Nr. 27/2014
Identifizierung / Berichtigung

(X. c. «Schweiz am Sonntag»): Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 16. Oktober 2014

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Oktober 2013 berichtete Christof Moser in der «Schweiz am Sonntag» (damals noch «Der Sonntag») auf der Frontseite unter dem Titel «Grenchen: Filz-Vorwürfe gegen den neuen Stadtpräsidenten» sowie auf Seite 4 unter dem Titel «Heikles Urteil als Richter: Vorwürfe gegen Grenchens neuen Stadtpräsidenten» sowie dem Untertitel «François Scheidegger sprach einen Randalierer frei, dessen Eltern ihn als Kandidaten fürs Stadtpräsidium unterstützten» über Vorwürfe gegen den vor Kurzem zum Stadtpräsidenten von Grenchen gewählten François Scheidegger. Danach soll dieser als Richter einen 36-jährigen Grenchner freigesprochen haben, der im August 2011 in seiner Wohnung heftigst randaliert hatte und dabei einen der Polizisten der vierköpfigen Einsatztruppe so schwer am Knie verletzte, dass dieser bis heute nur im Innendienst tätig sein kann. Der Freigesprochene sei jedoch nicht irgendwer, sondern der Sohn des Ehepaars L*., die im Wahlkampfkomitee massgeblich für die Wahl des Richters trommelten. Just einen Tag nach dem Freispruch ihres Sohnes hätte das Ehepaar ein flammendes Plädoyer für Kandidat Scheidegger veröffentlicht. Definitiv zur Provinzposse werde der Fall, wenn man wisse, dass auch der Verteidiger des Angeklagten Mitglied im Wahlkampfkomitee war. Die «Schweiz am Sonntag» fragt: «Hätte Scheidegger angesichts dieser Verquickungen den Fall nicht wegen Befangenheit abgeben müssen?» Scheidegger selbst kommt in Bezug auf diesen Vorwurf zu Wort. Der Artikel schliesst mit der Bemerkung: «Ob Richter Scheidegger in diesem Fall das nötige Fingerspitzengefühl fehlte, dürfte trotzdem noch zu reden geben.»

B. Am 29. Oktober 2013 beschwerte sich der anwaltlich vertretene, im erwähnten Strafverfahren freigesprochene X. über den Artikel der «Schweiz am Sonntag». Entgegen der üblichen Praxis habe der Journalist seinen Namen nicht anonymisiert, sondern den Anfangsbuchstaben des Familiennamens genannt, sodass seine Identität ohne Weiteres verifiziert werden konnte. Der Beschwerdeführer macht zudem geltend, er werde im genannten Bericht auch zu Unrecht als «Randalierer» bezeichnet, obwohl es sich um einen einmaligen Vorfall gehandelt habe. Zu Unrecht werde die Gerichtsverhandlung als Provinzposse bezeichnet, weil der Verteidiger im Unterstützungskomitee des Gerichtspräsidenten als Kandidat für das Stadtpräsidium gesessen haben soll. Der Bericht stütze sich auf unrichtige Behauptungen und führe den Leser irre, womit der Verfasser bezwecke, ein eigentliches Komplott zwischen der beschuldigten Person, seinem Verteidiger und dem urteilenden Richter zu konstruieren. Der Beschwerdeführer verweist zudem auf ein gleichentags von seinem Anwalt an die «Schweiz am Sonntag» verschicktes Schreiben. Darin führt letzterer aus, warum er den Verfasser des Artikels telefonisch nicht erreicht hat. Im Zeitpunkt des Urteils sei er noch gar nicht im Unterstützungskomitee vertreten gewesen, sondern er sei diesem erst am 9. September 2013 beigetreten. Er erwarte eine umgehende Entschuldigung und Berichtigung der Berichterstattung, da dem Beschwerdeführer implizit vorgeworfen werde, er habe den Freispruch durch die Tätigkeit seiner Eltern im Komitee erschlichen. In seiner ergänzenden Beschwerdebegründung vom 6. November 2013 macht er geltend, der Bericht verletze Ziffer 1 und 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie die Richtlinien 2.3, 3.8, 7.2 und 7.4 zur «Erklärung». Der Bericht versuche die Integrität des Gerichtspräsidenten mittels Halbwahrheiten zu beschädigen und verletze die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers. Dieser werde durch die sachlich unnötige Preisgabe seiner Identität in der Stellensuche massiv behindert. Der Bericht verschweige zudem die prozessuale Ausgangslage der Verhandlung vom 28. August 2013, womit wahrheitswidrig suggeriert werde, der Freispruch sei auf unlautere Weise zustande gekommen.

C. Am 10. Januar 2013 nahm die «Schweiz am Sonntag» zur Beschwerde Stellung. Sie macht geltend, der Name des Beschwerdeführers sei entgegen dessen Aussagen durchaus anonymisiert worden, indem vom Sohne des Ehepaars L*. die Rede war. Auch sei der Begriff Randalierer angebracht gewesen, habe doch eine vierköpfige Einsatztruppe der Kantonspolizei ausrücken müssen. Der Verteidiger des Beschwerdeführers selbst habe gegenüber der Zeitung «Nordwestschweiz» zu Protokoll gegeben, dieser habe seine Wohnung verwüstet und wildes, unverständliches Zeug gerufen. Zudem habe der Autor des Artikels über zwei Tage versucht, den Verteidiger des Angeklagten zu erreichen. Da dies nicht gelungen sei, habe er den Namen des Verteidigers nicht genannt. Der Artikel habe zudem Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung im öffentlichen Interesse liege, zudem gehöre die Kontrolle der Justizbehörden und Gerichte im demokratischen Prozess zu den wichtigsten Aufgaben der Medien, weshalb die Thematisierung dieser Verquickungen zwischen Richter und Angeklagtem von bedeutendem öffentlichem Interesse war.

D. Am 31. Januar 2014 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 16. Oktober 2014 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung der Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7.4 (Verletzung der Unschuldsvermutung und des Resozialisierungsprinzips) geltend macht, so fehlt es der Beschwerde an Substantiierung, weshalb sich der Presserat nicht näher dazu äussert.

2. a) In Bezug auf die gerügte Verletzung von Richtlinie 7.2 (Identifizierung) macht der Beschwerdeführer geltend, sein Name sei nicht anonymisiert, sondern der Anfangsbuchstabe des Familiennamens L. genannt worden, sodass seine Identität ohne Weiteres habe verifiziert werden können, wodurch er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil erlitten habe. Richtlinie 7.2 verlangt, dass Journalisten weder Namen noch andere Angaben veröffentlichen, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu deren Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden, sofern das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung überwiegt. Der Bericht nennt folgende Details: dass es sich um einen 36-jährigen Grenchner handelt, Sohn des Ehepaares L*., die im Wahlkampfkomitee von Scheidegger sassen und am Tag nach dem Freispruch auf der Wahlkampf-Website ein flammendes Plädoyer für Kandidat Scheidegger publizierten. Diese Elemente erlauben offensichtlich keine Identifizierung. Eine Verletzung von Richtlinie 7.2 liegt demnach nicht vor.

3. a) Der Beschwerdeführer sieht auch Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» verletzt. Der Bericht erwecke den Eindruck, der Verteidiger des Beschwerdeführers sei im Zeitpunkt des Urteils im Unterstützungskomitee vertreten gewesen, das zur Wahl von François Scheidegger ins Stadtpräsidium von Grenchen gebildet worden sei. Der Bericht stütze sich auf unrichtige Behauptungen und der Leser werde damit irregeführt. Der Verteidiger habe den Beschwerdeführer an der Verhandlung vom 27. August 2013 vertreten, sei jedoch dem Komitee erst am 9. September 2013 beigetreten. Der Journalist hätte dies gestützt auf die wöchentlich aktualisierte Liste der dem Unterstützungskomitee angehörenden Personen ohne Weiteres feststellen können. Der Besc
hwerdegegner führt dazu aus, der Bericht nenne den Namen des Verteidigers nicht und es sei unbestritten, dass dieser im Wahlkampfkomitee vertreten war.

b) Ziffer 1 der «Erklärung» hält fest, dass sich Journalistinnen und Journalisten an die Wahrheit halten ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und dass sie sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Vorliegend ist nicht bestritten, dass sowohl der Verteidiger des Angeklagten bzw. Beschwerdeführers als auch dessen Eltern Mitglieder des Wahlkampfkomitees für Scheidegger waren. Dies wird im beanstandeten Artikel auch so berichtet. Der Artikel äussert sich nicht zum Zeitpunkt des Beitritts, erklärt diese Mitgliedschaft jedoch als heikel in Bezug auf den erstinstanzlichen Freispruch. Zwar ist durchaus davon auszugehen, dass ein unbefangener Leser von einer Gleichzeitigkeit von Mitgliedschaft im Komitee und freisprechendem Urteil ausgehen konnte. Die Frage des genauen Zeitpunkts des Beitritts zum Unterstützungskomitee ist jedoch letztlich irrelevant, weil sich der Artikel gar nicht dazu äussert. Zudem kann durchaus davon ausgegangen werden, dass der Verteidiger schon vorher mit Scheidegger sympathisierte, zumal sich Verteidiger und Richter flüchtig kannten, wie im Artikel ausgeführt und vom Beschwerdeführer nicht bestritten wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt liegt deshalb keine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» vor.

4. a) Der Beschwerdeführer sieht eine weitere Verletzung der Wahrheitspflicht darin, dass der Bericht die prozessuale Ausgangslage der Verhandlung vom 28. August 2013 verschweige und wahrheitswidrig suggeriere, der Freispruch sei unlauter zustande gekommen. Er begründet dies damit, dass sich der Anwalt des Privatklägers nicht gegen einen Freispruch gewehrt und die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft keinen Schuldspruch beantragt habe.

b) Ob sich der Anwalt des Privatklägers nicht gegen einen Freispruch gewehrt hat und die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft keinen Schuldspruch beantragt hat, ist vorliegend nicht entscheidend, zumal der Beschwerdeführer dafür auch keinen Nachweis erbringt. Der Artikel führt aus, der Beschwerdeführer sei aufgrund eines medizinischen Gutachtens vom Vorwurf der Körperverletzung an einem Polizisten freigesprochen worden. Genugtuung solle der Polizist trotz schlimmer Knieverletzungen nicht erhalten. Gestützt auf diese Ausgangslage wirft der Journalist den Verdacht der Befangenheit auf, da sowohl der Verteidiger des Angeklagten als auch dessen Eltern Mitglieder des Wahlkampfkomitees für Scheidegger waren. Oder anders ausgedrückt: Die Zeitung wirft die Frage auf, ob Richter Scheidegger angesichts dieser Tatsache nicht hätte in den Ausstand treten sollen. Zu diesem Vorwurf kommt Richter Scheidegger zu Wort. Die prozessuale Ausgangslage tut in Bezug auf diese Frage nichts zur Sache, sondern einzig und allein die Frage, ob der Richter die in der schweizerischen Strafprozessordnung genannten Ausstandsregeln eingehalten hat oder nicht. Es gehört zur ureigenen Aufgabe der Medien und ist zudem von öffentlichem Interesse, auf mögliche heikle Konstellationen im Justizbereich hinzuweisen und entsprechende Fragen zu stellen. Dies hat die «Schweiz am Sonntag» vorliegend getan. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht liegt demnach nicht vor.

c) Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, er werde im beanstandeten Bericht zu Unrecht als Randalierer bezeichnet, obwohl es sich um einen einmaligen Vorfall gehandelt habe, so ist festzuhalten, dass es in Bezug auf die Qualifizierung des Beschwerdeführers als Randalierer unerheblich ist, ob es sich um einen einmaligen oder sich wiederholenden Vorfall gehandelt hat. Weitere Elemente hierzu fehlen in der Beschwerdebegründung, weshalb auch diesbezüglich ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht nicht erstellt ist. Was zudem die Bezeichnung der Gerichtsverhandlung als Provinzposse betrifft, so handelt es sich um ein Werturteil, das sich auf nicht bestrittene Fakten abstützt. Dieses Werturteil entzieht sich der Überprüfung durch die Wahrheitspflicht.

5. Liegt kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht vor, so kann die «Schweiz am Sonntag» auch nicht gegen die in Ziffer 5 der «Erklärung» statuierte Pflicht zur Berichtigung verstossen haben.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Die «Schweiz am Sonntag» hat mit dem Artikel «Heikles Urteil als Richter: Vorwürfe gegen Grenchens neuen Stadtpräsidenten» vom 27. Oktober 2013 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.