I. Sachverhalt
A. Am 17. Mai 2011 titelte «20 Minuten»: «ESC 2012 in Baku: Es drohen Chaos und Schwulenhass». Laut dem Bericht von Niklaus Riegg befürchte man beim Schweizer Fernsehen, der European Song Contest 2003 im aserbeidschanischen Baku werde schwierig. Bei einem Auftritt von Anna Rossinelli im aserbeidschanischen Fernsehen im Februar 2011 habe man veraltete Infrastrukturen und chaotische Zustände angetroffen. «Noch schlimmer ist die Stimmung bei der grossen schwulen Fangemeinde des ESC. Viele haben Angst, dass sie in der Kaukasusrepublik nicht akzeptiert werden und ihnen Gewalt droht.» So warne etwa das deutsche Auswärtige Amt: «‹Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Polizei ein homosexuelles Paar festsetzt und erst gegen Zahlung eines Geldbetrages wieder auf freien Fuss setzt.› Laut Menschenrechtsorganisationen müssen Schwule im Knast mit Folter von Seiten der Polizei und Gewalt durch Mitgefangene rechnen.»
B. Online begleitete eine Bilder-Strecke mit dem Titel «Aserbai … was?» den obengenannten Bericht. Darin zeigt «20 Minuten» elf Bilder zu den Unterthemen, «Warum ist Aserbaidschan beim Contest dabei?», Lage, Klima, Bevölkerung, Anreise, Wirtschaft, Politik, Menschenrechte, Konflikte, Musik und Sport. Bildlegenden schneiden die einzelnen Themen kurz an.
C. Am 24. Juni und 9. Juli 2011 beschwerte sich der Präsident des Kulturvereins der Aserbeidschaner in der Schweiz (nachfolgend: KVAS), Gasim Nasirov, beim Presserat über die Berichterstattung von «20 Minuten», welche gegen die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.3 (Archivdokumente), 3.4 (Illustrationen), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 4.5 (Interview), 8.2 (Diskriminierungsverbot) und 8.4 (Bilder über Kriege und Konflikte) verstosse.
Niklaus Riegg vermittle mit seinem Bericht absichtlich ein sehr negatives Bild über Aserbeidschan, ohne je selber dort gewesen zu sein. Die Leserschaft von «20 Minuten» könne zudem kaum einschätzen, inwiefern der Artikel auf Fakten beruhe und was kommentierende Einschätzungen des Autors seien.
Beim in der Printausgabe abgedruckten Bild «mit der schlimmsten Ecke der Hauptstadt Baku» werde unterschlagen, dass es aus dem Jahr 2008 stamme. In der Online-Bilder-Strecke zeige «20 Minuten» armenische Soldaten (Guerillas) und berichte in der Legende über den Konflikt um Bergkarabach. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb «20 Minuten» armenische Soldaten zeige, wenn es um Aserbeidschan gehe. Zudem weise die Legende nicht darauf hin, dass es sich nicht um aserbaidschanische, sondern um armenische Soldaten handle. Letztere seien gut identifizierbar, was die Frage aufwerfe, ob der Autor des Berichts deren Einwilligung eingeholt habe.
Im Nachgang zur Publikation des Artikels habe Gasim Nasirov die Redaktion kontaktiert. In der Folge habe Kian Ramezani mit ihm ein Telefoninterview geführt. «20 Minuten» habe ihm anschliessend die Niederschrift des Interviews per E-Mail zugestellt. Der Text habe ihn schockiert. «Es hat mir deutlich gezeigt, dass das ganze Gespräch eine totale Farce war und dass es das Ziel dieses Gesprächs war, den guten Ruf von Aserbaidschan mit meiner Hilfe blosszustellen.» Mit seinem Fragestil habe der Interviewer keinerlei Bereitschaft gezeigt, Aserbaidschan von einer positiveren Seite zu präsentieren. «Aber der schlimmste Punkt der Interviewfragen war die letzte: ‹Wenn Aserbaidschan ein so grossartiges Land ist, warum sind Sie dann geflüchtet?›.» Zudem habe der Journalist per E-Mail neue Fragen gestellt, die beim Telefoninterview nicht angesprochen worden seien.
Schliesslich wirkten die Titel «ESC 2012 in Baku: Es drohen Chaos und Schwulenhass» und «Aserbai … was?» diskriminierend. Ebenso gelte dies für die Illustration des Themas «Bevölkerung» mit einem Bild, das eine Frau mit Burka zeige. Ein solches Bild sei in der Realität in Aserbeidschan äusserst selten.
D. Am 30. August 2011 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion von «20 Minuten» die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Beschwerde beanstande in erster Linie die Auswahl der Bilder für die Bildstrecke. Mit Ausnahme des Bildes zum Thema «Menschenrechte» und desjenigen zum Konflikt in der Region Bergkarabach seien die ausgewählten Bilder neutral. Ohnehin schreibe aber die Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» (Wahrheitssuche) keine ausgewogene Berichterstattung vor, sondern verbiete lediglich die falsche Darstellung von Tatsachen.
In Bezug auf die geltend gemachte Unmöglichkeit, zwischen Fakten und Kommentaren zu unterscheiden, weist «20 Minuten» darauf hin, die Bildstrecke «Aserbai … was?» basiere weitgehend auf Fakten, während der Bericht «ESC 2012 in Baku: Es drohen Chaos und Schwulenhass» kommentierend gehalten sei. Allerdings verweise der Autor jeweils auf die Quelle und kennzeichne wertende Äusserungen als Zitate Dritter.
Mit der Bilder-Strecke vermittle «20 Minuten» ein Gesamtbild von Aserbeidschan. Die Redaktion impliziere dabei keineswegs, dass es sich um topaktuelle Bilder handle. Eine Kennzeichnung der Bilder als Archivbilder sei unter diesen Umständen entbehrlich. Und der Konflikt in der Region Bergkarabach müsse nicht zwingend mit aserbaidschanischen Soldaten illustriert werden.
Eine Anhörung der Betroffenen sei in diesem Fall entbehrlich, da der Bericht lediglich Vorwürfe gegen den Staat Aserbeidschan, nicht aber gegen konkrete natürliche oder juristische Personen erhebe. In Bezug auf das angeblich geführte Interview weist «20 Minuten» zudem darauf hin, dass «Herr Nasirov im Bericht weder namentlich erwähnt» ist, «noch wird sonst in irgendeiner Weise Bezug auf ihn genommen».
Die Information, wonach Schwule in Aserbeidschan mit Repression rechnen müssten, werde sachlich dargelegt und beruhe auf mehreren objektiven Quellen («The Times», Menschenrechtsorganisationen, deutsches Auswärtiges Amt). Ebenso wenig sei nachvollziehbar, inwiefern die Abbildung einer Frau mit Burka diskriminierend sei. Der Autor impliziere damit keineswegs, dass die Mehrheit der Frauen in Aserbaidschan so durch die Strassen ginge.
Schliesslich sei das Einholen der Einwilligung der Abgebildeten nicht Gegenstand der Richtlinie 8.4. Ohnehin ermöglichten die Bilder nicht, einzelne Personen zu erkennen.
D. Am 5. September 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. Dezember 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Die Beschwerde des KVAS beruht in erster Linie auf dem Vorwurf, «20 Minuten» widerhandle gegen Grundsätze der journalistischen Berufsethik, indem der Autor mit dem beanstandeten Artikel «ESC 2012 in Baku: Es drohen Chaos und Schwulenhass» und der Online-Bilder-Strecke ein «sehr negatives Bild über Aserbaidschan» zeichne. Die Bildauswahl verstärke zudem die Unausgewogenheit der Darstellung.
Laut ständiger Praxis des Presserats ist aus der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» jedoch keine Pflicht zu «objektiver» und ausgewogener Berichterstattung abzuleiten (vgl. zuletzt die Stellungnahmen 17, 27 und 49/2011 mit weiteren Hinweisen). Zudem hat der Presserat unter anderem bereits in den Stellungnahmen 1/1992 und 7/2000 darauf hingewiesen, dass die Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen (einschliesslich der Bilder und Illustrationen) im redaktionellen Ermessen liegt. Unter berufsethischen Gesichtspunkten ist es zudem zuläss
ig, einen Bericht über einen Anlass oder ein Thema auf einen oder mehrere aus journalistischer Sicht relevante Aspekte zu beschränken.
«20 Minuten» ist mithin nicht verpflichtet, in einem Bericht über die Austragung des Eurovision Song Contest 2012 in Baku ein ausgewogenes, «objektives» Porträt über das Austragungsland zu veröffentlichen. Vielmehr darf Niklaus Riegg auch ein kritisches – aus Sicht des KVAS einseitiges, verzerrendes – Bild über Aserbaidschan zeichnen und sich dabei auf einzelne, ausgewählte Aspekte beschränken, ohne dadurch die «Erklärung» zu verletzen. Ein kritischer, in den Worten des KVAS «provokativer» Artikel, der sich nicht um Ausgewogenheit kümmert, verstösst insbesondere nicht von vornherein gegen die Pflicht zur Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1 zur «Erklärung»). Und es nicht Sache des Presserates, mit einer eigenen Recherche beispielsweise zu überprüfen, auf welchem technischen und organisatorischen Stand sich das Fernsehen in Aserbeidschan bewegt und ob Homosexuelle dort Repressionen zu befürchten haben oder ob sie – wie dies die Beschwerde geltend macht – dort nicht mehr als im Rest Europas gefährdet sind. Eine allfällige Verletzung der Wahrheitspflicht wäre wenn schon vom Beschwerdeführer zu belegen. Der Verweis auf einen You-Tube-Link sowie auf eine aserbaidschanische Gay-Website genügt dafür nicht.
2. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die weiteren Rügen des KVAS – soweit diese in den beiden Eingaben vom 24. Juni und 9. Juli 2011 überhaupt nachvollziehbar dargelegt sind – als unbegründet:
a) Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.3). Nach «Meinung» des KVAS kann die Leserschaft im Bericht «ESC 2012 in Baku: Es drohen Chaos und Schwulenhass» nicht zwischen Fakten und kommentierenden Wertungen des Autors unterscheiden. Eine nähere Begründung dieser Auffassung liefert die Beschwerde allerdings nicht. Demgegenüber sind für den Presserat sowohl die im Artikel behaupteten Fakten (Auftritt von Anna Rossinelli im aserbeidschanischen TV; veraltete Infrastruktur, chaotische Organisation; Bericht von «The Times», Warnung des deutschen Auswärtigen Amtes und von «Menschenrechtsorganisationen») als auch die darauf abgestützten kommentierenden Wertungen (Song Contest in Aserbaidschan werde schwierig, es drohten chaotische Verhältnisse und die schwule Fangemeinde befürchte Repressionen und drohe deshalb auszubleiben) je als solche erkennbar.
b) Archivbilder und Illustrationen (Richtlinien 3.3 und 3.4 zur «Erklärung»): Wie in der Beschwerdeantwort von «20 Minuten dargelegt, ist auch die Richtlinie 3.3 (Archivbilder) im Zusammenhang mit der Ziffer 3 der «Erklärung» (Quellennennung) zu interpretieren und mithin zu fragen, ob die Angabe des Aufnahmedatums beim abgedruckten Bild der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku als ein für das Verständnis der Leserschaft unabdingbares Informationselement zu werten ist. Nach Auffassung des Presserates ist dies offensichtlich zu verneinen. Ebenso wenig war es im Kontext einer Online-Bilder-Strecke, die lediglich ein oberflächliches Gesamtbild bietet, für das Verständnis der Leserschaft unabdingbar, bei einem zur Illustration des Konflikts in Bergkarabach verwendeten Bild explizit darauf hinzuweisen, dass dieses nicht aserbaidschanische, sondern armenische Soldaten zeigt. Bei diesem Bild verkennt die Beschwerde zudem die Tragweite der Richtlinie 8.4 zur «Erklärung» (Bilder von Kriegen und Konflikten), welche im Kontext der Ziffer 8 der «Erklärung» (Respektierung der Menschenwürde, Diskriminierung) zu interpretieren ist. Es ist nicht annäherungsweise ersichtlich, inwiefern durch die Veröffentlichung des Bildes mit posierenden Soldaten deren Menschenwürde verletzt sein soll.
c) Anhörung bei schweren Vorwürfen und Interview (Richtlinien 3.8 und 4.5 zur «Erklärung»): Auf diese Rügen das KVAS tritt der Presserat nicht ein. Bei der Richtlinie 3.8 beschränkt sich die Beschwerde darauf, deren Wortlaut wiederzugeben. Hingegen führt der KVAS mit keinem Wort aus, wer nach seiner Auffassung zu welchen schweren Vorwürfen hätte angehört werden sollen. Und ebenso wenig kann der Presserat zu einem vom Beschwerdeführer behaupteten Interview Stellung nehmen, das «20 Minuten» offenbar nie veröffentlicht hat und zu dem der KVAS dem Presserat nicht einmal die kritisierte Transkription des Interviews eingereicht hat, auf die sich die Beschwerde beruft.
d) Diskriminierungsverbot (Richtlinie 8.2 zur «Erklärung»): Genau so wenig wie der kritische Titel «ESC 2012 in Baku: Es drohen Chaos und Schwulenhass» von vornherein gegen die Wahrheitspflicht verstösst, ist für den Presserat aus der Beschwerdebegründung ersichtlich, welche durch Ziffer 8 der «Erklärung» geschützte Minderheit dadurch diskriminiert sein soll. Denn entgegen der nicht nachvollziehbaren Argumentation des KVAS ist die Behauptung, ein Staat diskriminiere eine gesellschaftliche Minderheit, nicht ihrerseits als diskriminierend zu werten. Es ist auch nicht von vornherein diskriminierend, die Bevölkerung Aserbeidschans, laut «20 Minuten» mehrheitlich Schiiten, symbolisch mit dem Bild einer verschleierten Frau zu illustrieren. Zumal der KVAS nicht geltend macht, in Aserbeidschan gebe es überhaupt keine verschleierten Frauen, sondern lediglich einwendet, ein grosser Teil der Gesellschaft sei aufgrund der langjährigen Sowjetherrschaft säkularisiert.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2. «20 Minuten» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «ESC 2012 in Baku: Es drohen Chaos und Schwulenhass» vom 17. Mai 2011 und der zugehörigen Online-Bilder-Strecke «Aserbai … was?» die Ziffern 1 (Wahrheitssuche), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Archivdokumente, Illustrationen sowie Anhörung bei schweren Vorwürfen), 4 (Interview) und 8 (Diskriminierungsverbot, Bilder über Kriege und Konflikte) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.