Nr. 8/2000
Anhörung bei schweren Vorwürfen / Identifizierende Berichterstattung

(L. c. „Beobachter“) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 30. März 2000

Drucken

I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel „Mit Rasenmäher und Motorsäge gegen Rentner“ veröffentlichte der „Beobachter“ in seiner Ausgabe 25/99 vom 10. Dezember 1999 einen Artikel über einen Streit zwischen Nachbarn in S. im Kanton Bern. Darin wird die Auseinandersetzung zwischen dem Rentnerehepaar L. sowie dem Nachbarn „Urs Zumstein“ (Pseudonym für L.) aus der Sicht des Rentnerehepaars geschildert . Laut dem Artikel leidet das Rentnerehepaar unter den Schikanen des jungen Nachbarsohnes. Zumstein wird als uneinsichtig, böswillig und als einer, der die Grenzen der legalen Belästigung ausreizt, beschrieben.

B. Am 13. Dezember 1999 verlangte der Beschwerdeführer beim „Beobachter“ den Abdruck einer Gegendarstellung. Die Darstellung im Artikel sei absolut verzerrt. Ihm sei keine Gelegenheit zur Stellungnahme geboten worden. Dies verletze die Sorgfaltspflicht.

C. Am 20. Dezember 1999 gelangte der Beschwerdeführer ein zweites Mal an den „Beobachter“ – da er bis dahin keine Antwort erhalten hatte – und forderte erneut den Abdruck einer im Vergleich zur ersten Version etwas gekürzten Gegendarstellung.

D. Gleichentags wandte er sich an den Presserat. In seiner Beschwerde bemängelte er u.a. , der „Beobachter“ habe ihn trotz schwerwiegender Vorwürfe vor der Publikation des Berichts nicht angehört, den Abdruck einer Gegendarstellung behindert und im Artikel seine Persönlichkeit verletzt. Der Beschwerdeführer behielt sich rechtliche Schritte gegen den „Beobachter“ vor.

E. Das Presseratspräsidium wies den Fall der 3. Kammer zu. Ihr gehören Catherine Aeschbacher als Präsidentin sowie Esther Diener-Morscher, Judith Fasel, Sigmund Feigel, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann als Mitglieder an.

F. Am 15. und 27. Dezember 1999 nahm der „Beobachter“ Stellung zur geforderten Gegendarstellung. Der Abdruck der unterbreiteten Texte wurde unter Hinweis auf die gesetzlichen Anforderungen (Knappheitsgebot, Beschränkung auf Tatsachendarstellungen) abgelehnt. Der „Beobachter“ unterbreitete dem Beschwerdeführer das Angebot, einen eigenen Textvorschlag einer Gegendarstellung auszuarbeiten.

G. In seiner Stellungnahme vom 2. Februar 2000 zur Presseratsbeschwerde wies der „Beobachter“ vorab darauf hin, dass der Presserat gemäss seiner Praxis auf Beschwerden nicht eintrete, wenn die akute Gefahr einer Beeinflussung eines allfälligen Gerichtsverfahrens bestehe. Eine solche Gefahr sei im vorliegenden Fall ohne Zweifel gegeben. Deshalb müsse der „Beobachter“ einstweilen davon absehen, sich zu den einzelnen Vorwürfen des Beschwerdeführers zu äussern. Hinsichtlich des Vorwurfs der Nichtanhörung sei immerhin festzuhalten, dass der Autor des Artikels nicht nur die Nachbarn des Beschwerdeführers angehört, sondern auch unabhängige Personen befragt habe. Eine Reihe von Vorfällen sei zudem durch Fotografien und andere Dokumente belegt. Da die Identität des Beschwerdeführers für den Durchschnittsleser des „Beobachters“ nicht erkennbar gewesen sei, habe eine Anhörung des Beschwerdeführers unterbleiben können. Da eine Anhörung aber unter journalistischen Aspekten zumindest wünschbar gewesen sei, werde der „Beobachter“ in Zukunft in gleichartigen Fällen der Gegenpartei Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben. Hinsichtlich der angeblichen Behinderung der Veröffentlichung einer Gegendarstellung wurde schliesslich auf die Tatsache hingewiesen, dass sich die Parteien über eine Veröffentlichung in der Nummer 3/2000 vom 4. Februar 2000 geeinigt hätten.

H. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an der Sitzung vom 30. März 2000 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Schweizer Presserat kann auf Beschwerden eintreten, auch wenn im Zusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand bereits ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden ist – oder vom Beschwerdeführer vorbehalten wird (Art. 15 Abs. 2 der Geschäftsordnung). Der Presserat tritt bei einem hängigen Gerichtsverfahren dann nicht auf eine Beschwerde ein, wenn er aufgrund einer Interessenabwägung zum Schluss gelangt, dass einerseits die manifeste Gefahr der Beeinflussung eines Gerichtsverfahrens das Interesse des Beschwerdeführers an einer Stellungnahme des Presserates eindeutig überwiegt und sich andererseits – die beiden Voraussetzungen müssen kumulativ gegeben sein – im Zusammenhang mit der Beschwerde keine grundlegenden berufsethischen Fragen stellen (Art. 15 Abs. 3 der Geschäftsordnung).

Vorab ist hierzu festzustellen, dass der 3. Kammer des Presserates im Zeitpunkt der Berurteilung der Beschwerde ein zwischen den Parteien hängiges Gerichtsverfahrens nicht bekannt gewesen wäre. Weiter ist festzustellen, dass sich die Parteien hinsichtlich der umstrittenen Gegendarstellung geeinigt haben. Die Gefahr der Beeinflussung eines allenfalls noch anhängig zu machenden – oder zwischenzeitlich ohne Wissen des Presserates anhängig gemachten – Gerichtsverfahrens kann damit zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden, doch erscheint sie jedenfalls nicht als manifest. Zudem stellen sich im Zusammenhang mit der Beschwerde durchaus berufsethische Fragen von grundsätzlicher Natur. So wirft der „Beobachter“ in seiner Stellungnahme zur Beschwerde implizit die Frage auf, ob von einer unzulässigen identifizierenden Berichterstattung wirklich erst dann die Rede sein kann, wenn die betroffene Person für den sog. Durchschnittsleser eines Mediums erkennbar ist und ob die Einholung der Stellungnahme eines von schwerwiegenden Vorwürfen Betroffenen unter berufsethischen Gesichtspunkten verzichtbar erscheint, wenn der Betroffene für den sog. Durchschnittsleser nicht identifizierbar ist. Da damit die Voraussetzungen von Art. 15 Abs. 3 nicht erfüllt sind, tritt des Presserat auf die Beschwerde ein.

2. In seiner Beschwerdeschrift vom 20. Dezember 1999 bittet der Beschwerdeführer den Presserat, „das Vorgehen des ‘Beobachters’ einer kritischen Prüfung zu unterziehen und die erforderlichen Schritte zu unternehmen, dass künftig solche schädlichen widerrechtlichen und böswilligen Publikationen soweit möglich unterbleiben.“ Soweit der Beschwerdeführer damit ein Tätigwerden des Presserates im Sinne der Ausübung einer „Oberaufsicht“, den Erlass von Weisungen oder etwas ähnliches erwartet, ist darauf hinzuweisen, dass dem Presserat keinerlei Sanktionsgewalt zukommt. Die Tätigkeit des Presserates beschränkt sich darauf, Stellungnahmen zu Handen der Parteien und der Öffentlichkeit abzugeben. Soweit der Beschwerdeführer zudem die Unwahrheit der im beanstandeten Medienbericht gegenüber ihm erhobenen einzelnen Vorwürfe geltend macht, ist daran zu erinnern, dass es nicht Aufgabe des Presserates sein kann, den Wahrheitsgehalt einzelner Sachverhaltselemente in einem aufwendigen Beweisverfahren abzuklären. Der Presserat beschränkt sich in seiner nachfolgenden Stellungnahme deshalb auf die Frage der Anhörung (Ziff. 3 und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“), der Identifizierenden Berichterstattung (Ziff. 7 der „Erklärung) sowie der Behandlung des Gegendarstellungsbegehrens (Fairnessprinzip).

3. Gemäss Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ dürfen Journalistinnen und Journalisten keine wichtigen Elemente von Informationen unter-schlagen und weder Tatsachen, Do-kumente, Bilder und Töne noch von anderen ge-äusserte Meinungen entstellen. Laut Ziff. 7 der „Erlärung“ ist die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, sofern das öffentli-che Interesse nicht das Ge-genteil verlangt, und sind sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen.

Der Presserat hat aus diesen Bestimmungen in konstanter Praxis abgeleitet, dass von schwerwiegenden Vorwürfen Betroffene vor Abdruck des entsprechenden Medienbericht mit den Vorwürfen zu konfrontieren sind
und der Leserschaft von der diesbezüglichen Stellungnahme Kenntnis zu geben ist (vgl. zuletzt die Stellungnahme des Presserates vom 9. Februar 2000 i.S. G. c. „CASH“ und die darin angeführten Stellungnahmen).

Hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit einer identifizierenden Berichterstattung ist vorab auf die grundlegende Stellungnahme zur Namensnennung bei der Gerichtsberichterstattung (Stellungnahme vom 7. November 1994, Sammlung 1994, S. 67ff.) hinzuweisen. Danach ist die namentliche Nennung von Betroffenen in den Medien – vorbehältlich von Ausnahmen – zu unterlassen und ebensowenig darf die Umschreibung einer Person oder ihrer Umgebung eine Identifikation erlauben. In seiner Stellungnahme vom 5. August 1997 i.S. A c. „Le Matin“ (Sammlung 1997, S. 68ff.) hat der Presserat präzisierend darauf hingewiesen, dass es der einer Berichterstattung zugrundeliegende Sachverhalt nicht immer erlaube, die Identifikation des Betroffenen vollständig zu wahren, da diese z.B. aufgrund ihrer Funktionen und ihres Berufs für einen kleinen Teils des Publikums trotzdem erkennbar seien.

Der Beschwerdeführer rügt, ihm sei vom „Beobachter“ trotz massiver Vorwürfe keine Möglichkeit zur Stellungnahme geboten worden und die im Artikel vorgenommene Anonymisierung sei völlig ungenügend, da er durch die Nennung von Örtlichkeiten und Nachbarn usw. eindeutig identifizierbar sei.

Zum Vorwurf der Identifizierbarkeit des Beschwerdeführers macht der „Beobachter“ geltend, dieser sei für den Durchschnittsleser des „Beobachters“ nicht erkennbar gewesen, womit den berufsethischen Pflichten genüge getan sei. Hinsichtlich des Vorwurfs der Nichtanhörung wird argumentiert, dass auch unabhängige Personen befragt worden sei. Immerhin wird eingeräumt, dass eine Anhörung unter journalistischen Aspekten zumindest wünschbar gewesen wäre.

Das blosse Abstellen auf einen sog. Durchschnittsleser ist unter berufsethischen Gesichtspunkten unhaltbar. Der Sinn und Zweck der vom Presserat hinsichtlich der Namensnennung und Identifizierbarkeit der Betroffenen empfohlenen Zurückhaltung besteht darin, Eingriffe in die Privatsphäre von Betroffenen soweit möglich zu vermeiden, sofern eine identifizierende Berichterstattung nicht ausnahmsweise, z.B. durch ein überwiegendes öffentliches Interesse, gerechtfertigt werden kann. Die grösste Gefahr einer unnötigen Verletzung der Privatsphäre besteht gerade nicht dann, wenn der Betroffene für den „Durchschnittsleser“ erkennbar ist, sondern vielmehr dann, wenn er in seiner näheren Umgebung identifiziert werden kann. Wenn es dem „Beobachter“ darum ging, einen eskalierenden Nachbarschaftsstreit an einem konkreten Beispiel exemplarisch aufzuzeigen, wäre es durch stärkere Verfremdung (Änderung sämtlicher Namen, Örtlichkeiten usw.) ein leichtes gewesen, eine Identifizierbarkeit des Beschwerdeführers zu verhindern oder auf die nächste Umgebung der Parteien zu beschränken. Diesfalls wäre auch eine Anhörung des Betroffenen grundsätzlich verzichtbar gewesen.

Nachdem die Identität des Beschwerdeführers aufgrund der im Artikel enthaltenen Angaben für die mit den Örtlichkeiten in S. vertrauten Leser des „Beobachters“ ohne weiteres erkennbar bzw. zumindest problemlos rekonstruierbar war, zudem offensichtlich keine Ausnahme gegeben ist, die eine Identifizierbarkeit rechtfertigen würde, hat der „Beobachter“ Ziff. 7 der „Erklärung“ verletzt. Ebenso hat er durch die in diesem Fall zwingende Anhörung des Betroffenen die Ziff. 3 und 7 der „Erklärung“ verletzt.

4. Demgegenüber ist der vom Beschwerdeführer weiter erhobene Vorwurf der Behinderung einer Gegendarstellung zurückzuweisen. Es ist nicht Sache des Presserates sondern diejenige des Zivilrichters, im Streitfall zu prüfen, ob die rechtlichen Voraussetzungen einer Gegendarstellung erfüllt sind. Unter berufsethischen Gesichtspunkten ist im Zusammenhang mit Reaktionen auf Medienberichte nebst der hier nicht zur Diskussion stehenden Frage einer allfälligen Berichtigung (Ziff. 5 der „Erklärung“) in erster Linie zu prüfen, ob der Umgang einer Redaktion mit Reaktionen auf Medienberichte gegen das der „Erklärung“ zugrundeliegende Fairnessprinzip verstösst.

Dazu ist festzustellen, dass der „Beobachter“ auf die beiden Schreiben des Beschwerdeführers vom 13. Dezember und 20. Dezember 1999 trotz der Weihnachtszeit jeweils innert weniger Tage reagiert, dem Beschwerdeführer angeboten hat, selber einen Text einer Gegendarstellung zu redigieren und sich schliesslich mit dem Beschwerdeführer auf den Abdruck einer Gegendarstellung geeinigt hat. Das Verhalten des „Beobachters“ im Zusammenhang mit dem Gegendarstellungsbegehren des Beschwerdeführers kann angesichts dieser prompten und kulanten Reaktionen nicht beanstandet werden.

III. Feststellungen

1. Der Sinn und Zweck der vom Presserat hinsichtlich Namensnennung und Identifizierbarkeit empfohlenen Zurückhaltung besteht darin, Eingriffe in die Privatsphäre nach Möglichkeit zu vermeiden, soweit eine identifizierende Berichterstattung nicht ausnahmsweise, z.B. durch ein überwiegendes öffentliches Interesse, gerechtfertigt ist. Die grösste Gefahr einer Verletzung der Privatsphäre besteht in der Regel dann, wenn ein Betroffener in seiner näheren Umgebung identifizierbar ist. Deshalb kann bei der Prüfung der Frage, ob die Identifizierbarkeit eines Betroffenen zu bejahen ist, bei einer gesamtschweizerisch erscheinenden Zeitschrift nicht auf einen sog. Durchschnittsleser abgestellt werden.

2. Der „Beobachter“ hat die Ziff. 3 und 7 der „Erklärung“ dadurch verletzt, dass er die Identität des Beschwerdeführers ungenügend verschleiert und ihm trotz schwerwiegender Vorwürfe keine Gelegenheit zur einer Stellungnahme eingeräumt hat. Die Beschwerde wird deshalb insoweit gutgeheissen.