Nr. 27/2000
Anwaltschaftlicher Journalismus / Anhörung bei schweren Vorwürfen

Aktion Dialog c. «Tages-Anzeiger» Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 30. August 2000

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I. Sachverhalt

A. Am 5. und 13. Januar 2000 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» zwei Artikel von Hugo Stamm zum Thema «Scientology». Im ersten Bericht mit dem Titel «Scientologys seltsame Steuermoral» setzte sich der Journalist kritisch mit dem finanziellen Gebaren von Scientology in der Schweiz auseinander. Trotz hohen Einnahmen liefere Scientology dem Schweizer Fiskus keinen Rappen ab und wolle nun trotzdem noch offiziell von der Steuerpflicht befreit werden. Gemäss der Analyse von Hugo Stamm erklärt sich der fehlende Gewinn trotz Umsatz in Millionenhöhe u. a. dadurch, dass Seminargebühren als Spenden deklariert würden sowie mit den durch die zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen verursachten hohen finanziellen Kosten.

Im zweiten Artikel mit dem Titel «Scientology in fast jedem PC» berichtete der «Tages-Anzeiger» darüber, dass ein Bestandteil des neuen Betriebssystems Windows 2000, ein sog. Defragmentierungsprogramm, von der kalifornischen Firma Executive Software entwickelt worden sei, die einem hochrangigen Scientologen gehöre. Mit Hilfe dieses Programms wäre es laut Computerspezialisten zwar kaum praktisch, aber zumindest theoretisch denkbar, die Daten von jedem PC via Internet unbemerkt auf einen anderen Computer zu kopieren und so die persönlichen Daten von Millionen von PC-Usern der Scientologykirche zugänglich zu machen. Im zweiten Teil des Artikels wird unter Berufung auf eine Scientology-Spezialistin der Hamburger Behörden u. a. darauf hingewiesen, dass die Firma Executive Software als eines der führenden Unternehmen der Scientology-Wirtschaftsorganisation WISE gelte, die ihrerseits der entscheidende Arm von Scientology sei, um die Wirtschaft zu unterwandern und auszuspionieren.

B. Mit Schreiben vom 25. Januar 2000 gelangte der Verein «Aktion-Dialog» an den Presserat und äusserte unter dem Titel «Gefährlicher Hass-Journalismus» heftige Kritik an den bei den Medienberichten sowie an Hugo Stamm im Allgemeinen. Zusammenfassend machte der Verein (nachfolgend: Beschwerdeführer) geltend, die beiden Artikel seien Bestandteil einer systematischen, diffamierenden Herabsetzungskampagne gegen die Scientologykirche und deren Angehörige, hinter der seit Jahren der «Tages-Anzeiger»-Journalist Hugo Stamm stecke.

C. Angesichts des mehr generellen Charakters der vom Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe wurde dieser vom Sekretariat des Schweizer Presserates mit Schreiben vom 28. Januar 2000 aufgefordert näher zu begründen, welche Punkte der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» er durch die bei den beanstandeten Artikel verletzt sehe.

D. Mit Schreiben vom 10. Februar 2000 präzisierte der Beschwerdeführer seine Eingabe vom 25. Januar 2000 und machte geltend, der «Tages-Anzeiger» bzw. Hugo Stamm habe die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Vollständigkeit der Information, Verbot der Entstellung von Tatsachen) und 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung» verletzt. Im einzelnen wurde u. a. gerügt, der von Hugo Stamm verwendete Sektenbegriff und die Verwendung der Bezeichnung «Pseudo-Kirche» sei diskriminierend, der Titel «Seltsame Steuermoral» halte sich nicht an die Wahrheit und entstelle Tatsachen, und die Behauptung, Scientology verlange «exorbitante Preise» und biete «teure Seminare» an, unterschlage wichtige Informationen. Die Aussage, Scientology «verfolge in erster Linie wirtschaftliche Ziele», halte sich nicht an die Selbstdarstellung von Scientology und unterschlage wichtige Informationen, die Behauptung «Scientology in fast jedem PC» sei unwahr, und schliesslich sei es unwahr und diskriminierend zu behaupten, dass Scientology die Wirtschaft unterwandern und ausspionieren wolle. Soweit dies im Rahmen dieser Stellungnahme sinnvoll erscheint, wird auf die einzelnen dazugehörigen Argumente des Beschwerdeführers in den nachfolgenden Erwägungen eingegangen.

E. Das Presseratspräsidium wies die Beschwerde der 1. Kammer zur Behandlung zu, die sich wie folgt zusammensetzt: Prof. Dr. Roger Blum (Kammerpräsident) Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli Mazza, Silvana Iannetta, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina (Mitglieder).

F. In ihrer Stellungnahme vom 6. April 2000 beantragte die TA-Media AG (nachfolgend: Beschwerdegegnerin) die vollständige Abweisung der Beschwerde und reichte dem Presserat umfangreiche Beilagen ein, die aus ihrer Sicht die an Scientology geübte Kritik stützen. Die Beschwerdegegnerin räumt einzig ein, dass die Wahl des Titels «Scientology in jedem PC», der jedoch nicht von Hugo Stamm verfasst worden sei, ein Missgeschick war. Der «Tages-Anzeiger» habe auf ein Gegendarstellungsgesuch von Scientology hin von sich aus den Vorschlag gemacht, nicht bloss eine Gegendarstellung abzudrucken, sondern den Titel durch die Redaktion nachträglich zu berichtigen, was am 26. Januar 2000 mit einem «Korrekt» geschehen sei.

G. In einer unaufgefordert eingereichten, als «Replik» bezeichneten Entgegnung vom 8. Mai 2000 zur Beschwerdeantwort der Beschwerdegegnerin äusserte sich der Beschwerdeführer u. a. nochmals eingehend zur Entstehung und zum Sinn und Zweck des Vereins «Aktion-Dialog», zur Rolle des «Tages-Anzeigers» und von Hugo Stamm in der aus Sicht des Beschwerdeführers sehr einseitigen öffentlichen Diskussion über Sekten in der Schweiz, zum Sektenbegriff und zum religiösen Charakter von Scientology und zu den von der Beschwerdegegnerin dem
Presserat eingereichten Dokumenten.

H. Die 1. Kammer des Presserates beschloss an ihrer Sitzung vom 7. Juni 2000 nach einer ersten Diskussion über die Beschwerde, auf die Einholung einer «Duplik» bei der Beschwerdegegnerin zu verzichten, weil in der «Replik» des Beschwerdeführers, soweit auf deren Inhalt im Rahmen des vorliegenden Verfahrens überhaupt einzugehen ist, keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte enthalten sind. Demgegenüber beschloss sie, die Beschwerdegegnerin noch einmal zur Frage der Anhörung der Firma Executive Software im Zusammenhang mit dem Artikel vom 13. Januar 2000 Stellung nehmen zu lassen.

I. In ihrer Eingabe vom 29. Juni 2000 merkte die Beschwerdegegnerin zur Frage der Anhörung der Firma «Executive Software» u.a. an, dass es Hugo Stamm nicht gelungen sei, den Firmenbesitzer Craig Jensen ans Telefon zu bekommen. Ohnehin hätte Stamm diesen aber nicht zur WISE-Mitgliedschaft befragt, da diese völlig unbestritten sei. Der Hinweis auf die Aussage der Scientology- Spezialistin zur Gefährlichkeit der WISE sei auch ohne ausdrückliche Stellungnahme der Firma Executive Software dazu zulässig gewesen. Es handle sich um von einer Behörde geäusserte Vorwürfe, die materiell durch zahlreiche Belege gestützt würden. Der Leserschaft des «Tages-Anzeigers» sei zudem auch ohne ausdrücklichen Hinweis klar, dass eine Mitgliedfirma der WISE auf Vorhalt hin bestreiten werde, dass die WISE die Wirtschaft ausspioniere und unterwandere.

K. An ihrer Sitzung vom 30. August 2000 verabschiedete die 1. Kammer 2000 die Stellungnahme.

II. Erwägungen

1. Im Sinne einer Vorbemerkung ist kurz auf den vom Beschwerdeführer gegenüber dem Journalisten Hugo Stamm verwendeten äusserst scharfen Ton einzugehen, wird letzterer doch u. a. der massiven Diffamierung, journalistischen Hetze, Aufforderung der systematischen Diskriminierung und Herabsetzung der Angehörigen der Scientology-Kirche und darüber hinaus der Sympathie zu terroristischem Gedankengut beschuldigt. Ein solch schwerer Angriff auf die berufliche Qualifikation eines Journalisten ist als unzulässiger Angriff auf die Pressefreiheit zu werten. Dies gilt umso mehr, als die durch die Beschwerde beanstandeten Medienberichte inhaltlich zwar sehr kritisch ausgefallen sind, in ihrem Ton aber keineswegs überborden.

2. Der Presserat stellt weiter fest, dass sich die Artikel von Hugo Stamm durch ein grosses Sachwissen auszeichnen. Er bearbeitet das Thema seit Jahren und kann sich dabei mittlerweile offensichtlich auf eine äusserst umfangreiche Dokumentation stützen, was sich u. a. auch durch die von der Beschwerdegegnerin mit der Beschwerdeantwort eingereichten zahlreichen Beilagen manifestiert. Eine solche jahrelange vertiefte Auseinandersetzung mit einem Thema ist grundsätzlich als gute Voraussetzung für die Gewährleistung eines berufsethisch korrekten Journalismus zu werten. Entgegen den entsprechenden Behauptungen des Beschwerdeführers vermag der Presserat deshalb keinerlei Anzeichen dafür zu erkennen, dass bei Hugo Stamm die notwendigen Voraussetzungen fehlen, um sich mit der für die Einhaltung der berufsethischen Regeln erforderlichen Sorgfalt – wenn auch äusserst kritisch – mit der Scientology-Kirche auseinanderzusetzen.

3. Der Presserat hat weder die Mittel, noch ist es seine Aufgabe, umfassende Abklärungen über den «wahren» Charakter von Scientology zu veranlassen. Es kann vorliegend ohnehin nicht darum gehen, für die Medien und die Medienschaffenden verbindlich festzustellen, ob Scientology eine Sekte ist oder nicht, ob es sich um eine religiöse Gemeinschaft handelt oder ob der wirtschaftliche Zweck bei dieser Gruppierung im Vordergrund steht usw. Der Presserat hat sich vielmehr einzig dazu zu äussern, ob der «Tages-Anzeiger» bzw. Stamm im Zusammenhang mit den beiden vom Beschwerdeführer beanstandeten Medienberichten die berufsethischen Regeln verletzt hat. Dabei geht der Presserat von der Feststellung aus, dass die Selbstdarstellung von Scientology und die Charakterisierung dieser Gruppierung durch ihre Kritiker – zu denen nicht allein Hugo Stamm und der «Tages-Anzeiger» gehören – diametral auseinandergehen. Weiter ist unbestritten, dass die Funktionsweise von Scientology in verschiedenen demokratischen Staaten (u. a. in Deutschland, der Schweiz und den USA) Ängste auf Seiten der Behörden ausgelöst, zu zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen geführt und öffentliche Auseinandersetzungen entfacht hat. Da Journalismus per definitionem nicht auf die blosse Selbstdarstellung der gesellschaftlichen Akteure abstellen darf, kann einem Journalisten nicht vorgeworfen werden, wenn er gewissermassen als «Anwalt» von potentiellen oder tatsächlichen «Sektenopfern» in seiner Arbeit dauerhaft vor den aus einer Sicht bestehenden Gefahren von solchen Organisationen aufmerksam macht.

4. Wie generell gegenüber allen Themen und gesellschaftlichen Akteuren ist auch gegenüber Scientology aus journalistischer Sicht eine kritische Grundhaltung und Distanz angebracht. Dies ergibt sich bereits aus Ziff. 2 der «Erklärung der Pflichten», wonach die Journalistinnen und Journalisten, die Freiheit der Information, des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit und das Ansehen des Berufs verteidigen sollen. Die beiden Artikel von Hugo Stamm zeugen von einer solch kritischen Grundhaltung, die der Beschwerdeführer offenbar über die einzelnen Rügen hinaus, auf die nachfolgend eingegangen wird, ungerechtfertigterweise generell für unzulässig hält. Unter diesem Gesichtspunkt der Freiheit der Meinungsäusserung und der Kritik kann es keine Rolle spielen, ob Scientology zu Recht als Sekte bezeichnet wird oder ob das wirtschaftliche und fiskalische Verhalten dieser Gruppierung mit rein spirituellen Zielen vereinbar ist. Jede und jeder – auch Hugo Stamm – darf auf seiner Meinung bestehen und diese auch veröffentlichen, wenn diese Meinung auf einer sachlichen Grundlage basiert (vgl. zuletzt die Stellungnahme i. S. H. c. «Zuger Presse» vom 1. Oktober 1999, Sammlung 1999, S. 128ff.). Aus der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» kann dementsprechend gemäss ständiger Praxis des Presserates keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abgleitet werden. Auch eine einseitige und parteiergreifende Medienberichterstattung ist mit den berufsethischen Grundsätzen vereinbar (vgl. die Stellungnahmen i.S. U. c. «Beobachter» vom 26. Juni 1996, Sammlung 1996, S. 43ff., L. c. «Weltwoche» vom 15. Oktober 1998, Sammlung 1998, S. 143ff.). Von einer diskriminierenden Berichterstattung im Sinne von Ziff. 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» kann hier deshalb von vornherein keine Rede sein, weshalb die entsprechende Rüge des Beschwerdeführers vollumfänglich abzuweisen ist.

5. Umso wichtiger erscheint unter diesen Voraussetzungen aber die Respektierung des Prinzips des «audiatur et altera pars», wonach den Betroffenen Gelegenheit zu geben ist, sich vor der Publikation eines Medienbeitrags zu schweren Vorwürfen zu äussern (vgl. u. a. die Stellungnahmen i.S. U c. «Beobachter» vom 26. Juni 1996, Sammlung 1996, S. 43ff., i.S. S . c. G. vom 31. Mai 1996, Sammlung 1996, S. 30ff. sowie i.S. Bundesanwaltschaft c. «CASH» vom 25. August 1999, Sammlung 1999, S. 106ff.).

6. Bei Betrachtung der beiden beanstandeten Artikel ist vorab festzustellen, dass der Position von Scientology bzw. der Firma Executive Software nur sehr beschränkter Raum überlassen worden ist. Im Artikel vom 5. Januar 2000 («Scientologys seltsame Steuermoral») handelt es sich um die beiden letzten Zeilen, in denen ausgeführt wird, dass Scientology- Sprecher Jürg Stettler nicht bereit gewesen sei, Auskunft über das Einkommen und das Gesuch zur Steuerbefreiung zu geben.

Beim Artikel vom 13. Januar 2000 («Scientology in fast jedem PC») wird am Ende des ersten Teils die Position von Executive Software wiedergegeben, wonach sich die Firma gegen Verdächtigungen betreffend dem Ausspionieren von Daten auf fremden Personalcomputern vehement verwahre. Demgegenüber sind die Zitate, welche die scharfe Kritik an Scientology bzw. Executive Software untermauern, wesentlich zahlreicher. Hugo Stamm greift auf Eigenzitate von führenden Mitgliedern von Scientology zurück, die derart in den Text eingefügt werden, dass sie seine Kritik unterstützen. Ebenso verstärken die Titel – von denen der zweite («Scientology in fast jedem PC») auch nach Auffassung der Beschwerdegegnerin unhaltbar war – das der Leserschaft vermittelte negative Werturteil. Unter solchen Umständen erscheint es besonders wichtig, dass auch die Kritisierten angemessen zu Wort kommen.

7. Allerdings lässt sich das Prinzip des «audiatur et altera pars» nicht nach quantitativen Kriterien konkretisieren. Entscheidend kann nicht eine Mindestzahl von Zeilen sein, sondern allein der Gesamteindruck (Text, Titel, Bilder) des Publikums. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint angesichts der darin erhobenen schweren Vorwürfe der im ersten Artikel vom 5. Januar 2000 der Position von Scientology eingeräumte Platz als ungenügend. Trotzdem ist hier eine Verletzung der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» deshalb zu verneinen, weil seitens von Scientology auf das Anhörungsrecht verzichtet wurde und die fehlende inhaltliche Stellungnahme unter diesen Umständen dem «Tages-Anzeiger» nicht zur Last gelegt werden kann.

8. Hinsichtlich der im ersten Teil des zweiten Artikels vom 13. Januar 2000 enthaltenen Vorwurfs wird die Position von Executive Software – wie oben unter Ziff. 6 der Erwägungen bereits ausgeführt – klar wiedergegeben. Darüber hinausgehend enthält der zweite Teil des Berichts jedoch die Aussage einer Scientology- Spezialistin der Hamburger Behörden, wonach Executive Software eines der führenden Unternehmen der Scientology-Wirtschaftsorganisation WISE sei. Diese sei der entscheidende Arm von Scientology, um die Wirtschaft zu unterwandern und auszuspionieren. Zu diesem ebenfalls schwerwiegenden Vorwurf fehlt im Artikel eine Stellungnahme der davon zumindest indirekt betroffenen Firma.

Diesbezüglich ist deshalb näher zu prüfen, ob eine Anhörung von Executive Software und die Wiedergabe ihrer Stellungnahme aus den von der Beschwerdegegnerin in der Eingabe vom 29. Juni 2000 genannten Gründen entbehrlich war. Vorab ist aus Sicht des Presserates positiv zu würdigen, dass Hugo Stamm offenbar versucht hat, den Firmenbesitzer von Executive Software, Craig Jensen, persönlich ans Telefon zu bekommen. Aufgrund der von der Beschwerdegegnerin eingereichten Belegen ist zudem davon auszugehen, dass Jensen Mitglied von WISE ist (Auszüge aus der Homepage von Jensen und einer WISE-Mitgliederliste) und dass WISE grundsätzlich die Anwendung der Scientology-Methoden auch für die Expansion von Unternehmungen empfiehlt (Auszug aus der Homepage www.wise.org).

Nicht gefolgt werden kann der Argumentation der Beschwerdegegnerin demgegenüber insoweit, als sie sinngemäss geltend macht, eine Anhörung des Betroffenen bei schweren Vorwürfen sei allein schon deshalb entbehrlich, weil die Vorwürfe im konkreten Fall von einer Behörde verbreitet worden sind. Die Pflicht zur Anhörung der Gegenseite bei schweren Vorwürfen ist u. a. auch eine Frage der Fairness. Deshalb macht auch eine sehr glaubwürdige Quelle eines Vorwurfes – wie dies bei einer Behörde grundsätzlich zutrifft – die Anhörung des Betroffenen oder zumindest die Wiedergabe eines allenfalls bereits bekannten oder von vornherein bekannten Dementis nicht generell entbehrlich.

Zwar erscheint auch aus Sicht des Presserates die weitere Annahme der Beschwerdegegnerin nicht abwegig, dass zumindest ein grosser Teil der Leserschaft des «Tages-Anzeigers» im Zusammenhang mit der Berichterstattung rund um das Thema Scientology generell ein Dementi von den Betroffenen erwartet. Trotzdem würde es zu weit führen, allein aufgrund dieser plausibel erscheinenden Vermutung eine Pflicht der Medienschaffenden zur Anhörung der Betroffenen bei schweren Vorwürfen und zur Wiedergabe ihrer Stellungnahme in diesem Fall zu verneinen. Damit würde das Anhörungsrecht ausgehöhlt und das damit bezweckte Minimum an Fairness wäre nicht mehr gewährleistet. Zudem liegt es auch im Interesse des Publikums, nach Möglichkeit nicht nur generell zu erfahren, ob der Betroffene einen Vorwurf dementiert, sondern auch was er inhaltlich genau dazu zu sagen hat.

Auf die Wiedergabe einer Stellungnahme des Betroffenen bei schweren Vorwürfen kann deshalb ausnahmsweise lediglich dann verzichtet werden, wenn ein Thema im Zeitpunkt der Publikation eines Artikels eine grosse Aktualität erlangt hat, die Position des von schweren Vorwürfen Betroffenen bereits in anderen Medienberichten des gleichen Mediums ausführlich dargestellt worden ist und deshalb davon auszugehen ist, dass diese Position der Leserschaft allgemein bekannt ist (Stellungnahme des Presserates 20/2000 i.S. «Comptes rendus de conférences de presse partiales» vom 16. Juni 2000). Diese Voraussetzung für den Verzicht auf die Anhörung bzw. der Wiedergabe eines Dementi ist vorliegend beim indirekt erhobenen Vorwurf, die Firma Executive Software unterwandere die Wirtschaft und spioniere sie aus, offensichtlich nicht erfüllt. Da ein Dementi seitens der Beschwerdegegnerin ohnehin erwartet wurde und zudem sogar Kontakt mit Executive Software aufgenommen worden war, wäre es ein leichtes gewesen, dieses im Artikel vom 13. Januar 2000 kurz wiederzugeben.

Dementsprechend wurde in diesem Punkt dem Prinzip des «audiatur et altera pars» nicht Genüge getan und deshalb ist eine Verletzung von Ziff. 3 und 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» festzustellen.

III. Feststellungen

1. Es ist nicht Aufgabe des Presserates, umfassende Abklärungen über den «wahren» Charakter von Scientology zu veranlassen. Da die Medien nicht auf die blosse Selbstdarstellung der gesellschaftlichen Akteure abstellen dürfen, ist es unter berufsethischen Gesichtspunkten ohne weiteres zulässig, wenn ein Journalist u.a. vor den aus seiner Sicht bestehenden Gefahren einer in der Öffentlichkeit umstrittenen Organisation aufmerksam macht, sofern seine Meinungsäusserungen auf einer sachlichen Grundlage gründen.

2. Das in Ziff. 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen» enthaltene Prinzip des «audiatur et altera pars» ist auch für einen engagierten, anwaltschaftlichen Journalismus verbindlich. Seine Anwendung verhindert keinesfalls einen kritischen Journalismus, sondern stärkt vielmehr dessen Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit. Der von schweren Vorwürfen betroffenen Partei ist quantitativ nicht zwingend derselbe Platz einzuräumen wie der sie betreffenden Kritik. Ausgehend von den berufsethischen Prinzipien der Vollständigkeit der Information und der Fairness ist aber zumindest zu fordern, dass die Betroffenen zu sämtlichen schwerwiegenden Vorwürfen Stellung nehmen können.

3. Der «Tages-Anzeiger» hat das Prinzip des «audiatur et altera pars» im Artikel «Scientology in fast jedem PC» vom 13. Januar 2000 dadurch verletzt, dass er es versäumte, zum Vorwurf, die Firma Executive Software sei eines der führenden Unternehmen der Scientology-Wirtschaftsorganisation WISE, die als entscheidender Arm von Scientology die Wirtschaft unterwandere und ausspioniere, eine Stellungnahme der Firma einzuholen bzw. wiederzugeben. Insoweit wird die Beschwerde deshalb teilweise gutgeheissen.

4. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.