteilen. «Sollte es trotzdem zu einer behördlichen Gratisabgabe von Tamiflu kommen, dann bitte nur an Leute, die sich kürzlich gegen Grippe haben impfen lassen. Das unmutierte Vogelgrippevirus ist nämlich harmlos. Es mutiert nur in Menschen zur tödlichen Gefahr, die zugleich eine Grippe haben. Das sind bekanntlich Leute, die sich nicht impfen lassen. Diesen impfkritischen Eltern und Ärzten sollte man also Tamiflu teuer verrechnen, schliesslich sind sie eine Gefahr für die Öffentlichkeit, die weit über die Gefahr eines Atomkraftwerks hinausgeht.»

B. Am 10. August 2005 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen die «Betreuer des Faszikels ‹Hintergrund›» an den Presserat. Diese hätten gegen die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Respektierung der Menschenwürde; Diskriminierung) verstossen, weil sie es unterlassen hätten, den Text von Beda M. Stadler so zu redigieren, «dass sie die Menschenwürde der von ihm angegriffenen Personen nicht tangieren». Der Berner Immunologieprofessor Stadler nehme in der «NZZ am Sonntag» regelmässig zu medizinischen Fragen Stellung. «Stadler ist für seine rhetorischen Ausfälligkeiten gegenüber Andersdenkenden bekannt. Man mag sie darum vielleicht auch nicht mehr so ernst nehmen und seine Tiraden zum alltäglichen journalistischen Hokuspokus werfen.» Mit der in der «NZZ am Sonntag» vom 7. August 2005 veröffentlichten Aussage, «impfkritische Eltern und Ärzte seien eine Gefahr für die Öffentlichkeit, die weit über die eines Atomkraftwerks hinausgeht» stelle sich aber die Frage, «wie weit man als Kolumnist unter der Rubrik ‹Meinungen› gehen darf». Nach ihrer Auffassung komme das Recht auf Menschenwürde auch Alternativmedizinern zu.

C. Gemäss Art. 9 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates sind offensichtlich unbegründete Beschwerden durch das Presseratspräsidium zurückzuweisen.

D. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Presseratspräsidenten Peter Studer und den beiden Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher hat die vorliegende Stellungnahme per 20. Januar 2006 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerdeführerin rügt zu Recht nicht, Beda Stadler selber habe mit seinem Text die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt, sondern beanstandet vielmehr die aus ihrer Sicht berufsethisch ungenügende redaktionelle Bearbeitung. Die berufsethische Verantwortung der Medienschaffenden erstreckt sich auch auf die Bearbeitung von Kolumnen. Auch wenn es der Sinn von Kolumnen ist, dass sie originelle, authentische, auch von der Redaktion abweichende Stimmen in ein Medium einbringen, hat die Redaktion dennoch dafür zu sorgen, dass sich auch diese Texte innerhalb der fundamentalen journalistischen Standards bewegen. Ähnlich wie bei Leserbriefen ist jedoch bei Kolumnen eine Beschränkung der inhaltlichen Prüfung durch die Redaktion auf offensichtliche Verstösse gegen berufsethische Regeln angezeigt (Stellungnahmen 43/2000, 17/2001, 33/2003).

2. Mit anderen Worten ist bei der Kolumne von Beda Stadler zu prüfen, ob der Immunologe mit seinem Vergleich zwischen den Risiken «Atomkraft» und «Impfkritikern» die Menschenwürde der «Alternativmediziner» in offenkundiger Weise verletzt hat. Nach Auffassung des Presserates ist dies zu verneinen. Zum einen kann der als pointiert kommentierend gezeichnete und erkennbare Text nicht bloss auf das von der Beschwerdeführerin beanstandete Zitat mit dem fragwürdig erscheinenden Vergleich reduziert werden. Bei Einbezug des ganzen Texts wird es für die Leserschaft ersichtlich, dass es dem Autor nicht zentral um eine Verunglimpfung von Personen, sondern vielmehr um eine aus seiner Sicht unverständliche, nicht sachgerechte unterschiedliche Bewertung der Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung zweier gesundheitlicher Risiken und des gesellschaftlichen Umgangs damit geht. Es ist weder Sache des Presserates noch der für die Veröffentlichung des Textes verantwortlichen Redaktion zu prüfen, ob diese Bewertung wissenschaftlich / politisch vertretbar ist oder nicht. Jedenfalls ist aber nach der heutigen Rechtslage in der Schweiz das Betreiben von Atomkraftwerken (vorbehältlich der dazu notwendigen staatlichen Bewilligungen) ebenso erlaubt wie die freie Wahl, sich gegen Grippe impfen zu lassen oder nicht, gewährleistet ist. Entsprechend ist der Vorwurf, die gemäss ihrem freien Willen und ihrer Überzeugung handelnden Impfgegner stellten eine über die legalen Atomkraftwerke hinausgehende «öffentliche Gefahr» dar, von vornherein nicht als derart schwer zu bewerten, dass er die Menschenwürde der davon Betroffenen offensichtlich zu verletzen vermöchte. Denn Stadler verunglimpft damit weder individualisierbare Personen noch würdigt er solche in ihrem Menschsein herab. Und ebenso wenig gehören die Alternativmediziner bzw. die impfkritischen Eltern und Ärzte zu den durch Ziffer 8 der «Erklärung» vor Diskriminierung zu schützenden Minderheiten.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.