Nr. 10/2010
Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Spital STS AG c. «Simmental Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 25. Juni 2009 veröffentlichte die «Simmental Zeitung» einen Bericht über die bevorstehende Gründung einer Interessengemeinschaft Spital. Deren Ziel ist die «Wahrnehmung der Interessen der Bevölkerung» im seit längerem dauernden Streit über den künftigen Spitalstandort in der Region Obersimmental/Saanenland. Der Titel des Berichts von Verleger Josef Kopp – «Nach 2½ Monaten noch keine Fragen beantwortet!» – bezieht sich auf eine Interpellation des Zweisimmer FDP-Grossrats Hans-Jörg Pfister, der im März 2009 vom Berner Regierungsrat eine Stellungnahme zum «Spitalstreit» verlangt hatte. Nach zweieinhalb Monaten habe der Parlamentarier erst eine «kurze nichtssagende Antwort aus Bern» erhalten. Bei der Gründung der IG Spital gehe es um «die völlig verfehlte Spitalpolitik und die aufgetischten Lügen der Spital STS AG, die Informationsverweigerung der Berner Regierung sowie deren gegenseitige Verfilzung. In einer womöglich weiteren Phase wird es der IG um Anliegen gehen, welche der Politik infolge fehlender Ethik, Sachkenntnis, Eigeninteressen und teils diktatorischer Drohungen entgleisen.»

Die Obersimmentaler Stimmbürger hätten das Spital Zweisimmen seinerzeit für ein «Trinkgeld» an den Kanton abgetreten. Dieses falle nun in die Zuständigkeit der Spital STS AG (Spitalgruppe Simmental-Thun-Saanenland AG). «Bekanntlich wurden die unabgeklärten Bauvorhaben eines neuen Spitals auf Saanenmöser am legendären 18. Dezember 2007 anlässlich einer Medien-Orientierung kommuniziert. Die Medienvertreter wurden bewusst missbraucht, um vor allem die Simmentaler, die Behörden und Ärzte gegeneinander auszuspielen. Verantwortlich und Ausführende für diese Ungeheuerlichkeiten waren: VR-Präsident Hans Peter Schüpbach, CEO Beat Straubhaar, VR Andreas Hurni sowie als Mitläufer VR Albert Sommer aus der Lenk, der nicht die Interessen des Simmentals vertrat. Unglaublich, wie viel Ungemach diese Verwaltungsräte unter die Tausenden von Simmentalern sowie das Spitalpersonal brachten.»

B. Am 14. September 2009 gelangte die anwaltlich vertretene Spital STS AG mit einer Beschwerde gegen die «Simmental Zeitung» an den Presserat. Die Zeitung habe mit der Veröffentlichung des obengenannten Berichts die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörungspflicht) verletzt, weil sie die Verantwortlichen der STS AG vor der Publikation nicht zu den gegenüber diesen erhobenen schweren Vorwürfen angehört und deren Stellungnahme im Artikel nicht wiedergegeben habe. Der beanstandete Bericht stehe im Kontext einer «Kampagne gegen die Spital STS AG und deren Organe». Bereits im Zeitraum vom November 2008 bis Februar 2009 habe die «Simmental Zeitung» bzw. deren Vorgängerin, der «Obersimmentaler», in ihrer Berichterstattung jegliche Fairness vermissen lassen. Auch sei die namentliche Nennung der Organe der Spital STS AG unnötig. Sie diene einzig dem Zweck, die «so an den Pranger gestellten Personen, im Zusammenhang mit Begriffen wie ‹Ungeheuerlichkeiten›, öffentlich anzuschwärzen».

C. Am 26. Oktober 2009 wies Fabian Kopp, Geschäftsführer der Kopp Druck und Grafik, Zweisimmen, Herausgeberin der «Simmental Zeitung», die Beschwerde der STS AG als unbegründet zurück. Die «Simmental Zeitung» habe sachlich und korrekt berichtet sowie auch alle Seiten und Meinungen zu Wort kommen lassen. Insgesamt habe die Zeitung 91 Beiträge zum Thema veröffentlicht, darunter sämtliche Medienmitteilungen der Spital STS AG sowie einen Leserbrief des CEO.

Es sei Aufgabe der Presse, auf Missstände, wie das in verschiedener Hinsicht nicht durchdachte Projekt eines Spitalneubaus auf dem Saanenmöser hinzuweisen. Für die im beanstandeten Bericht erwähnten «Lügen» gebe es mehrere Beispiele. So habe Verwaltungsrat Andreas Hurni versprochen, die Gemeinde Saanen werde für das (für den Neubau benötigte) Grundstück und den Brückenbau aufkommen. Bis heute habe der Saaner Souverän dieses kompetenzüberschreitende Vorhaben des damaligen Gemeindepräsidenten weder genehmigt noch darüber befunden. Mehrmals habe die Spital STS AG zudem fälschlicherweise öffentlich behauptet, im Spital Saanen seien zwei Operationssäle in Betrieb, währenddem das Spital Zweisimmen nur über einen OP verfüge.

D. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Klaus Lange, Philip Kübler, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

E. Am 2. Februar 2010 reichte die Spital STS AG dem Presserat den Artikel «Albert Sommer demissioniert» («Simmental Zeitung» vom 28. Januar 2010) nach. Auch hier habe die Zeitung wiederum die Pflicht zur Anhörung der Betroffenen vor der Publikation schwerer Vorwürfe verletzt. «Soweit dies ohne wesentliche Verfahrensverzögerung noch möglich ist», ersuche die Beschwerdeführerin, die «neue Berichterstattung im hängigen Verfahren vor dem Presserat noch zu berücksichtigen».

F. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 26. November 2009 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss Art. 1 Abs. 4 erstreckt sich die Zuständigkeit des Schweizer Presserates auf den redaktionellen Teil oder damit zusammenhängende berufsethische Fragen sämtlicher öffentlichen, periodischen und/oder auf die Aktualität bezogenen Medien. Der «Simmentaler» – gemäss Eigendeklaration mit einer Haushaltabdeckung von 99 Prozent im Obersimmental und einer solchen von rund 75 Prozent im gesamten Simmental – berichtet als Wochenzeitung über die aktuellen Ereignisse in seinem Verbreitungsgebiet und entspricht damit einem journalistischen Medium. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass offenbar ein grosser Teil der im «Simmentaler» erscheinenden Artikel nicht von Journalisten, sondern von lokalen «Korrespondenten» stammt. Verantwortlich für die Publikation bleibt die Redaktion bzw. bei Fehlen einer solchen der Verlag als Herausgeber.

b) In zeitlicher Hinsicht stellt der Presserat fest, dass die Beschwerdeführerin ihre Beschwerde gegen den zur Hauptsache beanstandeten Bericht «Nach 2½ Monaten noch keine Fragen beantwortet!» vom 25. Juni 2009 fristgerecht eingereicht hat. Abgelaufen ist die Beschwerdefrist von sechs Monaten seit der Publikation (Art. 10 Abs. 1 des Presseratsreglements) mit Ausnahme des am 2. Juli 2009 erschienenen Artikels «Interessengruppe für vernünftige Spitalpolitik» – zu dem die Beschwerdeführerin jedoch keine konkreten Rügen vorbringt – hingegen bei den weiteren von der Spital STS AG angeführten Berichten.

c) Im Beschwerdenachtrag vom 2. Februar 2010 überlässt es die Spital STS AG zudem dem Ermessen des Presserats, das Verfahren auf den nachträglich, 28. Januar 2010 erschienenen Bericht «Albert Sommer demissioniert» zu erweitern. Der Presserat verzichtet aus zwei Gründen darauf. Zum einen müsste der Presserat die «Simmental Zeitung» auch zu diesem Bericht anhören. Dies hätte – weil die Presseratskammern als Milizgremien lediglich alle zwei bis drei Monate tagen – die Behandlung der Beschwerde noch einmal erheblich verzögert. Zum anderen bezieht sich auch die Beschwerdeergänzung wie bereits die erste Eingabe auf die Pflicht zur vorgängigen Anhörung des von schweren Vorwürfen Betroffenen, wenn auch im Zusammenhang mit einem anderen Medienbericht.

d) In ihrem Antrag an den Presserat rügt die Beschwerdeführerin lediglich eine Verletzung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» (Anhörungspflicht). Zwar beanstandet sie zusätzlich auch die Namensnennung ihrer Verwaltungsräte, merkt dazu aber in der Beschwerdeschrift lediglich an, sich zusätzlich vorzubehalten, auch die Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» (Persönlichkeitsschutz) geltend zu machen. Ungeachtet davon, weist der Presserat aber darauf hin, dass Medien, die über die Aktivitäten der Beschwerdeführerin berichten, die Namen der Verwaltungsräte in diesem Zusammenhang im Prinzip nennen dürfen.

2. a) Gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe zu befragen und deren Stellungnahme im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Gemäss der Praxis des Presserates zu dieser sog. Anhörungspflicht gelten Vorwürfe als «schwer» im Sinne dieser Richtlinie, wenn ein Medienbericht einem Betroffenen ein illegales oder zumindest unredliches Verhalten vorwirft (vgl. z.B. die Stellungnahmen 66/2008 und 6/2010).

b) Zwar kommen die von der «Simmental Zeitung» gegenüber der Beschwerdeführerin und ihren Organen erhobenen Vorwürfe mehr als pauschaler Rundumschlag denn als konkrete Sachvorwürfe daher. Entsprechend dürfte die Kritik von der Leserschaft kaum vollständig zum Nennwert genommen werden. Dies ändert aber nichts daran, dass die Zeitung den Exponenten der STS AG mit ihren Vorwürfen («aufgetischte Lügen», «Ungeheuerlichkeiten») zumindest ein unredliches Verhalten unterstellt. Entsprechend wäre die Zeitung verpflichtet gewesen, entweder die Betroffenen vor der Publikation zu den neuen Vorwürfen anzuhören oder – soweit es sich nicht um neue Vorwürfe handelte – zumindest auf deren frühere Stellungnahme hinzuweisen. Die Pflicht zur Anhörung vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe gilt auch dann, wenn – wie vorliegend – bereits eine grosse Zahl von Berichten zum gleichen Thema erschienen ist. Denn die «Simmental Zeitung» kann nicht davon ausgehen, dass jeder Leser des Berichts Kenntnis von den früher erschienenen Berichten hat (Stellungnahme 10/2008).

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit der Presserat darauf eintritt.

2. Die «Simmental Zeitung» wäre verpflichtet gewesen, vor der Veröffentlichung des Berichts «Nach 2½ Monaten noch keine Fragen beantwortet!» vom 25. Juni 2009 die Spital STS AG bzw. deren Organe anzuhören und deren Stellungnahme zumindest kurz wiederzugeben. Mit dieser Unterlassung hat die Zeitung die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt.