Nr. 64/2010
Veröffentlichung anonymer SMS

(X. c. «Oltner Tagblatt»)

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I. Sachverhalt

A. Das «Oltner Tagblatt» (OT) veröffentlicht auf der «Mix-Seite› in der Rubrik «Feedback/SMS» Rückmeldungen aus der Leserschaft, die der Redaktion per SMS übermittelt werden können. Im Disclaimer unter der Rubrik heisst es: «Die Nachricht muss Ihren Vornamen, Namen und ihren Wohnort enthalten. Der Text darf maximal 160 Zeichen enthalten und muss auf Hochdeutsch geschrieben sein. Eine Auswahl davon wird im OT jeweils auf dieser Seite abgedruckt. Mitteilungen, die gedruckt werden, können gekürzt bzw. auf das Wesentliche reduziert werden.»

B. Am 18. August 2010 erschienen in der Rubrik zwei Statements, die sich kritisch zu Spenden für die Flutopfer in Pakistan äusserten:

– «Pakistan ist eine Atommacht, hat für die Bomben Milliarden ausgegeben u. die Regierung sympathisiert mit d. grössten Verbrecherbande der Welt den Taliban u. ich soll Geld dorthin spenden?!»

– «Flut-elend in Pakistan: hätte die korrupte Regierung mal auch etwas für das Volk getan anstatt nur für das eigene Portemonnaie, müssten die Leute jetzt nicht betteln und im Elend ertrinken. Und wer darf das wohl wieder bezahlen? Die westlichen Länder. Ist doch Ehrensache.»

C. Am 19. August 2010 folgte folgendes Feedback von X.:

– «Spenden Pakistan – Der barmherzige Samariter liess den Andersgläubigen halbtot liegen. Und rechnete genüsslich vor, sollen doch die Andersgläubigen spenden (?!). (Übrigens: Nicht jeder Muslim ist Islamist, nicht jeder Christ ist bigott!!). Gezeichnet war dieses SMS mit dem vollen Namen und dem Wohnort von X.

D. Am 20. August 2010 veröffentlichte das «Oltner Tagblatt» zwei anonyme SMS, die auf das Feedback von X. vom Vortag Bezug nehmen:

– «Lieber X.. Vielleicht sollten Sie das Gleichnis vom Samariter nochmals lesen.»

– «Herr Pfarrer X. aus Z. wann spenden sie mal was? Anstatt immer grosse Toene spucken. Lieber selber den Wein drinken gell.»

E. Am 1. und 2. September 2010 wandte sich X. mit einer Beschwerde gegen das «Oltner Tagblatt» an den Schweizer Presserat. Gemäss Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» dürften Medienschaffende keine ungeprüften Informationen veröffentlichen. Zwar würden die in der Rubrik «SMS/Feedback» abgedruckten Beiträge nicht von Journalisten verfasst, aber doch zumindest von der Redaktion ausgewählt. Er sei schon mehrmals in anonymen SMS namentlich erwähnt worden, «immer negativ, oft auch mit Unwahrheiten untermalt».

Er habe versucht, sich mit einem Leserbrief gegen die anonymen Vorwürfe zu verwahren. Sein Text sei jedoch bisher unveröffentlicht geblieben. Darin regt er an, «wenigstens jene anonymen SMS zu retournieren, die andere namentlich nennen».

F. Am 15. September 2010 wies Chefredaktor Beat Nützi namens der Redaktion des «Oltner Tagblatt» die Beschwerde als unbegründet zurück. Anstatt den Leserbrief des Beschwerdeführers abzudrucken, habe die Redaktion entschieden, «das Problem konkret anzugehen und die als berechtigt empfundene Anregung von X. im zentralen Punkt sofort umzusetzen, was mit dem Eintrag einer entsprechenden Bestimmung im Redaktionsmanual geschehen ist».

Gemäss dem geänderten Redaktionsmanual gelte neu folgende Regel bei den Feedbacks auf der «Mix-Seite»: «Wer jemanden namentlich in einem Feedback/SMS attackiert, muss seine Mitteilung zwingend mit dem Namen zeichnen und damit für Betroffene und Leserschaft identifizierbar sein.»

Gerade weil diese Rubrik auch innerhalb der Redaktion immer wieder zu Diskussionen Anlass gegeben habe, sei man nicht unglücklich, dass sich nun auch der Presserat damit beschäftige. «Wir wollen aber die SMS-Rubrik grundsätzlich als offenes und wenig gefiltertes Gefäss für Neckereien, Flirtereien usw. bewahren. Sie ist nämlich bei der Leserschaft sehr beliebt.»

In Bezug auf die konkrete Beschwerde von X. sei eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» zurückzuweisen. «Für die Redaktion ist in jedem Fall rückverfolgbar, woher die SMS stammen. Ebenso sei eine Verletzung von Ziffer 5 der «Erklärung» (Abdruck anonymer Leserzuschriften) zu verneinen. Denn beim Anliegen des Beschwerdeführers gehe es nicht um die Richtigstellung einer Falschmeldung. Vielmehr fühle sich X. in einem verbalen Schlagabtausch beleidigt.

G. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Klaus Lange, Philip Kübler, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

H. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 16. Dezember 2010 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde beruft sich explizit auf die Ziffer 3 der «Erklärung», beanstandet aber in erster Linie den Abdruck von anonymen Leserzuschriften Der Presserat behandelt die Beanstandungen deshalb unter dem Gesichtspunkt der Ziffer 5 der «Erklärung» (Leserbriefe).

2.a) Gemäss der Richtlinie 5.2 (Leserbriefe) zur «Erklärung» gelten die berufsethischen Normen auch für Leserbriefe. «Leserinnen- und Leserbriefe sind vom Autor oder der Autorin zu zeichnen. Sie werden nur in begründeten Ausnahmefällen anonym abgedruckt.»

Der Presserat hat sich bisher in drei Stellungnahmen zur Veröffentlichung von anonymen Leserbriefen geäussert. In der Stellungnahme 53/2007 hielt er fest, der Abdruck von nicht namentlich gezeichneten, anonymen Leserbriefen sei ausnahmsweise zulässig, sofern dafür überzeugende Gründe vorgebracht werden, beispielsweise wenn bei einer namentlichen Publikation mit ernsthaften Nachteilen zu rechnen ist. «Auch wenn es überzeugende Gründe für den anonymisierten Abdruck einer Zuschrift gibt, sind Redaktionen verpflichtet, sorgfältig abzuwägen, ob nicht besser gänzlich auf eine Veröffentlichung zu verzichten ist.»

In der Stellungnahme 55/2007 ergänzte der Presserat: «Das Prinzip der ausnahmsweisen Zulässigkeit des (begründeten) anonymen Abdrucks von Leserbriefen wird überstrapaziert, wenn eine Redaktion zu einem Thema mehrheitlich anonyme Zuschriften veröffentlicht.».

Schliesslich wies der Presserat in der Stellungnahme 20/2010 darauf hin, dass der Abdruck von Leserzuschriften ohne Angabe des Autors nicht im freien Ermessen der Redaktionen liegt. Vielmehr ist er nur in Ausnahmefällen und mit plausibler Begründung zulässig.

b) Die in der zitierten Praxis genannten Gründe für den ausnahmsweisen anonymen Abdruck von Leserzuschriften sind vorliegend kaum gegeben. Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass mit der Entwicklung des Internet und der mobilen Kommunikation in den letzten Jahren neue Formen der Partizipation der Leserschaft entstanden sind. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich der Umgang mit anonymen Feedbacks insbesondere bei Online-Medien wesentlich gelockert.

Für die 1. Kammer stellt sich deshalb die Grundsatzfrage, ob und falls ja inwiefern herkömmliche, briefliche Zuschriften, E-Mails, SMS, User-Kommentare in redaktionell betriebenen Blogs und Online-Foren etc. unter dem Gesichtspunkt der Veröffentlichung von anonymen Zuschriften allenfalls differenziert zu behandeln sind. Nach Auffassung des Presserates kann es berufsethisch jedoch allein auf den Inhalt und nicht darauf ankommen, in welchem Medium, via welchen Informationskanal eine Leserzuschrift veröffentlicht wird. Deshalb ist am Grundsatz der Gleichbehandlung verschiedener Formen von Leserfeedbacks festzuhalten.

c) Andererseits kann sich der Presserat der geschilderten Entwicklung nicht gänzlich verschliessen, weshalb die bisherige Praxis ein Stück weit zu relativieren ist. Zwar hält der Presserat grundsätzlich an der bisher entwickelten, strengen Praxis fest, wonach der anonyme Abdruck von Zuschriften nur in begründeten Ausnahmefällen zulässig ist. Ergänzend zu diesem Grundsatz ist jedoch das Prinzip der Verhältnismässigkeit heranzuziehen.

Danach darf eine Redaktion auch dann Rückmeldungen aus der Leserschaft ohne Angaben von Namen und Ort veröffentlichen, falls sie nach sorgfältiger Prüfung zum Schluss kommt, dass die Anonymität nicht dazu missbraucht wird, um unter ihrem Deckmantel Gerüchte, Unwahrheiten und verletzende Anwürfe zu verbreiten. Entsprechend ist die Nennung des Absenders einer Zuschrift ausnahmsweise auch dann verzichtbar, wenn sie sich weder auf eine Person bezieht noch anderweitig verletzend wirken könnte. Insoweit geht die vom «Oltner Tagblatt» beschlossene neue Regel für anonyme SMS in die richtige Richtung.

d) Bei den vom Beschwerdeführer konkret beanstandeten SMS sind die dargelegten Voraussetzungen für einen anonymen Abdruck allerdings nicht erfüllt. Deshalb stellt der Presserat insoweit eine Verletzung von Ziffer 5 der «Erklärung» fest.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Das «Oltner Tagblatt» hat die Ziffer 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (anonyme Leserzuschriften) verletzt, in dem es in der Ausgabe vom 20. August 2010 zwei anonyme SMS veröffentlichte, die einen anderen Leser angreifen.