Nr. 13/2000
Geschichtsdiskurs über Papst Pius XII.

(V. c. „Tages-Anzeiger“) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 26. April 2000

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I. Sachverhalt

A. Im „Tages-Anzeiger“ vom 22. Oktober 1999 besprach M. unter dem Titel „Päpstliche Komplizenschaft mit Hitler“ das Buch von John Cornwell: „Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat“, das englisch unter dem Titel „Hitler’s Pope“ erschienen war. Die Rezension, der Beweisführung des Buches folgend, schilderte einen Papst, der den Kommunismus bekämpfen, Einfluss über die Ostkirchen gewinnen und sich mit Nationalsozialismus und Faschismus arrangieren wollte und deshalb die Judenverfolgung öffentlich nicht anprangerte.

B. V. reagierte auf die Rezension am 31. Oktober 1999 mit einer ausführlichen Stellungnahme unter dem Titel „Pius XII., Opfer schwerster Verleumdung“, die er als „Gegendarstellung“ bezeichnete und in der er zeigte, dass sich der damalige Papst über die Judenverfolgung sehr wohl empörte, aber auf einen öffentlichen Protest verzichtete, weil er mit Racheakten der Nationalsozialisten gegen Katholiken und Juden rechnen musste. Die Stellungnahme, die der Autor an den amtierenden Chefredaktor Philipp Löpfe sandte, erschien nicht. Die Leserbriefredaktion teilte am 5. November 1999 mit, dass der Text wegen Platzmangels nicht veröffentlicht werden könne. Der Autor wandte sich darauf am 9. November 1999 nochmals an Philipp Löpfe, blieb aber ohne Antwort.

C. Am 1. Dezember 1999 reichte V. beim Presserat eine Beschwerde ein. Er sah durch das Verhalten der Redaktion des „Tages-Anzeigers“ die Gebote der Fairness und der Wahrhaftigkeit als verletzt an. Der Presserat überwies den Fall seiner 1. Kammer, der Roger Blum als Präsident sowie Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli Mazza, Silvana Iannetta, Philip Kübler, Kathrin Lüthi und Edy Salmina als Mitglieder angehören. Er lud die Redaktion des „Tages-Anzeigers“ zur Stellungnahme ein.

D. In seiner Stellungnahme vom 18. Januar 2000 beantragte der Rechtsdienst der TA-Media AG, die Beschwerde sei abzuweisen. Er argumentierte, der Beschwerdeführer mache nicht die Rezension von M. zum Gegenstand seiner Beschwerde, sondern die Tatsache, dass seine eigene Replik nicht abgedruckt worden sei. Dieser Text sei aber viel zu lang und umständlich formuliert und darum für einen Abdruck als Leserbrief ungeeignet gewesen. Für eine Gegendarstellung habe zudem die direkte Betroffenheit des Beschwerdeführers gefehlt. Immerhin habe der „Tages-Anzeiger“ zwei andere kritische Leserbriefe zum Artikel von M. publiziert, in denen teilweise ähnlich argumentiert worden sei wie dies der Beschwerdeführer tue. Somit gehe der Vorwurf, der „Tages-Anzeiger“ missachte den Grundsatz der Ausgewogenheit, ins Leere.

II. Erwägungen

1. Was ist Gegenstand der Beschwerde? Der Presserat äussert sich nicht zu Büchern. Er befasst sich nur mit journalistischen Beiträgen in öffentlichen und aktuellen Medien. Zur Debatte steht demzufolge nicht das Buch von John Cornwell und schon gar nicht die Qualität seiner historischen Recherche und die Stichhaltigkeit seiner Beweisführung. Es kann nicht die Aufgabe des Presserates sein, historische Forschung zu überprüfen. Zur Debatte stehen allein der Charakter der Rezension von M. und der Umgang der Redaktion des „Tages-Anzeigers“ mit einer anderen Sichtweise aus dem Publikum.

2. Was ist die Aufgabe einer Rezension? Es geht darum, ein Buch vorzustellen und kritisch zu würdigen. Neben einer Inhaltsangabe müssten bei einem belletristischen Werk vor allem die Konstruktion, die Sprache, der Stil und die Aussage bewertet werden, bei einem Sachbuch die Richtigkeit, Vollständigkeit und Nützlichkeit, bei einem wissenschaftlichen Werk zusätzlich die Fragestellung, die Methode und die Qualität der Ergebnisse. John Cornwells Buch stützt sich auf historische Quellen und auf Zeugenaussagen, ist aber journalistisch-belletristisch geschrieben. Es ist also kein wissenschaftliches Buch. M. beschränkte sich in seiner Rezension auf den Inhalt, den er zustimmend wiedergab. Er äusserte sich nicht zur Methode und zur Form des Buches. Einwände gegen Cornwells Darstellung brachte er keine vor, ausser, dass er die Erkenntnisse nicht gerade als neu und sensationell bezeichnete. Dass er kommentierend einen Bogen bis zu Papst Johannes Paul II. schlug, ist legitim: Rezensionen sind Meinungsäusserungen. Sie sollen Stellung beziehen – zum Buch und zum Thema.

3. Nicht verwunderlich war, dass eine solche Rezension eines solchen Buches Widerspruch hervorrief, denn die Rolle von Papst Pius XII. zur Zeit des Dritten Reiches ist nach wie vor umstritten. Die Gegenposition hat – unter anderem – V. in seiner Stellungnahme eingenommen. Er hat sie als „Gegendarstellung“ bezeichnet, dabei jedoch offenbar nicht an eine Gegendarstellung im Sinne von Art. 28gff. ZGB gedacht. Denn im Bereich des Gegendarstellungsrechts gibt es keine Gegendarstellungen zu Meinungen, sondern nur zu Sachbehauptungen. Nur dort, wo die Rezension falsche Sachbehauptungen aufgestellt hätte, wäre eine Gegendarstellung im Rechtssinne also möglich. Dabei müsste eine direkte Betroffenheit gegeben sein. Es scheint fraglich, ob das zuständige Gericht das Recht auf Gegendarstellung durch einen Einwohner von Wettingen zu Sachverhalten, die Papst Pius XII. in Rom zur Zeit des Zweiten Weltkriegs betreffen, anerkennen würde. Der Presserat hat über Fragen des Gegendarstellungsrechts aber ohnehin nicht zu befinden. Er könnte einer Redaktion höchstens dazu raten, eine Gegendarstellung abzudrucken. Grösser ist der Spielraum bei Leserbriefen. Sie können alles enthalten: Meinungen, Sachverhaltsdarstellungen, Gefühle.

4. Redaktionen sind nicht verpflichtet, Leserbriefe zu publizieren (vgl. zuletzt die Stellungnahme i.S. B. c. „La Liberté“ vom 1. Oktober 1999, Sammlung 1999, S. 154 ff.) Sie sollen sich bei der Bearbeitung von Leserbriefen zwar an die berufsethischen Regeln halten. So sind z.B. Leserbriefe, die offensichtlich falsche Aussagen enthalten, zurückzuweisen und offensichtliche Falschinformationen in Leserbriefen, die erst nach der Publikation bemerkt werden, nachträglich zu berichtigen. Weiter sind Leserbriefe zu kürzen, wenn dadurch die Veröffentlichung ehrverletzender Passagen verhindert wird (vgl. u.a die Stellungnahmen i.S. Rassistische Leserbriefe vom 15. Dezember 1999, Sammlung 1999, S. 174ff., i.S. Umgang mit Leserbriefen vom 16. Dezember 1999, Sammlung 1999, S. 183ff., i.S. B. c. „Tages-Spiegel-Zeitungen“ vom 9. Februar 2000 sowie i.S. W. c. „Coop-Zeitung“ vom 30. März 2000). Die Redaktionen dürfen aber Leserbriefe, die keinen Platz haben, die bereits publizierte Argumente wiederholen oder die die Grenzen des Anstandes verletzen, mit einem Dutzendbrief zurückweisen. Dadurch, dass der „Tages-Anzeiger“ den Text von V. nicht als Leserbrief veröffentlicht hat, hat er gegen keine Bestimmung des berufsethischen Kodex verstossen.

5. Es fragt sich allerdings, ob gerade der Diskurs in einer so umstrittenen Frage wie der Rolle von Papst Pius XII. zur Zeit des Dritten Reiches unterbunden werden soll. Der Hinweis darauf, dass die Debatte 1963 schon geführt worden sei, als Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ die Gemüter erhitzte, würde nicht genügen, denn das abschliessende Urteil stand damals aus und zudem hat jede Generation neu Anrecht auf Klärung der Vergangenheit. Schon eher sticht der Einwand, dass der „Tages-Anzeiger“ als Reaktion auf die Buchbesprechung von M. bereits einen Leserbrief mit der Gegenposition veröffentlicht hat und dass auch V. bereits zwei Leserbriefe veröffentlichen konnte, die direkt (am 13. Mai 1998) oder indirekt (am 27. März 1999) die Rolle von Papst Pius XII. behandelten. Der öffentliche Geschichtsdiskurs zu diesem Thema findet also statt, wenn auch vielleicht nicht so breit und so bewusst journalistisch moderiert, wie es aus Sicht des Beschwerdeführers dem Thema angemessen wäre. Generell ist darauf hinzuweisen, dass der Geschichtsdiskurs davon lebt, dass sich n
eben den Medienschaffenden auch andere Akteure des öffentlichen Lebens sowie Experten und wache Bürger in die Debatte einschalten können. Es wäre deshalb im Interesse der Wahrheitsfindung wünschenswert, wenn die Medien diesen Diskurs bewusst vorantrieben und moderierten, indem sie die verschiedenen Positionen zum Zuge kommen lassen und so ihrer Artikulationsfunktion gerecht werden.

III. Feststellungen

1. Der Diskurs über dunkle und umstrittene Phasen der Geschichte ist nicht nur eine Angelegenheit der Historikerinnen und Historiker, sondern auch eine Aufgabe der Medien, denn diese „lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren“ (Ziff. 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“). Medien könnten diesen Diskurs noch bewusster, planvoller und intensiver pflegen.

2. Der „Tages-Anzeiger“ hat das vernichtende Buch von John Cornwell über die Rolle von Papst Pius XII. gegenüber der Judenverfolgung der Nationalsozialisten zustimmend rezensiert, aber einen Leserbrief mit einer Gegenposition prominent abgedruckt. Er hat darum keine Bestimmung des berufsethischen Kodex verletzt, als er eine weitere – umfangreiche – Replik als Leserbrief ablehnte. Die Beschwerde wird dementsprechend abgewiesen.