Nr. 6/2014
Wahrheitspflicht / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Identifizierung

Maire c. "Weltwoche" Stellungnahme des Schweizer Presserates 6/2014 vom 12. Mai 2014

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel „Frau Zaki braucht wieder Sozialgeld“ berichtet Alex Baur in der Ausgabe Nr. 33 der „Weltwoche“ vom 15. August 2013 über Sozialhilfeleistungen an die Familie von Ali S. Ihm hatte die „Weltwoche“ bereits im Jahr 2007 einen Artikel gewidmet und ihm damals das Pseudonym „Zaki“ gegeben. Dieser Artikel war Ausgangspunkt für eine über Jahre dauernde Berichterstattung über das Thema Sozialmissbrauch und den Fall „Zaki“. In der Ausgabe vom 15. August 2013 nimmt die „Weltwoche“ die Thematik erneut auf. Unter dem Untertitel „An die IV abgeschoben“ schildert Alex Baur, dass die Staatsanwaltschaft Zürich gegen Ali S. ein Strafverfahren wegen Betrugs zu Lasten der Invalidenversicherung eingeleitet hat. In diesem Zusammenhang folgt der vom Beschwerdeführer beanstandete Satz: „Wie aus den Akten des Sozialamtes hervorgeht, erfolgte der Antrag an die IV mit Unterstützung eines gewissen Dr. René Maire in Männedorf. Im Sommer 2006 bekam Ali S. die gewünschte Rente zugesprochen, allerdings nur zu 44 Prozent. Umgehend wurde er beim Amt für Zusatzleistungen (AZL) angemeldet.“

B. Am 22. Oktober 2013 reicht der anwaltlich vertretene Arzt beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die „Weltwoche“ ein. Die Bezeichnung als „eines gewissen Dr. René Maire“ sei eine Herabsetzung. Medienethisch in mehrfacher Hinsicht unzulässig sei die Aussage, er habe den Antrag auf IV unterstützt. Damit werde ihm vorgehalten, er habe durch Beantragung einer IV-Rente zu Gunsten von Ali S. in diesem Fall eine bestimmte Rolle gespielt, und da in der Gesamtwürdigung Herr Ali S. und seine Familie als „Sozialhilfebetrüger“ erschienen, werde mit diesem einen Satz ein Bild von ihm gezeichnet, wonach er sozusagen Beihilfe zum Sozialbetrug begangen habe. Es sei objektiv falsch, dass er einen Antrag an die IV „unterstützt“ habe. Die „Weltwoche“ müsse die Wahrheit ihrer Behauptung belegen, ansonsten nach dem Grundsatz „negativa non sunt probanda“ auf die Behauptung der Unwahrheit abzustellen sei. Es könne nicht angehen, dass der routinemässige Verzicht des Presserats auf ein Beweisverfahren dazu führe, beim Vorwurf des Verstosses gegen Ziffer 1 Pressekodex dem Beschwerdeführer irgendwelche Beweispflichten aufzuerlegen.

Weiter macht der Beschwerdeführer geltend, er sei im Vorfeld nicht angefragt worden. Angesichts des Gesamtzusammenhangs sei der Vorhalt, er habe eine IV-Rente an Ali S. befürwortet, unterstützt, beantragt, wie auch immer vom Leser es genau verstanden werde, ein schwerer Vorwurf im Sinne der Richtlinie 3.8.

Sowohl die Namensnennung, wie die Nennung des Tätigkeitsortes mache den Beschwerdeführer zweifellos identifizierbar. Es gebe keinen weiteren Kardiologen mit diesem Namen, so dass die Namensnennung auch nicht mit dem Hinweis darauf, man müsse eine Verwechslung ausschliessen, zu rechtfertigen sei. Die Nennung von Vorname, Name und Tätigkeitsort verletze Richtlinie 7.2. Auch als IV-Gutachter sei er keine Person von öffentlichem Interesse, in dieser Rolle sei er auch nicht öffentlich aufgetreten.

Das Gutachten, welches der Beschwerdeführer tatsächlich über Ali S. verfasst habe, liege vermutlich in den Akten des Sozialamtes und sei so wohl Alex Baur zur Kenntnis gelangt. Der Beschwerdeführer habe den Antrag auf Zusprechung einer IV-Rente nicht etwa „unterstützt“, sondern gegenteils für nicht ausgewiesen erklärt. Das Amtsgeheimnis (als IV-Gutachter) wie der Geheimnisschutz des Patienten verhinderten, dass das Gutachten und seine Schlussfolgerungen eingereicht würden. Es sei zudem auch nicht Sache des Beschwerdeführers, sich um eine allfällige Entbindung zu bemühen.

C. Auf Anfrage des Presseratssekretariats teilt der Beschwerdeführer am 24. Oktober 2013 mit, er habe nicht die Absicht, gegen die „Weltwoche“ rechtliche Schritte zu ergreifen.

D. Am 29. November 2013 beantragt die ebenfalls anwaltlich vertretene „Weltwoche“, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie vollumfänglich abzuweisen.

Die „Weltwoche“ habe am 29. August auf Wunsch des Beschwerdeführers eine Gegendarstellung veröffentlicht. Dennoch habe der Beschwerdeführer darüber hinaus noch eine Richtigstellung verlangt, die auch eine finanzielle Komponente zu enthalten habe. Die Beschwerdegegnerin müsse davon ausgehen, dass es dem Beschwerdeführer darum gehe, Beweismittel für ein allfälliges Verfahren zu sammeln. Dieser lege richtig dar, dass der Presserat darauf verzichte, ein eigentliches Beweisverfahren durchzuführen. Alleine schon aus diesem Grund sei auf das Begehren des Beschwerdeführers, es müsse ihm nach Einreichung der „Beweisunterlagen“ eine kurze Replikfrist angesetzt werden, nicht eizutreten.

Die Beschwerdegegnerin habe die Bezeichnung „eines gewissen Dr. René Maire“ so gewählt, weil sie darauf anspiele, dass der Beschwerdeführer einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt sei. Mit diesem Satz sei dieser weder herabgesetzt noch „verächtlich gemacht“ worden.

Der Vorwurf, die Beschwerdegegnerin habe eine objektiv unzutreffende Behauptung verbreitet, sei nachweislich falsch. Fakt sei, dass der Beschwerdegegnerin Unterlagen vorlägen, aus denen hervorgehe, dass der Beschwerdeführer medizinische Abklärungen an Ali S. durchgeführt habe. Aus diesen Unterlagen ergebe sich zudem, dass aufgrund der medizinischen Abklärung eine IV zu 44 Prozent ausgesprochen worden sei. Sehr wohl habe dieses Gutachten den Entscheid beeinflusst, ob eine Rente ausgesprochen werde oder nicht. Mit seiner Tätigkeit als Gutachter unterstütze der Beschwerdeführer die zuständigen Behörden in ihrer Entscheidung, ob eine IV-Rente ausbezahlt werde oder nicht. Das unterstützende Element beziehe sich folglich nicht auf die Machenschaften von Ali S., sondern auf die Tätigkeit der IV-Behörden. Selbst wenn dies der Durchschnittsleser anders verstanden haben sollte, seien diese Unsicherheiten spätestens mit der Publikation der Gegendarstellung ausgeräumt worden. Die Beschwerdegegnerin stützt sich bei diesen Informationen auf das Redaktionsgeheimnis, welches verfassungsmässig in Art. 17 Abs. 3 BV und in Richtlinie 6.1 gewährleistet sei. Aus diesem Grund könnten die Unterlagen, welche die Beschwerdegegnerin zweifelsohne entlasteten, nicht eingereicht werden.

Ein schwerer Vorwurf, welcher eine vorgängige Anhörung erfordert hätte, liege nicht vor. Ausserdem unterliege der Beschwerdeführer sowohl dem Arzt- wie dem Amtsgeheimnis. Mit dem Verzicht einer Anhörung habe man dieses Geheimnis wahren und den Beschwerdeführer nicht zur Amtsgeheimnisverletzung anstiften wollen. Eine Verletzung von Richtlinie 3.8 könne folglich nicht vorliegen.

Es bestehe zudem sehr wohl ein öffentliches Interesse an der Namensnennung. Als Gutachter der IV sei der Beschwerdeführer in einer verantwortungsvollen Position tätig, in welcher er durch seine Gutachten über die Verwendung von öffentlichen Geldern bis zu einem gewissen Grad mitbestimmen könne.

E. Am 13. Dezember 2013 teilt der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 12. Mai 2014 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Der Beschwerdeführer macht geltend, ihm werde zu Unrecht unterstellt, Ali S. im IV-Verfahren unterstützt zu haben. Ihm sei nicht bekannt, auf welche Unterlagen sich die Behauptung der „Weltwoche“ abstützen liesse, denn sie sei unzutreffend. Deshalb liege ein Verstoss gegen Ziffer 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ (nachfolgend „Erklärung“) vor. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, ein Gutachten über Ali S. verfasst zu haben. Er macht jedoch geltend, er habe den Antrag auf Zusprechung einer IV-Rente nicht etwa „unterstützt“, sondern gegenteils für nicht ausgewiesen erklärt. Mit Verweis auf das Amtsgeheimnis als IV-Gutachter und den Geheimnisschutz des Patienten begründet er, dass er das Gutachten und dessen Schlussfolgerungen nicht einreichen könne. Es sei auch nicht seine Sache, sich um eine allfällige Entbindung zu bemühen.

b) Die Beschwerdegegnerin ihrerseits macht geltend, ihr lägen Unterlagen vor, aus denen hervorgehe, dass der Beschwerdeführer medizinische Abklärungen an Ali S. durchgeführt habe. Aufgrund dieser Abklärungen sei eine IV-Rente von 44 Prozent ausgesprochen worden. Sie verweist ihrerseits auf das Redaktionsgeheimnis, um zu begründen, warum diese Unterlagen nicht eingereicht werden könnten.

c) Der Presserat stellt fest, dass im Ergebnis das Paradoxon besteht, dass weder Beschwerdeführer noch Beschwerdegegnerin bereit sind, sie entlastende Dokumente einzureichen. Damit steht Aussage gegen Aussage. Die Pflicht zur Wahrheitssuche (Ziffer 1 der „Erklärung“) setzt „die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten“ und „die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild)“ voraus. Soweit jedoch der genaue Sachverhalt zwischen den Parteien umstritten ist, erinnert der Presserat daran, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehört, dazu ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen. Gestützt auf die dem Presserat zur Verfügung gestellten Unterlagen lässt sich demnach nicht eruieren, ob der Antrag an die IV mit Unterstützung des Beschwerdeführers erfolgte oder ob er im Gegenteil den Antrag auf Zusprechung einer IV-Rente als nicht ausgewiesen erklärt hat. Der Presserat kann damit keine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 „Erklärung“) feststellen.

2. a) Die Richtlinie 3.8 (Anhörungspflicht) statuiert die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten, Betroffene vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe anzuhören und deren Stellungnahme im Artikel zumindest kurz wiederzugeben.

b) Vorab ist beim „Weltwoche“-Artikel vom 15. August 2013 zu prüfen, ob dieser gegen den Beschwerdeführer schwere Vorwürfe erhebt, also gemäss der Praxis des Presserats diesem ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten unterstellt. Der Beschwerdeführer hat als Gutachter für die IV ein Gutachten verfasst, das den Antrag von Ali S. auf Zusprechung einer IV-Rente beurteilt, ob in unterstützender oder ablehnender Weise bleibt, wie oben ausgeführt, offen. Dass beim Leser der Eindruck entsteht, der Beschwerdeführer habe damit sozusagen Beihilfe zum Sozialbetrug begangen, ist – unabhängig von der Frage, ob es sich bei Ali S. tatsächlich um einen Fall von „Sozialmissbrauch“ handelt – nicht ersichtlich. Fehlt es an einem schweren Vorwurf, so entfällt auch eine Anhörungspflicht.

3. a) In Bezug auf die identifizierende Berichterstattung hält die Richtlinie 7.2 zur „Erklärung“ fest, dass Journalistinnen und Journalisten im Einzelfall verpflichtet sind, die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig abzuwägen. Eine Identifizierung ist unter anderem zulässig, wenn eine Person im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Berichterstattung öffentlich auftritt oder wenn sie ein öffentliches Amt wahrnimmt oder eine gewichtige gesellschaftliche Funktion.

b) Im beanstandeten Bericht der „Weltwoche“ wird der Beschwerdeführer als Gutachter für IV-Fälle mit Vorname, Name und Tätigkeitsort genannt. Einem medizinischen Gutachter kommt in einem IV-Verfahren gewissermassen eine Schlüsselfunktion zu, wenn es um die Bestimmung des Invaliditätsgrades geht. Es besteht deshalb durchaus ein öffentliches Interesse daran, zu wissen, wer diese Gutachterfunktion einnimmt. Die Namensnennung war demnach zulässig.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der Presserat erinnert daran, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehört, ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen. Aufgrund des umstrittenen Sachverhalts ist deshalb keine Verletzung der Wahrheitspflicht festzustellen. Die Anhörungspflicht entfällt, da kein schwerer Vorwurf vorliegt. Die Namensnennung war zulässig.

3. Die „Weltwoche“ hat mit der Veröffentlichung des Artikels „Frau Zaki braucht wieder Sozialgeld“ vom 15. August 2013 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 7 (Namensnennung) die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ nicht verletzt.