Nr. 11/2010
Lauterkeit der Recherche

(Verein gegen Tierversuche c. «Beobachter»)

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I. Sachverhalt

A. Am 29. Juli 2009 bot Erwin Kessler namens des Vereins gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) dem «Beobachter» per E-Mail eine umfangreiche Dokumentation über das Label «natürli» als «Primeur» an. Zum Label «natürli» gehören 17 Betriebe im Zürcher Oberland, die ihre Käsereiprodukte naturnah herstellen. Der Titel der VgT-Dokumentation lautet: «Die Wahrheit hinter dem Label ‹natürli›: Üble Schweinefabriken». «Beobachter»-Chefredaktor Andres Büchi antwortete am 30. Juli, Redaktor Martin Müller werde «dieser Story mal nachgehen. Er meldet sich bei Ihnen heute Nachmittag.»

B. Am 17. September 2009 sandte die in der Zwischenzeit redaktionsintern mit dem Thema betraute Journalistin Dominique Hinden eine E-Mail an Erwin Kessler. Dieser beantwortete die ihm darin zur VgT-Dokumentation gestellten Fragen postwendend.

C. Tags darauf – im Nachgang zu einem Telefongespräch mit Hinden – beschwerte sich Kessler per E-Mail bei Chefredaktor Büchi über die Journalistin. Diese sei unkooperativ und gegen den VgT eingestellt. Die Reportage laufe vermutlich völlig schief. Büchi antwortete gleichentags, er sei überzeugt, die Redaktorin mache ihre Sache richtig. Sie gehe nicht mit Vorurteilen, sondern mit kritischer Distanz an die Arbeit. «Im Übrigen beurteilen wir jede Story hier auf der Redaktion, bevor sie erscheint.»

D. Am 8. Oktober 2009 teilte Hinden Kessler per E-Mail mit, in der nächsten «Beobachter»-Ausgabe vom 16. Oktober 2010 werde ein kleiner Beitrag zum Label «natürli» abgedruckt. «Sie sind darin allerdings mit keinem Wort erwähnt. Ich hoffe, das stört Sie nicht? Da mir sehr wenig Platz vorliegt, schreibe ich einzig, dass Bilder, die dem Beobachter vorliegen, die desolaten Zustände in den Schweineställen zeigen (ohne die Quelle zu nennen).»

E. Am 9. Oktober 2009 teilte Erwin Kessler «Beobachter»-Chefredaktor Büchi per E-Mail und Einschreiben mit, der VgT untersage der Zeitschrift die Verwendung der Fotos und Informationen des VgT. Vier Tage später antwortete der Chefredaktor, er habe wegen einer mehrtägigen Abwesenheit leider erst jetzt Kenntnis von Brief und E-Mail erhalten. Der Beitrag sei nun aber bereits im Druck.

F. Am 16. Oktober 2009 veröffentlichte der «Beobachter» den angekündigten Beitrag unter dem Titel «‹Natürli›. Bei den Schweinen hört die Liebe auf». Die «natürli»-Betriebe stellten zwar ihre Käsereiprodukte naturnah her. Anders sehe es jedoch in vielen der zur Verfütterung der Molke angegliederten Schweinemastbetrieben aus: «teils arg verschmutzte Schweine, die in engen Verhältnissen auf hartem Boden ohne Einstreu leben. Auslauf und Beschäftigungsmöglichkeiten fehlen oft.» Gemäss dem Schweizer Tierschutz sei diese konventionelle Schweinemast zwar gesetzeskonform, aber nicht tierfreundlich. Im Bericht kommt auch die Besitzerin des «natürli»-Labels zu Wort, die Vereinigung Pro Schweizer Berggebiete. Das Label stehe für die Käsereiprodukte, die Schweinemast habe damit nichts zu tun. Der Artikel ist mit einem Bild aus einem Schweinestall illustriert. Die zugehörige Bildlegende lautet: «Ohne Einstreu oder Chance zur Beschäftigung: Schweinehaltung eines natürli-Käsers.»

G. Am 21. Oktober 2009 beschwerte sich Erwin Kessler namens des VgT beim Presserat. Der «Beobachter» habe das Ergebnis der aufwändigen Recherche des VgT gegen dessen Willen verwendet und seiner Leserschaft als eigene Story präsentiert. Die Zeitschrift habe damit die Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalisten und Journalistinnen» (Lauterkeit der Recherche) verletzt.

Die Behauptung von Chefredaktor Büchi, er habe erst nach der Drucklegung vom Rückzug der VgT-Dokumentation Kenntnis erhalten, sei nicht zu akzeptieren. Die Zeitschrift habe nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht davon ausgehen dürfen, der VgT stelle die Story zur Erstveröffentlichung zur Verfügung, egal, was damit gemacht werde. Mit seinem Vorgehen habe der «Beobachter» dem VgT die Chance genommen, die Erstveröffentlichung einem anderen Medium anzubieten. Die Redaktion habe gewusst, dass der VgT mit einer solchen Kurzmeldung nicht einverstanden gewesen sei. Deshalb sei die Information absichtlich zu spät erfolgt.

Zudem habe der «Beobachter» ein Bild unklarer Herkunft verwendet, welches für die Zustände in «natürli»-Betrieben nicht typisch sei. Vermutlich habe die Redaktion kurzerhand eine beliebige Archivaufnahme verwendet, die nicht wirklich einen «natürli»-Betrieb zeige. Es bestehe ein dringender Verdacht auf Bildfälschung.

H. Am 28. Oktober 2009 wies «Beobachter»-Chefredaktor Büchi die Beschwerde als unbegründet zurück. Erwin Kessler habe dem «Beobachter» das Material über die «natürli»-Betriebe als Interessenvertreter des Tierschutzes und nicht als Journalist angeboten. Entsprechend sei nie die Rede davon gewesen sei, die Story 1:1 zu veröffentlichen. Aus Sicht der Redaktion seien die Informationen des VgT «lediglich willkommene Hinweise auf Missstände» gewesen, wie sie dem «Beobachter» wöchentlich zu Dutzenden zugespielt würden. Derartige Hinweise würden von der Redaktion vor der Veröffentlichung zuerst immer recherchiert bzw. verifiziert.

Die Autorin habe Erwin Kessler am 8. Oktober 2009 per E-Mail über das geplante Vorgehen informiert. Obwohl sie jederzeit erreichbar gewesen sei, habe sich Kessler nicht bei ihr gemeldet. Stattdessen habe sich der VgT lediglich an den Chefredaktor gewandt. Aufgrund einer Abwesenheitsmeldung sei für Kessler klar ersichtlich gewesen, dass Andreas Büchi in der fraglichen Zeit nicht regelmässig erreichbar war. Der «Beobachter» habe nie beabsichtigt, dem Informanten die «Story zu stehlen». Man sei auf das Material gar nicht angewiesen gewesen. Die Informationen des VgT seien für den «Beobachter» lediglich willkommene Hinweise auf Missstände gewesen. Journalistisch möge die Unterlassung des Hinweises auf die Quelle zwar ein Fehler gewesen sei, daraus könnten aber weder eine Absicht noch unlautere Motive gegenüber Kessler abgeleitet werden.

Schliesslich sei das vom «Beobachter» verwendete Bild in einem «natürli»-Betrieb entstanden. Da es aber nicht darum gegangen sei, einen einzelnen Betrieb anzuprangern, habe die Redaktion darauf verzichtet, den Ort klar zu kennzeichnen. Kesslers Bilder hätten krassere, nicht typische Zustände gezeigt. Der «Beobachter» habe sich deshalb für ein authentisches, aber weniger hartes Bild entschieden.

I. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

J. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 17. März 2010 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss Ziffer 4 der «Erklärung» dürfen sich Journalistinnen und Journalisten bei der Beschaffung von Informationen, Tönen, Bildern und Dokumenten keiner unlauteren Methoden bedienen. Der Presserat hat in seiner Stellungnahme 4/1994 das Verhalten einer Redaktion als unlauter bewertet, die eine von einer freien Journalistin unterbreitete unveröffentlichte Dokumentation unabgesprochen an eine andere Redaktion weitergab, welche gestützt auf die Dokumentation weiter recherchierte und darin enthaltene vertrauliche Informationen an Betroffene weiterleitete.

b) Bei der von ihm zusammenstellten Dokumentation über die «natürli»-Betriebe war Erwin Kessler allerdings nicht als Journalist, sondern als Interessenvertreter des VgT tätig. In dieser Funktion bot er dem «Beobachter» die Informationen an. Da er im Umgang mit Medien erfahren ist, musste ihm bewusst sein, dass der «Beobachter» seine Informationen selbstständig überprüfen, bearbeiten und auch Umfang sowie Stossrichtung einer allfälligen Publikation festlegen würde, ohne sich vom VgT Vorgaben machen zu lassen. Trotzdem wäre es aber nach Auffassung des Presserates empfehlenswert gewesen, wenn der Chefredaktor den Beschwerdeführer bei der Übernahme des Dossiers nochmals explizit auf diese ihm bereits bei einer früheren E-Mail-Korrespondenz mitgeteilten grundlegenden Spielregeln hingewiesen hätte.

c) Selbst wenn man aber davon ausginge, dass Erwin Kessler das Verhalten des «Beobachter» so interpretieren würde, dass die Redaktion die im VgT-Dossier enthaltenen Informationen in dem von ihm gewünschten Sinn weiterbearbeiten und veröffentlichen würde (Aufmachung als grosser Skandal), ist ein Verstoss gegen Treu und Glauben zu verneinen. Denn es wäre Kessler ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, seinen Einspruch gegen den «Änderungsvorschlag» der Redaktorin direkt mitzuteilen, anstatt ausschliesslich den Weg über den Chefredaktor zu wählen, zumal dessen Abwesenheit ihm durch eine automatische E-Mail-Abwesenheitsmeldung bekannt gemacht wurde.

2. a) Hätte der «Beobachter» im veröffentlichten Bericht aber nicht wenigstens den VgT als Quelle seines Berichts nennen sollen? Gemäss Richtlinie 4.7 zur «Erklärung» (Plagiat) handeln Journalistinnen und Journalisten unlauter, wenn sie Informationen, Präzisierungen, Kommentare, Analysen von einer Berufskollegin, einem Berufskollegen ohne Quellenangabe in identischer oder anlehnender Weise übernehmen. Der Presserat hat in der Stellungnahme 22/2001 eine Zeitung wegen Verletzung von Ziffer 4 der «Erklärung» gerügt, die einen kurz zuvor von einem anderen Medium veröffentlichten Primeur ohne Quellenangabe veröffentlichte.

b) Aus Sicht des Presserates erscheint es zwar fragwürdig, dass der «Beobachter» über die Missstände in den «natürli»-Betrieben berichtete, auf die Angabe der Informationsquelle aber gänzlich verzichtete. Dennoch ist eine Verletzung von Ziffer 4 der «Erklärung» auch unter diesem Gesichtspunkt zu verneinen. Zum einen hat die Zeitschrift mit dem Verschweigen dieser Informationsquelle nicht die Leistung eines anderen Mediums unterschlagen. Zudem enthält der Artikel vom 16. Oktober 2009 weder Fotos noch Formulierungen aus der VgT-Dokumentation.

3. Schliesslich ist die Beschwerde auch in Bezug auf das von der Beschwerde beanstandete Bild (Vermutung einer Bildfälschung im Sinne von Ziffer 4 der «Erklärung») abzuweisen. Der Presserat kann aufgrund der von den Parteien eingereichten Unterlagen nicht beurteilen, ob das vom «Beobachter» am 16. Oktober 2009 veröffentlichte Bild «typisch» für einen «natürli-Betrieb» ist oder ob im Gegenteil ein beliebiges Archiv-Bild mit einer falschen Bildlegende versehen wurde. Unter diesen Umständen ist eine Bildverfälschung nicht feststellbar.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «Beobachter» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «‹Natürli›. Bei den Schweinen hört die Liebe auf» vom 16. September 2009 die Ziffer 4 der «Erklärung» (Unlautere Informationsbeschaffung, Plagiat, Bildverfälschung) nicht verletzt.