Nr. 62/2007
Wahrheitspflicht / Unterschlagung und Entstellung von Informationen

(Filmclub Xenix c. «20 Minuten») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 28. Dezember 2007

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I. Sachverhalt

A. Am 8. Februar 2007 berichtete «20 Minuten» auf der Titelseite mit der Schlagzeile «Sado-Maso-Film wird in der Kirche gezeigt», der Film «Salò oder die 120 Tage von Sodom» solle am kommenden «Sonntag in einer Zürcher Kirche über die Leinwand flimmern: Im offenen Gotteshaus St. Jakob zeigt das Kino Xenix den Film (…) ohne Altersbeschränkung, obwohl der Streifen in Videotheken erst ab 18 Jahren erhältlich ist. Die reformierte Landeskirche ist befremdet (…) Die EVP fordert eine Absetzung der Vorführung.» Im Bericht von Alexandra Roder auf Seite 3 der gleichen Ausgabe («Pasolini-Film: Im Laden ab 18 – in der Kirche für alle») wird der Programmleiter des Kino Xenix, welches seit sieben Wochen in der Zürcher Kirche St. Jakob ein Gastspiel habe, dahingehend zitiert, es gebe keine Altersbeschränkung. «Das haben wir beim Kino Xenix nie (…) Dies wäre sowieso ein Witz, da im Zeitalter der DVDs jeder den Film im Laden holen kann.» Auch der Pfarrer habe keine Skrupel. «Wir haben mehrere Filme von Pasolini gezeigt», da gehöre dieser eben auch dazu. Und schliesslich finde nach der Vorführung noch eine Diskussion statt.

B. Am 22. Februar 2007 gelangte der Filmclub Xenix mit einer Beschwerde gegen den Bericht von «20 Minuten» vom 8. Februar 2007 an den Presserat. Die Zeitung habe die unwahre Behauptung verbreitet, der umstrittene Film von Pier Paolo Pasolini würde vom Filmclub ohne Altersbeschränkung gezeigt. Dies obwohl sowohl der Programmleiter als auch der Pfarrer der Journalistin klar gemacht hätten, dass keine Personen unter 18 Jahren zugelassen würden. So habe der Programmleiter wörtlich gesagt: «Unser bestens geschultes Kassenpersonal kann sehr wohl beurteilen, ob bestimmte Filme für gewisse Personen nicht geeignet sind. Ausserdem ist die Altersfreigabe für das Xenix kein Thema, weil unser Zielpublikum deutlich über zwanzig ist – im Fall der Pasolini-Retrospektive sind die Besucher/innen zwischen 35 und 50 Jahre alt. Vollends müssig wird die ganze Diskussion, aufgrund der Tatsache, dass der Film überall auf DVD erhältlich ist.» Der Bericht suche zudem mit den Sätzen «Ein Film voller sexueller Perversionen, Folter und Mord soll diesen Sonntag in einer Zürcher Kirche über die Leinwand flimmern» und «In ‹Salò oder die 120 Tage von Sodom› werden Menschen in perversen Orgien zu Tode gequält, aufgehängt und gleichzeitig vergewaltigt, nackt an Hundeleinen geführt und dazu gezwungen, Kot zu essen» bewusst den Skandal und entstelle Tatsachen. «20 Minuten» unterschlage dabei, dass der Film am Ende einer umfassenden Retrospektive mit Filmen von Pier Paolo Pasolini stehe und dass es sich «um einen 32 Jahre alten politischen Film handelt, der seinen Platz in der Filmgeschichte hat, sexualisierte Gewalt in Ausnahmesituationen anprangert und heute in keinem europäischen Land mehr verboten ist». Mit der unwahren und verzerrenden Publikation habe «20 Minuten» die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 3 (Entstellung und Unterschlagung von wichtigen Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

C. Am 14. Mai 2007 wies die Redaktorin Alexandra Roder in Absprache mit Chefredaktor Marco Boselli die Beschwerde namens der Redaktion von «20 Minuten» als unbegründet zurück. Das Kino Xenix habe weder im Programm noch auf seiner Website darauf hingewiesen, dass nur Personen ab 18 Jahren Zutritt zum umstrittenen Film hätten. Es sei zwar richtig, dass sich der Programmleiter wie folgt äusserte: «Unser bestens geschultes Kassenpersonal kann sehr wohl beurteilen, ob bestimmte Filme für gewisse Personen nicht geeignet seien.» Fakt sei jedoch, dass er bestätigt habe, es gebe keine offizielle Altersbeschränkung. An diese müssten sich laut Polizei aber sowohl Videotheken als auch Kinos halten. Der beanstandete Artikel suche weder bewusst einen Skandal noch entstelle er Tatsachen.

D. Am 10. Mai 2007 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer und den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever sowie Esther Diener-Morscher behandelt.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 28. Dezember 2007 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Bericht von «20 Minuten» vom 8. Februar 2007 kritisiert zweierlei: Zum einen die unbestrittene Tatsache, dass der Film «Salò oder die 120 Tage von Sodom» in einer Zürcher Kirche gezeigt werden sollte. Zum anderen, dass eine Altersbeschränkung für diese Vorstellung nicht vorgesehen gewesen sei.

Für den Presserat ist es aufgrund der zum Teil abweichenden Darstellung der Parteien nicht möglich, genau zu rekonstruieren, was beim Recherchegespräch zwischen Journalistin und Programmleiter gesagt worden ist. Immerhin ist festzustellen, dass «20 Minuten» die Darstellung des Filmclubs Xenix nicht generell als unwahr zurückweist. Alexandra Roder macht in der Beschwerdeantwort hauptsächlich geltend, der Hinweis auf die Altersbeschränkung habe sowohl auf dem Programm wie auch auf der Website des Filmclubs gefehlt. Diese administrative Unterlassung konnte man dem Filmclub offenbar zu Recht vorwerfen. Zudem wendet sie ein, der Programmleiter habe bestätigt, dass es keine offizielle Altersgrenze gebe. Der im Bericht vom 8. Februar 2007 erhobene Vorwurf geht jedoch wesentlich weiter. Ein unbefangener Leser wird ihn dahingehend verstehen, der Filmclub foutiere sich unverständlicherweise um jegliche Altersbeschränkung und beabsichtige, den umstrittenen Film unbefugterweise auch Minderjährigen zu zeigen. Selbst wenn sich der Programmverantwortliche des Filmclubs etwas unverständlich ausgedrückt haben mag, lassen aber weder die Unterlassung des Hinweises auf Programm und Website noch der unbestrittene Teil des Statements des Programmleiters, «unser bestens geschultes Kassenpersonal kann sehr wohl beurteilen, ob bestimmte Filme für gewisse Personen nicht geeignet seien» diese von «20 Minuten» der Leserschaft zumindest suggerierte Schlussfolgerung zu. Hätte der Artikel zudem erwähnt, dass sich der Filmclub – was von «20 Minuten» zumindest nicht explizit bestritten wird – ohnehin nicht an ein derart junges Zielpublikum richtet – hätte sich die Brisanz des Vorwurfs von vornherein entschärft. Deshalb ist in diesem Punkt eine Verletzung der Ziffern 1 und 3 der «Erklärung» zu bejahen und die Beschwerde entsprechend teilweise gutzuheissen.

2. Nicht begründet erscheint dem Presserat hingegen die weitere Rüge des Beschwerdeführers, «20 Minuten» habe es pflichtwidrig unterlassen, die filmgeschichtliche und politische Bedeutung des Films «Salò oder die 120 Tage von Sodom» zu erwähnen. Zwar hätte ein entsprechender Hinweis es für die Leserschaft eher nachvollziehbar gemacht, weshalb der Filmclub den umstrittenen Film überhaupt zeigen wollte. Für das Verständnis der im Zentrum des Berichts stehenden Kritik am Vorführungsort und am Fehlen eines Hinweises auf eine Altersgrenze war dies jedoch nicht zwingend. Zumal «20 Minuten» wenigstens erwähnt, dass der Film im Rahmen einer Reihe von Filmen von Pasolini gezeigt wurde und zudem nach der Vorführung auch eine Diskussion vorgesehen war.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «20 Minuten» hat mit der Berichterstattung über die geplante Vorführung des Films «Salò oder die 120 Tage von Sodom» in der Ausgabe vom 8. Februar 2007 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 3 (Entstellung von Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Allein aus der Unterlassung eines Hinweises auf eine Altergrenze im Programm und auf der Website des Filmclubs Xenix sowie aus der allenfalls unklaren Auskunft durfte die Zeitung nicht ableiten, der Filmclub beabsichtige, den umstrittenen Film in Miss
achtung der gesetzlichen Altersbeschränkungen auch Personen unter 18 Jahren zu zeigen.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.