Nr. 4/1996
Berichterstattung über ein umstrittenes Adoptionsverfahren

(Hanimägi und Co. c. 'Stadt-Anzeiger Opfikon-Glattbrugg'), vom 30. Juni 1996

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Stellungnahme

Berichterstattung über ein umstrittenes Adoptionsverfahren

Aus dem Anspruch der Öffentlichkeit auf Kenntnis von Tatsachen und Meinungen ist die berufsethische Pflicht abzuleiten, über ein umstrittenes Adoptionsverfahren zu berichten. Eine solche Berichterstattung hat allerdings insbesondere dem Anspruch der Betroffenen auf Wahrung ihrer Privatsphäre angemessen Rechnung zu tragen und bedarf einer besonders sorgfältigen und umfassenden Recherche.

Die Veröffentlichung von als „Gerüchte“ gekennzeichneten Fakten verstösst gegen die Pflicht zur Vollständigkeit der Information, sofern die Betroffenen vor der Veröffentlichung nicht angehört werden. Eine kurzfristige Abwesenheit einer Auskunftsperson einer Behörde kann nicht als Vorwand genommen werden, unvollständige Informationen weiterzuverbreiten, sofern ein kurzer Aufschub der Publikation zumutbar erscheint.

Prise de position

Compte-rendu concernant une procédure d’adoption contestée

Du point de vue de l’éthique professionnelle, le devoir de rapporter sur une procédure d’adoption contestée découle du droit du public à être informé sur des faits et des opinions. Un tel compte-rendu doit bien entendu tenir compte de manière appropriée du droit des personnes concernées au respect de leur sphère privée et présuppose des recherches particulièrement minutieuses et complètes. La publication de faits qualifiés de „rumeurs“ contrevient à l’obligation de publier une information complète dans la mesure où les personnes concernées n’ont pas été consultées avant publication. L’absence de courte durée de la personne autorisée par une autorité à donner une information ne peut pas servir de prétexte à la diffusion des informations incomplètes, dans la mesure où un léger report de la publication paraît raisonnable.

Presa di posizione

Una procedura di adozione controversa

Il giornalista ha il diritto di riiferire su una controversa procedura di adozione, poiché il pubblico ha il diritto di venire a conoscenza di fatti e opinioni. Un servizio di questa natura deve però tener conto del diritto degli interessati alla protezione della loro sfera privata e richiede un’indagine particolarmente ampia e accurata.

Render noti determinati fatti presentati tuttavia solo come „voci“ viola il dovere a un’informazione completa se l’interessato non è stato interpellato prima della pubblicazione. La temporanea assenza del portavoce di un’autorità non è una scusante se le informazioni divulgate risultano incomplete, quando si possa ragionevolmente pretendere un breve rinvio della pubblicazione.

I. Sachverhalt

A. Am 20. Oktober 1994 erschien im öffentlichen Publikationsorgan der Stadt Opfikon, dem „Stadt-Anzeiger Opfikon-Glattbrugg“ (im folgenden als „Stadt-Anzeiger“ bezeichnet) unter dem Titel „Sozialgeldempfänger will Asylanten adoptieren“ ein Beitrag von Theophil Maag über „Gerüchte“ im Zusammenhang mit einem Adoptionsfall. Der Opfiker, der das Gesuch um Adoption gestellt hatte, wurde unter Angabe seiner Initialen als „alleinstehender, gehbehinderter Sozialgeldbezüger älteren Jahrgangs“ geschildert, der angeblich ein zwanzigjähriges Mädchen adoptieren will, das er – um mehr Erfolg für sein Gesuch zu haben – als magenkranken Jüngling deklariert habe. Adoptieren wolle der Gesuchsteller A.L. einen „knapp mündigen“, 1989 mit den Eltern eingereisten Asylbewerber, der „wenige hundert Meter von der Wohnung des A.L. entfernt“ wohne. Das „Adoptionskind“ wurde im „Stadt-Anzeiger“ als Asylbewerber beschrieben, der nicht auf die Beziehung zu seinen immer noch in Glattbrugg wohnhaften Eltern verzichten wolle, aber mit der Adoption sich von den ihm bezüglich den Beschäftigungsmöglichkeiten auferlegten Fesseln befreien wolle.

Die Opfiker Vormundschaftsbehörde habe das Gesuch um Adoption zuerst zwar abgelehnt. Dieser Entscheid sei vom Bezirksrat in der Folge aber umgestossen worden. Theophil Maag kritisierte in seinem Artikel, dass der Bezirksrat den „wie es dem gesunden Volksempfinden scheint völlig zu recht erfolgten Entscheid“ umkehrte. Er kritisierte weiter, dass die im Zuge seiner Recherchen erfolgten Fragen von allen Behördevertretern unter Berufung auf Persönlichkeitsschutz und Amtsgeheimnis unbeantwortet blieben. Mit dem Hinweis darauf, dass sich der „pflichtbewusste Steuerzahler fragt, wie es möglich ist, dass es einem Sozialgeldempfänger erlaubt wird, zusätzliche unnötige finanzielle Verpflichtungen einzugehen“ rechtfertigte Theophil Maag auf der Titelseite des Stadt-Anzeigers seine in der Öffentlichkeit gestellten Fragen. B. In der Folge wurde die Diskussion über die Adoption im „Stadt-Anzeiger“ weitergeführt. In der Ausgabe vom 17. November 1994 verteidigte sich Fürsorgevorstand Erich Klaus gegen die ihm vorgeworfene Geheimnistuerei unter Hinweis auf das Amtsgeheimnis. Zugleich bedauerte er, dass es „Klienten gibt, welche von sich aus mit der halben Wahrheit an die Öffentlichkeit treten im Bewusstsein, dass die Behörden Stillschweigen bewahren müssen.“ Gleichentags erschien eine Richtigstellung des Stadtpräsidenten von Opfikon, die einerseits auf die Schweigepflicht der Behörde hinwies, andererseits aber auch darauf, dass dem „Stadt-Anzeiger“ (wie den übrigen Medien) bereits eine amtliche Stellungnahme abgegeben worden sei. In der Ausgabe vom 24. November 1994 warf Theophil Maag (nun unter voller Nennung aller Namen) angeblich immer noch unbeantwortete Fragen auf, und der Bezirksrat seinerseits rechtfertige seinen Entscheid und erklärte, weder der Bezirksrat noch die Vormundschaftsbehörde Opfikon könnten „aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und damit des Amtsgeheimnisses“ Auskunft über Details geben. In derselben Ausgabe des Stadt-Anzeigers erklärte Theophil Maag, die Antwort des Opfiker Stadtrates nie erhalten zu haben.

C. Nachdem eine Interpellation der Gemeinderatsfraktionen von SVP, FDP und CVP zum Thema eingereicht worden war, berichtete der „Stadt-Anzeiger“ vom 9. März 1995 über die Diskussion der Interpellation im Gemeinde-parlament. An der entsprechenden Sitzung habe der Stadtrat erklärt, er habe „mangels Nachweises von schwerwiegenden Mängeln“ beschlossen, den Entscheid des Bezirksrates nicht anzufechten. Diese Antwort des Stadtrates bezeichneten die Interpellanten als unbefriedigend. EVP-Gemeinderätin Désirée Hanimägi ihrerseits kritisierte die Interpellation und die Artikel im „Stadt-Anzeiger“ als „niveaulos“.

D. Mit Schreiben vom 17. Juli 1995 gelangten Désirée Hanimägi und Priska Brülhart u.a mit der Frage an den Presserat, ob Verfahren, die unter Amtsgeheimnis laufen, der Öffentlichkeit preisgegeben werden dürfen, oder ob durch eine solche Veröffentlichung nicht die Privatsphäre der Privatperson verletzt werde. Ferner fragten sie, ob für diese Art der Berichterstattung nur der „Stadt-Anzeiger“ die Verantwortung zu tragen habe, oder ob der Stadtrat als Vertreter der Stadt Opfikon als „Grosskunde“ des amtlichen Publikationsorgans nicht ebenfalls zur Verantwortung gezogen werden könne.

E. Dr.Walter Hagger nahm als Rechtsvertreter des „Stadt-Anzeigers“ mit Schreiben vom 22. April 1996 gegenüber dem Presserat dahingehend Stellung, Theophil Maag sei nicht Mitglied des SVJ und „der Presserat ist deshalb weder legitimiert noch zuständig, in einem vereinsinternen Verfahren und nach Vereinsregeln über Nichtmitglieder zu urteilen.“ Zudem gehe es hier einzig um die Interpretation von Rechtsnormen. „Der Entscheid darüber, ob eine Publikation die Privatsphäre und damit die Persönlichkeitsrechte einer Person verletzt, obliegt einzig dem Richter in einem staatlich vorgesehenen Verfahren und gestützt auf geltende Gesetze“. Seine Klientschaft habe „weder gegen Rechtspflichten, noch gegen die Berufsethik verstoss
en.“

F. Das Presseratspräsidium beschloss, den Fall der 3.Kammer des Presserates zur Behandlung zu überweisen. Diese setzt sich aus Kammerpräsident Reinhard Eyer und den Mitgliedern Denis Barrelet, Daniela Fornaciarini, Adi Kälin, Marie-Therese Larcher und Christian Schwarz zusammen.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat in der Vergangenheit bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass er sich ungeachtet der SVJ-Mitgliedschaft der von einem konkreten Fall betroffenen Journalistinnen und Journalisten zu grundsätzlichen berufsethischen Fragen äussert.

2. Gemäss der Präambel der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ leiten sich die Pflichten und Rechte der Medienschaffenden vom Recht der Öffentlichkeit auf Kenntnis der Tatsachen und Meinungen ab. Aus der Sicht des Presserates hat die Öffentlichkeit darauf Anspruch, über ein rechtlich umstrittenes Adoptionsverfahren orientiert zu werden. Die entsprechende Information der Öffentlichkeit hat allerdings in einer Art und Weise zu erfolgen, die den tangierten Interessen, insbesondere dem Anspruch auf Wahrung der Privatsphäre der Betroffenen in angemessener Weise Rechnung trägt. Das Schweigen einer Behörde darf Journalistinnen und Journalisten zwar nicht an der Öffentlichmachung von Tatsachen von öffentlichem Interesse hindern, umgekehrt darf eine Informationssperre nicht als Vorwand für einen Verzicht auf umfassende genaue Recherchen genommen werden.

3. Ziff. 7 auferlegt den Medienschaffenden die Pflicht, die Privatsphäre des Einzelnen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Es kann nicht bezweifelt werden, dass die Privatsphäre der Betroffenen durch die Berichterstattung im „Stadt-Anzeiger“ verletzt wurden. Bereits im ersten Artikel vom 20. Oktober 1994 wurden genügend Einzelheiten über Wohnort, Alter, Beruf mitgeteilt, dass in der Kleinstadt eine Identifikation möglich war. In einer späteren Phase der Berichterstattung wurden die Betroffenen dann gar namentlich genannt. Diese Verletzung der Privatsphäre lässt sich nicht mit dem Anspruch der Öffentlichkeit rechtfertigen, über ein umstrittenes Adoptionsverfahren und über die Gefahr der Verschleuderung öffentlicher Gelder informiert zu werden, wäre doch eine dem Anspruch auf Respektierung der Privatsphäre Rechnung tragende Berichterstattung ohne weiteres möglich gewesen. Soweit in der Berichterstattung des „Stadt-Anzeigers“ über die Identifikation und Namensnennung hinaus weitere die Privatsphäre oder gar die Intimsphäre berührende Tatsachen öffentlich gemacht wurden, sieht sich der Presserat veranlasst, dieses Verhalten als in krasser Weise den berufsethischen Pflichten widersprechend zu rügen.

4. Gemäss Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ veröffentlichen diese nur Informationen, Dokumente und Bilder, deren Quellen ihnen bekannt sind. Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente und Bilder, noch von anderen geäusserten Meinungen. Aus Ziff. 3 der „Erklärung“ ist demnach abzuleiten, dass die berufsethischen Pflichten verletzt werden, wenn blosse „Gerüchte“ veröffentlicht werden, ohne dass vor der Veröffentlichung eine umfassende sorgfältige Recherche seitens der Medienschaffenden erfolgt. Im Fall des „Stadt-Anzeigers“ hätte hierzu auch das Einholen von Informationen bei Behörden und Gegenpartei gehört. Weiter kann die kurzfristige Abwesenheit einer Auskunftsperson der Stadtbehörde jedenfalls dann nicht als Vorwand genommen werden, unvollständige Informationen weiterzuverbreiten, wenn ein Aufschub der Publikation um kurze Zeit zumutbar erscheint. Nach Auffassung des Presserates bestand im vorliegenden Fall keine besondere Dringlichkeit, ging doch offenbar auch der recherchierende Journalist davon aus, dass kaum Chancen für eine erfolgreiche Anfechtung der Entscheids des Bezirksrates bestünden, da eine Lücke im Adoptionsrecht (kein Artikel gegen Scheinadoptionen wie z.B. gegen Scheinehen) vorliege.

Zu einer vollständigen Information der Öffentlichkeit würde u.a. im weiteren gehören, dass es sich bei der Stellungnahme der Opfiker Vormundschafts-behörde nicht wie in der Berichterstattung des „Stadt-Anzeiger“ ungenau wiedergegeben um einen Entscheid, sondern vielmehr um einen Antrag zu Handen des Bezirksrats handelte. Ebenso wäre klarzustellen gewesen, dass es sich beim Adoptierenden um einen IV-Bezüger und nicht um einen Sozialhilfeempfänger handelte, falls die von den Beschwerdeführerinnen diesbezüglich vorgebrachte Kritik zutreffen sollte.

5. Die spezielle Situation des „Stadt-Anzeigers“ als offizielles Publikationsorgan der Stadt Opfikon verlangt aus Sicht des Presserates eine Berichterstattung, welche den verschiedenen Standpunkten Rechnung trägt. Auch wenn aus der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ keine Pflicht zu objektiver und ausgewogener Berichterstattung abgeleitet werden kann, erwartet das durchschnittliche Publikum von einem „offiziellen“ Publikationsorgan kaum eine einseitige Parteiberichterstattung.

III. Feststellungen

Aus diesen Gründen hält der Presserat fest:

1. Aus dem Anspruch der Öffentlichkeit auf Kenntnis von Tatsachen und Meinungen ist die berufsethische Pflicht abzuleiten, über ein umstrittenes Adoptionsverfahren zu berichten. Eine solche Berichterstattung hat allerdings insbesondere dem Anspruch der Betroffenen auf Wahrung ihrer Privatsphäre angemessen Rechnung zu tragen und bedarf einer besonders sorgfältigen und umfassenden Recherche.

2. Im konkreten Fall wäre ein dem Anspruch der Respektierung der Privatsphäre Rechnung tragende Berichterstattung ohne weiteres möglich gewesen.

3. Die Veröffentlichung von als „Gerüchte“ gekennzeichneten Fakten verstösst gegen Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“, sofern nicht vor der Veröffentlichung sorgfältig recherchiert und im konkreten Fall die Behörden und die Betroffenen angehört werden. Eine kurzfristige Abwesenheit einer Auskunftsperson einer Behörde kann nicht als Vorwand genommen werden, unvollständige Informationen weiterzuverbreiten, sofern ein kurzer Aufschub der Publikation zumutbar erscheint.