Beschwerde gegen «20 Minuten online» teilweise gutgeheissen: Reflexartige Publikation von Behördeninformationen ist problematisch

Drucken

Am 2. Mai 2022 veröffentlichte «20 Minuten online» einen Artikel mit der Oberzeile «Ukraine ist sich sicher» und dem Titel «Diese zehn Männer haben in Butscha gemordet und gefoltert». Darunter findet sich eine Bildstrecke mit den Porträts von jungen Männern, die alle namentlich genannt und eindeutig zu erkennen sind. Ein Leser erhob dagegen Beschwerde: «20 Minuten online» entstelle Tatsachen und verletze mit der Verwendung von Bildern und Namen die Privatsphäre der abgebildeten Personen. 

Der Presserat kommt zum Schluss, dass aus dem Inhalt des Artikels deutlich genug hervorgeht, dass es sich bei der Oberzeile um eine Vermutung handelt. «20 Minuten online» hat demnach keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen und nicht gegen den Berufskodex verstossen. Anders verhält es bei der Verwendung der Bilder und der Namensnennung. Bei den zehn Personen handelt es sich mutmasslich um russische Staatsangehörige, die möglicherweise Kriegsbeteiligte des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine sind. In diesem Fall ist das private Interesse der Abgebildeten höher zu werten als das öffentliche Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung. Die Informationen stammten offensichtlich von den ukrainischen Behörden. Doch selbst wenn eine Strafverfolgungsbehörde Namen zur Publikation freigibt, entbindet dies Medienschaffende nicht von der Pflicht, nach berufsethischen Kriterien zu prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist. Medienschaffende sollten nicht reflexartig publizieren, was Behörden zur Publikation freigeben. Der Presserat kommt zum Schluss, dass die Privatsphäre der zehn Personen verletzt wurde.

Zur Stellungnahme 3/2023