Nr. 28/2022
Wahrheit / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Interessenkonflikt

(Tamedia c. CH Media)

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Zusammenfassung

Es ist selten, dass ein Medienunternehmen an den Presserat gelangt. Tamedias Beschwerde richtete sich jedoch gegen zwei Artikel, die in verschiedenen Publikationen der CH-Media-Gruppe erschienen sind. CH Media hatte vor dem Hintergrund der Affäre rund um die Zuger Landammannfeier von 2014 berichtet, ein Buch der Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger dürfe vorläufig nicht erscheinen. Umstritten sei der Stand des Buchprojektes. Tamedia hätte behauptet, das Buch sei noch nicht fertiggestellt. Die gerichtliche Eingabe der Klägerin Jolanda Spiess-Hegglin zeige jedoch, dass ein Manuskript an Verlage geschickt worden sei. Es stehe daher der „Verdacht im Raum“, dass die Tamedia-Journalistin sowie deren Chefredaktor „gegenüber den Gerichten als auch der Öffentlichkeit unwahre Angaben“ gemacht hätten.

Dieser Vorwurf von Falschaussagen wiegt schwer. Die Betroffenen hätten dazu zwingend angehört werden müssen. Der Presserat heisst deshalb die Beschwerde von Tamedia gut.

Résumé

Il est rare qu’une entreprise média se tourne vers le Conseil de la presse. Tamedia lui a pourtant adressé une plainte au sujet de deux articles parus en ligne et sur papier dans plusieurs publications du groupe CH Media. Ces articles indiquaient, dans le contexte de l’affaire de la fête du Landammann de Zoug de 2014, qu’un livre de Michèle Binswanger, journaliste de Tamedia, était provisoirement interdit de publication. Pour CH Media, c’est l’avancement du projet de livre qui était en cause. Tamedia affirmait pour sa part que le livre n’était pas encore prêt. La requête de la partie plaignante, Jolanda Spiess-Hegglin, indique pourtant qu’un manuscrit a été envoyé à la maison d’édition. Selon CH Media, il y a donc tout lieu de suspecter que la journaliste de Tamedia et son rédacteur en chef ont fourni de fausses indications aussi bien aux tribunaux qu’au public (gegenüber den Gerichten als auch der Öffentlichkeit unwahre Angaben gemacht).

Il n’est pas anodin de reprocher à quelqu’un de faire de fausses déclarations. Les personnes concernées auraient obligatoirement dû être entendues à ce sujet. Le Conseil de la presse accepte donc la plainte de Tamedia.

Riassunto

È raro che un’azienda mediatica presenti un reclamo al Consiglio della stampa. Tuttavia, il reclamo di Tamedia riguardava due articoli apparsi su svariate pubblicazioni del gruppo CH Media. Nel contesto della vicenda relativa ai festeggiamenti del 2014 per la nomina del landamano di Zugo, CH Media aveva reso noto che un libro della giornalista di Tamedia Michèle Binswanger per il momento non avrebbe potuto essere pubblicato. Secondo CH Media lo stato di avanzamento del progetto dell’opera era controverso. Tamedia avrebbe affermato che il libro non era ancora stato completato. Tuttavia, l’istanza giudiziaria presentata dalla querelante Jolanda Spiess-Hegglin mostrerebbe come sia stato inviato un manoscritto ad alcune case editrici. Esiste quindi il «sospetto» che la giornalista di Tamedia e il suo caporedattore «abbiano rilasciato dichiarazioni non veritiere sia ai tribunali che al pubblico».

Questa accusa di false dichiarazioni è molto pesante. Le persone interessate avrebbero dovuto essere ascoltate. Il Consiglio della stampa accoglie pertanto il reclamo di Tamedia.

I. Sachverhalt

A. Am 28. Oktober 2021 erscheint in verschiedenen Online-Publikationen der Mediengruppe CH Regionalmedien AG (CH Media) ein von Pascal Hollenstein gezeichneter Artikel unter dem Titel «Bundesgericht stoppt umstrittene Passagen in geplantem Buch über Jolanda Spiess-Hegglin». Es wird berichtet, dass das Bundesgericht eine «vorsorgliche Massnahme» wieder in Kraft gesetzt hat, die von der Vorinstanz aufgehoben worden war. Damit könne ein Buch der Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger über die «Vorkommnisse» an der Zuger Landammannfeier von 2014 vorläufig nicht erscheinen. Bei der noch ausstehenden definitiven gerichtlichen Beurteilung des Falls könne auch eine Rolle spielen, «wie sich Binswanger und ihr Chef, Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser, im bisherigen Verfahren verhalten haben». Es stehe der «Verdacht im Raum», dass sie «den Gerichten als auch der Öffentlichkeit gegenüber unwahre Angaben» gemacht haben. Konkret geht es dabei darum, ob das vorläufig blockierte Buch schon fertig geschrieben ist. Binswanger und Rutishauser würden dies bestreiten. Gemäss Zitat aus einer Stellungnahme des Anwalts von Michèle Binswanger vor Gericht wurde das Projekt längere Zeit «auf Eis» gelegt. Die Anwältin von Spiess-Hegglin habe nun aber dem Gericht Mails von Verlagen vorgelegt, die bereits mehrfach ein Manuskript zugeschickt erhalten haben. Die «Beweisstücke» im Verfahren würden also nahelegen, dass Tamedia-Mitarbeitende «Falschbehauptungen» aufgestellt haben.

In verschiedenen Printmedien von CH Media erscheint am nächsten Tag eine gekürzte Version, im Wesentlichen mit den gleichen Aussagen: «Aus der Beschwerde von Spiess-Hegglin vor Bundesgericht geht der Verdacht hervor, dass die Gegenseite unwahre Angaben gemacht hat.» Die Stellungnahme des Anwalts von Michèle Binswanger vor Bundesgericht zum Buchprojekt wird im gedruckten Artikel im Gegensatz zur Online-Version nicht zitiert.

B. Namens der Tamedia Publikationen Deutschschweiz AG (Tamedia, Beschwerdeführerin) reicht deren Rechtsdienst am 27. Januar 2022 eine Beschwerde gegen die beiden Artikel und den Verlag CH Media ein. Moniert wird die Verletzung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», die eine Anhörung bei schweren Vorwürfen vorsieht. In der Beschwerde werden zahlreiche frühere Beiträge von CH Media aufgeführt, die sich kritisch mit einem Buchprojekt von Michèle Binswanger befassten.

In den beiden Artikeln werde dem Verdacht der Falschaussage «ein zentraler Platz» eingeräumt. Im Online-Beitrag sei die grafische Gestaltung mit Porträts und Zitaten so gewählt, dass eine «eigentliche Prangerwirkung gegen Michèle Binswanger und Arthur Rutishauser erzielt wird». Laut BF wird ein schwerer Vorwurf geäussert, zu dem die Betroffenen nicht angehört wurden. Dass Autor Pascal Hollenstein sich in Twitter-Beiträgen darauf berufe, seine Informationen stammten aus Dokumenten zu einem Gerichtsverfahren, im Rahmen dessen sich Binswangers Anwalt zum Vorwurf geäussert hat, könne nicht als Anhörung im Sinne der Richtlinie 3.8 gelten.

C. Mit Schreiben vom 16. Mai 2022 nimmt die anwaltlich vertretene CH Regionalmedien AG (CH Media, Beschwerdegegnerin, BG) Stellung zur Beschwerde. Die BG fordert, auf die Beschwerde nicht einzutreten. Die Vollmacht der Beschwerdeführerin (Tamedia Rechtsdienst) sei nicht von den beiden JournalistInnen unterzeichnet. Arthur Rutishauser und Michèle Binswanger seien auch nicht selbst an den Presserat gelangt, daher sei davon auszugehen, dass sie keine Verletzung des «Journalistenkodex» gelten machen würden.

Falls auf die Beschwerde eingetreten werde, so sei diese abzuweisen. Für die BG handelt es sich nicht um einen schweren Vorwurf, da lediglich die «Frage» bezüglich «Falschbehauptungen im Rahmen des Gerichtsprozesses» in den Raum gestellt wurde. Die BG führt umfangreich und mit zahlreichen Verweisen auf die Schweizerische Zivilprozessordnung aus, dass falsche oder unzutreffende Behauptungen vor Gericht unter Umständen keine Rechtsverletzung darstellten.

Die Anhörungspflicht sieht CH Media als erfüllt an, da Tamedia sich zum Sachverhalt im gerichtlichen Verfahren habe äussern können und dies im Artikel zitiert worden sei.

D. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, bestehend aus Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg.

E. Die 1. Kammer hat die Beschwerde in ihrer Sitzung vom 20. Juni 2022 und auf dem Korrespondenzweg behandelt.

II. Erwägungen

1. Zur Frage des Eintretens: CH Media argumentiert, dass keine Vollmacht seitens der Betroffenen vorliege und daher nicht auf die Beschwerde einzutreten sei. Gemäss Artikel 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserats ist jedoch explizit «jedermann» beschwerdeberechtigt. Sowohl eine direkt betroffene Person, deren Arbeitgeberin oder auch irgendeine andere Person kann zu jedem Medienbeitrag eine Beschwerde einreichen. Zudem richten sich die gerügten Vorwürfe im Online-Artikel explizit auch gegen Tamedia als Organisation beziehungsweise Arbeitgeberin. Für das Presseratsverfahren spielt es im Übrigen keine Rolle, ob die Betroffenen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit einen «privilegierten Zugang» zu den Medien haben, wie die BG weiter argumentiert. Auch kann nicht ein fehlendes «Rechtsschutzinteresse» geltend gemacht werden, weil sich jemand «fleissig» und «kritisch» auf Social-Media-Kanälen wie Twitter äussert und dort zahlreiche Follower hat. Für den Presserat sind Persönlichkeitsrechte grundsätzlich schutzwürdig, auch diejenigen von Medienschaffenden. Im Übrigen ist das Beschwerdeverfahren des Presserats Ausdruck der berufsethischen Selbstregulierung der Medienbranche und kein gerichtliches Verfahren. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein.

2. Der Presserat hat zu überprüfen, ob die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt wurde. Diese hält fest: «Aus dem Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten […] leitet sich die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören.»

Bereits im Lead des Online-Artikels wird formuliert: «Dieweil steht der Verdacht im Raum, dass Binswanger und Tamedia den Gerichten die Unwahrheit gesagt haben.» Im Beitrag heisst es: «Wie aus der Beschwerde Spiess-Hegglins hervorgeht, steht dabei der Verdacht im Raum, dass die Tamedia-Seite sowohl den Gerichten als auch der Öffentlichkeit gegenüber unwahre Angaben gemacht hat.» Ähnlich wird dies im gedruckten Artikel formuliert: «Aus der Beschwerde Spiess-Hegglins geht der Verdacht hervor, dass die Gegenseite unwahre Angaben gemacht hat.»

In der Sache selbst geht es gemäss Autor Pascal Hollenstein um die Frage, ob und zu welchem Zeitpunkt ein publikationsreifes Buch vorgelegen hat. Offenbar besteht zwischen den Parteien Uneinigkeit darüber, was ein «fertiges» Buch ist, ob es sich um «Versionen» eines Manuskripts handelt oder nur um ein «Buchprojekt». Für die Beschwerde vor dem Presserat ist dies irrelevant. Vor Gericht die Unwahrheit zu sagen ist im Moral- und Rechtsverständnis einer durchschnittlichen Leserin oder eines Lesers zweifellos ein gravierendes Fehlverhalten. Dass der «Verdacht» dazu im Raum steht, ist ein schwerer Vorwurf. Dass ein Vorwurf als Frage formuliert wird («Haben Tamedia-Mitarbeitende … Falschbehauptungen aufgestellt?») relativiert die Schwere nicht und entbindet daher auch nicht von der Pflicht zur Anhörung.

Damit bleibt zu klären, ob die Beschwerdeführerin effektiv angehört wurde. Die Beschwerdegegnerin verweist dazu auf die gerichtliche Eingabe von Jolanda Spiess-Hegglin und die Stellungnahmen von Michèle Binswanger zum «Manuskript» beziehungsweise «Buchprojekt» gegenüber dem Bundesgericht, auf welche Bezug genommen worden sei. CH Media legt also selbst den Beleg vor, dass Tamedia im Rahmen der Berichterstattung gerade nicht angehört wurde. Eine Äusserung an anderem Ort – wie hier im Rahmen einer Eingabe an ein Gericht beziehungsweise in einer Antwort auf eine solche – kann nicht als Stellungnahme zu einem schweren Vorwurf in einem Medienbeitrag interpretiert werden. Dies gilt noch in verstärktem Masse für den gedruckten Artikel, für den nicht einmal eine solche «indirekte» Anhörung geltend gemacht werden könnte.

Die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» ist unmissverständlich: Bei schweren Vorwürfen ist es eine berufsethische Pflicht, die Betroffenen anzuhören. Zitate ersetzen keine Anhörung, sondern es muss die Möglichkeit bestehen, zeitnah und zu expliziten Vorwürfen Stellung zu nehmen. Allfällige Ausnahmen von der Anhörungspflicht sind in Richtlinie 3.9 restriktiv definiert und keiner dieser Fälle könnte hier geltend gemacht werden: Die beiden Artikel der CH Media stützen sich weder auf «öffentlich zugängliche amtliche Quellen» noch berichten sie über einen bereits früher «öffentlich» gemachten Vorwurf und die Stellungnahme dazu. Es bestand auch kein «überwiegendes öffentliches Interesse» auf die Anhörung zu verzichten. Die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) ist verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. CH Media hat mit den beiden Artikeln «Bundesgericht stoppt umstrittene Passagen in geplantem Buch über Jolanda Spiess-Hegglin», veröffentlicht online am 28. Oktober 2021, und «Bundesgericht gibt Spiess-Hegglin recht», veröffentlicht in der Printausgabe vom 29. Oktober 2021, Ziffer 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.