Nr. 28/2014
Identifizierung / Berichtigung

(X. c. «Bieler Tagblatt»): Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 16. Oktober 2014

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I. Sachverhalt

A. Am 29. Oktober 2013 berichtete Patrick Furrer im «Bieler Tagblatt» unter dem Titel «Zweifel an Scheideggers Unbefangenheit» über Vorwürfe der «Schweiz am Sonntag» (damals noch «Der Sonntag») gegen den vor Kurzem zum Stadtpräsidenten von Grenchen gewählten François Scheidegger. Danach habe sich dieser als Richter bewusst zu einem Fehlurteil verleiten lassen, indem er knapp einen Monat vor dem entscheidenden Wahlgang in Grenchen einen 36-jährigen schizophrenen Grenchner aufgrund eines medizinischen Gutachtens vom Vorwurf der Körperverletzung an einem Polizisten freigesprochen habe. Das Heikle am erstinstanzlichen Freispruch: Sowohl der Verteidiger des Angeklagten als auch dessen Eltern seien Mitglieder des Wahlkampfkomitees für Scheidegger gewesen und hätten ihn mindestens flüchtig gekannt. Die Zeitung «Schweiz am Sonntag» werfe deshalb den Verdacht der Befangenheit auf. Schon einen Tag nach dem Freispruch hätten die Eltern auf der Wahlkampfwebsite Scheideggers ein «flammendes Plädoyer» für den bürgerlichen Kandidaten veröffentlicht. Die Mutter des Angeklagten sei zudem mit dem damals noch regierenden SP-Stadtpräsidenten Boris Banga seit einiger Zeit schon auf Kriegsfuss gestanden. François Scheidegger habe die Frau aus seiner Arbeit als Stadtschreiber gekannt. Gegenüber der «Schweiz am Sonntag» habe er jedoch beteuert, er habe erst am Verhandlungstag gemerkt, dass er die Eltern des Angeklagten kenne. Er sei jedoch nicht mit ihnen befreundet, weshalb weder objektiv ein Ausstandsgrund vorlag, noch er sich in irgend einer Weise befangen fühlte. Das «Bieler Tagblatt» schliesst daraus, abschliessend beantwortet sei die Frage dadurch aber nicht, denn die Schweizerische Strafprozessordnung nenne die Freundschaft oder auch Feindschaft letztlich nur als ein Beispiel für viele Gründe, aufgrund derer eine bei den Strafbehörden tätige Person befangen sein könnte. Da die Kläger in Berufung gingen, werde die Sache jedoch neu verhandelt. Offen bleibe, ob die Klägerschaft das erstinstanzliche Urteil aufgrund der angeblichen Befangenheit aufheben, oder beim Obergericht ein zweites übergeordnetes Urteil erwirken wolle.

B. Am 30. Oktober 2013 beschwerte sich der anwaltlich vertretene, im erwähnten Urteil freigesprochene X. über den Artikel des «Bieler Tagblatt». Offensichtlich habe der Journalist den Bericht der «Schweiz am Sonntag» vom 27. Oktober 2014 «Grenchen: Filzvorwürfe gegen den neuen Stadtpräsidenten» ohne Überprüfung des Wahrheitsgehalts übernommen und noch durch weitere Angaben aus dem persönlichen Umfeld der Eltern des Beschwerdeführers ergänzt. Wie in jenem Bericht habe auch Patrick Furrer fälschlicherweise behauptet, auch der Verteidiger sei im Unterstützungskomitee vertreten gewesen und jeder Leser werde dies so verstanden haben, dass dies im Zeitpunkt des Urteils der Fall gewesen sei. Durch diese weiteren Details gebe der Journalist ohne sachliche Gründe die Identität des Beschwerdeführers preis und füge ihm so enormen Schaden zu. In seiner ergänzenden Beschwerdebegründung vom 6. November 2013 macht er geltend, der Bericht verletze Ziffer 1 und 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie die Richtlinien 2.3, 3.8, 7.2 und 7.4 zur «Erklärung». Der Bericht versuche die Integrität des Gerichtspräsidenten mittels Halbwahrheiten zu beschädigen und verletze die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers. Dieser werde durch die sachlich unnötige Preisgabe seiner Identität in der Stellensuche massiv behindert. Nachweislich falsch sei der Bericht, weil er den Eindruck erwecken soll, der Verteidiger sei im Zeitpunkt des Urteils im Unterstützungskomitee vertreten gewesen. Dies hätte berichtigt werden müssen. Der Bericht verschweige zudem die prozessuale Ausgangslage der Verhandlung vom 28. August 2013, womit wahrheitswidrig suggeriert werde, der Freispruch sei auf unlautere Weise zustande gekommen.

C. Am 2. Dezember 2013 nahm das anwaltlich vertretene «Bieler Tagblatt» zur Beschwerde Stellung. Dessen Argumente finde sich in den Erwägungen.

D. Am 3. Oktober 2013 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 16. Oktober 2014 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung der Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7.4 (Verletzung der Unschuldsvermutung und des Resozialisierungsprinzips) geltend macht, fehlt es der Beschwerde an Substantiierung, weshalb sich der Presserat nicht näher dazu äussert.

2. a) In Bezug auf die gerügte Verletzung von Richtlinie 7.2 (Identifizierung) macht der Beschwerdeführer geltend, seine Identität werde unnötig preisgegeben und der Bericht sei noch durch weitere Angaben über das persönliche Umfeld seiner Eltern ergänzt worden. Dies behindere ihn massiv bei der Stellensuche. Das «Bieler Tagblatt» führt dazu aus, der Autor des Berichts habe ganz bewusst auf Angaben zur Person des Beschwerdeführers verzichtet, die dem Durchschnittsleser dessen Identifizierung ermöglicht hätten. Im Bericht fänden sich weder Angaben zu seinem Namen noch zu seinem genauen Wohnort, seinem Beruf oder seiner Arbeitsstelle. Verzichtet worden sei auch auf die Nennung der Initialen des Beschwerdeführers. Erwähnt sei lediglich, dass es sich um einen 36-jährigen schizophrenen Grenchner handle, was eine Identifizierung nicht erlaube.

b) Richtlinie 7.2 verlangt, dass Journalisten weder Namen noch andere Angaben veröffentlichen, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu deren Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden, sofern das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung überwiegt. Dem Beschwerdegegner ist zuzustimmen, wenn er geltend macht, die Bezeichnung des Beschwerdeführers als «eines 36-jährigen schizophrenen Grenchners» erlaube keine Identifizierung. Auch die Aussage, dass seine Eltern Mitglieder des Unterstützungskomitees von Scheidegger waren und einen Tag nach dem Freispruch auf dessen Wahlkampfwebsite ein flammendes Plädoyer für den Kandidaten veröffentlichten sowie dass die Mutter des Beschwerdeführers mit dem bisherigen Stadtpräsidenten auf Kriegsfuss steht, erlaubt keine näheren Rückschlüsse auf den Beschwerdeführer. Eine Verletzung von Richtlinie 7.2 liegt demnach nicht vor.

3. a) Der Beschwerdeführer sieht auch Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» verletzt. Der Bericht erwecke den Eindruck, der Verteidiger des Beschwerdeführers sei im Zeitpunkt des Urteils im Unterstützungskomitee vertreten gewesen, das zur Wahl von François Scheidegger ins Stadtpräsidium von Grenchen gebildet worden sei. Dies sei nachweislich falsch, habe der Verteidiger den Beschwerdeführer doch an der Verhandlung vom 27. August 2013 vertreten, sei jedoch dem Unterstützungskomitee erst am 9. September 2013 beigetreten, nachdem er den Entschluss dazu am 8. September 2013 gefasst habe. Der Journalist hätte ohne Weiteres abklären können, wann der Verteidiger auf der wöchentlich aktualisierten Liste der dem Komitee angehörenden Personen aufgeführt gewesen sei. Der Beschwerdegegner führt dazu aus, im beanstandeten Bericht werde lediglich berichtet, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers Mitglied dies
es Komitees war und François Scheidegger, der in diesem Verfahren als erkennender Richter amtete, zumindest flüchtig kannte. Das seien aber keine schweren Vorwürfe, zumal dem Verteidiger damit kein Fehlverhalten vorgeworfen werde. Zudem entspreche beides der Wahrheit und werde vom Beschwerdeführer nicht bestritten. Wann der Verteidiger diesem Komitee beigetreten sei, werde im beanstandeten Artikel gerade nicht gesagt. Entsprechend dürfe daraus auch nicht geschlossen werden, es habe damit der Eindruck erweckt werden sollen, er sei bereits im Zeitpunkt des Urteils in diesem Komitee vertreten gewesen. Die Frage des exakten Zeitpunkts des Beitritts zu diesem Komitee spiele gar keine entscheidende Rolle.

b) Ziffer 1 der «Erklärung» hält fest, dass sich Journalistinnen und Journalisten an die Wahrheit halten ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und dass sie sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Vorliegend ist unbestritten, dass sowohl der Verteidiger des Angeklagten bzw. Beschwerdeführers als auch dessen Eltern Mitglieder des Wahlkampfkomitees für Scheidegger waren. Dies wird im beanstandeten Artikel auch so berichtet. Der Artikel äussert sich nicht zum Zeitpunkt des Beitritts, erklärt diese Mitgliedschaft jedoch als heikel in Bezug auf den erstinstanzlichen Freispruch. Zwar ist durchaus davon auszugehen, dass ein unbefangener Leser von einer Gleichzeitigkeit von Mitgliedschaft im Komitee und freisprechendem Urteil ausgehen konnte. Die Frage des genauen Zeitpunkts des Beitritts zum Unterstützungskomitee ist jedoch letztlich irrelevant, weil sich der Artikel gar nicht dazu äussert. Zudem kann durchaus davon ausgegangen werden, dass der Verteidiger schon vorher mit Scheidegger sympathisierte, zumal sich Verteidiger und Richter flüchtig kannten, wie im Artikel ausgeführt und vom Beschwerdeführer nicht bestritten wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt liegt deshalb keine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» vor.

4. a) Der Beschwerdeführer sieht eine weitere Verletzung der Wahrheitspflicht darin, dass der Bericht die prozessuale Ausgangslage der Verhandlung vom 28. August 2013 verschweige und wahrheitswidrig suggeriere, der Freispruch sei unlauter zustande gekommen. Er begründet dies damit, dass sich der Anwalt des Privatklägers nicht gegen einen Freispruch gewehrt und die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft keinen Schuldspruch beantragt habe. Dazu führt der Beschwerdegegner folgendes aus: Der Journalist der «Bieler Tagblatt» habe weder in das Plädoyer des Privatklägers (ein durch die Tat des Beschwerdeführers schwer verletzter Polizist) noch in die Anklageschrift des Staatsanwalts Einblick nehmen können und folglich dazu auch nichts geschrieben. Gegen die These des Beschwerdeführers spreche jedoch, dass der Privatkläger den Entscheid des Amtsgerichts Solothurn-Lebern mittels Berufung ans Solothurner Obergericht zur Neubeurteilung weitergezogen habe. Dies habe der Autor des Artikels vor dessen Publikation überprüft und sich vom Präsidenten des Solothurner Obergerichts bestätigen lassen. Dieser habe dem Autor darüber hinaus auch bestätigt, dass eine Befangenheit von François Scheidegger nicht ausgeschlossen werden könne.

b) Ob sich der Anwalt des Privatklägers nicht gegen einen Freispruch gewehrt hat und die Anklageschrift des Staatsanwaltschaft keinen Schuldspruch beantragt hat, ist vorliegend nicht entscheidend, zumal der Beschwerdeführer dafür auch keinen Nachweis erbringt. Der Artikel führt aus, der Beschwerdeführer sei aufgrund eines medizinischen Gutachtens vom Vorwurf der Körperverletzung an einem Polizisten freigesprochen worden. Genugtuung solle der Polizist trotz schlimmer Knieverletzungen nicht erhalten. Gestützt auf diese Ausgangslage wirft der Journalist den Verdacht der Befangenheit auf, da sowohl der Verteidiger des Angeklagten als auch dessen Eltern Mitglieder des Wahlkampfkomitees für Scheidegger waren. Oder anders ausgedrückt: Die Zeitung wirft die Frage auf, ob Richter Scheidegger angesichts dieser Tatsache nicht hätte in den Ausstand treten sollen. Zu diesem Vorwurf kommt Scheidegger zu Wort. Die prozessuale Ausgangslage tut in Bezug auf diese Frage nichts zur Sache, sondern einzig und allein die Frage, ob der Richter die in der schweizerischen Strafprozessordnung genannten Ausstandsregeln eingehalten hat oder nicht. Es gehört zur ureigenen Aufgabe der Medien und ist zudem von öffentlichem Interesse, auf mögliche heikle Konstellationen im Justizbereich hinzuweisen und entsprechende Fragen zu stellen. Dies hat das «Bieler Tagblatt» vorliegend getan. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht liegt demnach auch unter diesem Gesichtspunkt nicht vor.

5. Liegt keine Verletzung der Wahrheitspflicht vor, so kann das «Bieler Tagblatt» auch nicht gegen die in Ziffer 5 der «Erklärung» statuierte Pflicht zur Berichtigung verstossen haben.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Das «Bieler Tagblatt» hat mit dem Artikel «Zweifel an Scheideggers Unbefangenheit» vom 29. Oktober 2013 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.