Nr. 38/2015
Wahrheitspflicht / Quellenbearbeitung / Berichtigung / Identifizierung / Menschenwürde

(X. c. «Das Magazin») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 28. September 2015

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I. Sachverhalt

A. In der Ausgabe Nr. 26 vom 28. Juni 2014 veröffentlichte «Das Magazin» des «Tages-Anzeiger» den Artikel «Die Dame in Schwarz» von Erwin Koch. Der Lead lautete: «Warum, Mutter, wolltest du mich nicht? Warum bin ich mit offenem Schädel zur Welt gekommen? Ein Leben lang hat Ursula von Arx Fragen gestellt. Jetzt fand sie die Antworten.» Im Artikel zeichnet Erwin Koch die Lebensgeschichte von ‹Ursula von Arx› in Ich-Form nach. Er lässt die fast Siebzigjährige erzählen, dass sie mit einem offenen Schädel und einem Buckel in einem Heim für ledige Mütter zur Welt kam. Wie sie bis zu ihrem dritten Altersjahr bei einem Onkel lebte, danach zu Familie F. mit fünf Kindern nach Kerns gebracht wurde. Sie schildert in ihren Erinnerungen an ihre Kindheit, wie sie irgendwann erfuhr, dass sie neben ihrer Pflegmutter auch eine richtige Mutter hat, die sie dann ab ihrem 11. Lebensjahr in unregelmässigen Abständen traf. Sie erzählt auch, dass sie sich nicht wohl und geborgen in der Familie gefühlt hat und berichtet von einigen negativen Erfahrungen und Vorkommnissen. Die Ich-Erzählerin beschreibt u.a. ihren Kampf mit ihrer Behinderung und den Schmerzen, den Trost, den sie im Cellospiel findet, wie sie nach dem Tod ihrer Mutter sich aufmacht, um Antworten auf ihre Fragen zu finden, herausfindet, wer ihr Vater war.

B. Am 30. Juni 2014 reichte X. im Namen der Familie F. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel des «Magazin» ein. Er macht eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Der Interviewtext entspreche auf den Seiten 18 und 19 keineswegs der Wahrheit. Eine wilde Fantasie sei geäussert und vom Autor unverifiziert publiziert worden. Der Autor habe keinerlei Rückfragen bei der Familie F. vorgenommen. Weiter sieht er Ziffer 3 der «Erklärung» dadurch verletzt, dass es der Autor unterlassen habe, die Quellen zu recherchieren und die Aussagen von ‹Ursula von Arx› zu verifizieren. Gestützt auf Ziffer 5 der «Erklärung» sei eine Berichtigung des materiellen Inhalts vorzunehmen. Im Artikel würden persönliche Daten preisgeben, die von Personen aus Obwalden, aus Kerns, weiteren Gemeinden und weiten Kreisen mühelos identifiziert werden könnten. Informationen wie Familie F. mit Hutmacherin und Schreiner, fünf Kinder, Tochter Helen, Sohn Elektriker und so weiter verletzten die laut Ziffer 7 der «Erklärung» geschützte Privatsphäre der Familie massiv, diese sei stadtbekannt, prominent im Dorf und in Obwalden als eine wohlbestellte Familie bekannt. Die Familie hätte es verdient, mit Lob und Anerkennung bedacht zu werden, stattdessen seien andere, u.a. der Vater in den siebten Himmel befördert worden. Zudem habe der Artikel die Menschenwürde der verstorbenen Eltern F. gröblich und unwiderruflich verletzt. Diese hätten ein behindertes Kleinkind aufgenommen und bestmöglich in die Familie integriert. Die Eltern und die fünf Geschwister mit ihren neun Kindern würden im sehr überschaubaren Gebiet Obwaldens diskriminiert und in ihrer Menschenwürde unwieder-bringlich tief verletzt. Damit sei auch Ziffer 8 der «Erklärung» verletzt.

C. Am 12. November 2014 beantwortete der Rechtsdienst von Tamedia die Beschwerde und schloss auf deren Abweisung. Beim Artikel handle es sich um einen Bericht, der bewusst und in einer für die Leserschaft klar erkennbaren Weise die Optik von ‹Ursula von Arx› wieder-gebe. Für Reportagen aus Sicht der Betroffenen lasse die Medienethik Raum. Ein Journalist sei grundsätzlich nicht zu Ausgewogenheit und einer objektiven Berichterstattung verpflichtet. Der Presserat habe in diversen Stellungnahmen festgehalten, dass es berufsethisch zulässig sei, einseitige, subjektive Erfahrungsberichte zu veröffentlichen. Beim vorliegenden Artikel sei für den Durchschnittsleser sofort ersichtlich, dass es sich um einen subjektiven Bericht handle. Der Autor habe die Geschichte aus der Optik von ‹Ursula von Arx› erzählen und nicht einen sogenannt «objektiven» Bericht über das Aufwachsen von unehelichen Kindern in Pflegefamilien am Beispiel des ehemaligen Pflegekindes ‹Ursula von Arx› verfassen wollen. Selbstverständlich habe der Autor die Berichte soweit möglich kritisch hinterfragt und auf ihre Plausibilität überprüft. Dazu sei es nicht notwendig gewesen, mit Familie F. zur Klärung des «Sachverhalts» Rücksprache zu nehmen. Dies umso mehr, als er die Namen der Personen abgeändert oder auf die Initialen reduziert und damit anonymisiert habe. Auch würden im Bericht nicht irgendwie geartete schwere Vorwürfe erhoben, welche den Autor verpflichtet hätten, die Mitglieder der Familie F. vor der Publikation anzuhören. Der Beschwerdeführer führe nirgends aus, inwiefern die Wahrheitspflicht verletzt sei, welche «Vorwürfe» gemacht würden und womit die Familie massiv attackiert werde. Dem Autor vorzuwerfen, er habe einen laschen Umgang mit der Wahrheit und einen «Gefälligkeits-Artikel» für ‹Ursula von Arx› verfasst, weil seine Frau eine Arbeitskollegin von ‹Ursula von Arx› gewesen sei, sei abwegig. Die beiden Frauen seien zwar beide im Rahmen des freiwilligen Besuchsdienstes des Kantonsspitals Luzern tätig, führten aber unterschiedliche Tätigkeiten aus und seien auch nicht zusammen im Einsatz.

Zum Vorwurf, der Autor  habe es unterlassen, die Quellen zu recherchieren und er habe diese unverifiziert wiedergegeben führt «Das Magazin» aus, die Familie F. werde weder verunglimpft, noch beschuldigt oder auf sonstige Art und Weise in ihrer Persönlichkeit verletzt. Der Bericht basiere auf den Erinnerungen und Aussagen von ‹Ursula von Arx›, was klar und deutlich aus dem Artikel hervorgehe. Die Quelle sei bekannt, es seien keine Elemente manipuliert und unterschlagen worden. Es sei verständlich, dass der Beschwerdeführer nicht alle Aussagen als für die Familie besonders schmeichelhaft empfinde. Allerdings sei hier nicht das subjektive Empfinden der betroffenen Person entscheidend, sondern das des Durchschnittslesers.

Zur Frage der Berichtigung macht «Das Magazin» geltend, der Beschwerdeführer gebe nicht an, welche Aussagen von ‹Ursula von Arx› falsch seien. Es bestehe deshalb kein Grund, eine materielle Berichtigung des Berichts vorzunehmen.

Bezüglich der Respektierung der Privatsphäre wird in der Beschwerdeantwort ausgeführt, der Autor habe die Privatsphäre der Beteiligten respektiert. Insbesondere sei auf eine vollständige Namensnennung verzichtet worden. Gewisse Angaben seien jedoch notwendig, damit der Leser die Ereignisse und Erfahrungen von ‹Ursula von Arx› korrekt einordnen könne. Die im Text enthaltenen Angaben reichten nicht aus, damit Familie F. und die einzelnen Familienmitglieder von einem weiteren Kreis von Personen identifiziert werden könnten. Dies umso mehr, als die Ereignisse viele Jahrzehnte zurückliegen. In den 30er- bis 50er-Jahren hätten viele Familien fünf Kinder gehabt, bei Schreiner und Elektriker handle es sich nicht um seltene Berufe. Es sei üblich und erlaubt, die richtigen Initialen zu nutzen.

Weder die Eltern noch die Kinder und schon gar nicht deren Kinder seien durch den kritisierten Artikel in einer besonders krassen, menschenunwürdigen Weise herabgesetzt worden, die im Kontext der Schilderungen von ‹Ursula von Arx› als völlig unangemessen erscheinen würden. Eine Verletzung von deren Menschenwürde liege somit nicht vor.

D. Gemäss Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

E. Am 18. Februar 2015 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Frances
ca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 28. September 2015 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.


II. Erwägungen

1. a) Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verpflichtet Journalisten, die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» (Identifizierung) verlangt eine sorgfältige Interessenabwägung und nennt eine Reihe von Fällen, in denen eine Namensnennung und/oder identifizierende Berichterstattung zulässig ist. «Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.»

Der Beschwerdeführer macht geltend, mit dem Veröffentlichen eindeutiger und unverwechselbarer Daten wie Obwalden, Kerns, Familie F. mit Hutmacherin und Schreiner, fünf Kinder, Tochter Helen, Sohn Elektriker sei die Privatsphäre von fünf Mitgliedern der Familie F. mit deren neun Kindern massiv verletzt worden, denn diese seien von Personen aus Obwalden, aus Kerns, weiteren Gemeinden und weiten Kreisen mühelos zu identifizieren.

b) Der Presserat hat in seinen Stellungnahmen mehrfach darauf hingewiesen (vgl. hierzu beispielsweise die Entscheide 21/2007 und 11/2011), dass sich die Gefahr einer Identifizierung über das engere soziale Umfeld hinaus zumindest erhöht, wenn ein Medienbericht den richtigen Vornamen und den ersten Buchstaben des Nachnamens von Betroffenen nennt. Er empfiehlt deshalb, nach Möglichkeit auf entsprechende Angaben zu verzichten und stattdessen beispielsweise Pseudonyme zu verwenden. Trotzdem wertet er die Nennung des richtigen Vornamens für sich allein nicht als Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung». Vielmehr ist aufgrund der Umstände des konkreten Einzelfalls abzuwägen, ob aufgrund der im Medienbericht enthaltenen Angaben der Kreis derjenigen, denen eine Identifizierung möglich ist, unverhältnismässig gross erscheint beziehungsweise ob die Gefahr besteht, dass Personen, welche die Betroffenen kennen, durch den Bericht Kenntnis von vertraulichen Informationen erhalten, über die sie zuvor kaum informiert waren. Vorliegend hat der Autor den ersten Buchstaben des Nachnamens der Gastfamilie sowie den Vornamen einer Tochter genannt. Vom Namen der Protagonistin hat er den Vornamen übernommen, der Nachname wurde verändert. Die im Artikel zusätzlich gemachten Angaben zur Grösse der Familie, zum Wohnort, zu den Berufen der Eltern bzw. eines der Söhne lassen den Kreis derjenigen, denen eine Identifizierung möglich ist, noch nicht als unverhältnismässig gross erscheinen. Zum einen liegen die Ereignisse, auf die sich ‹Ursula von Arx› bezieht, mehrere Jahrzehnte zurück. Kerns mit ca. 6000 Einwohnern kann zudem nicht als kleine, überschaubare Gemeinde gelten, in der jeder jeden kennt. Dies gilt umso mehr für den Kanton Obwalden. Zum heutigen Zeitpunkt ist zudem nur noch eines der fünf Geschwister in Kerns wohnhaft. Hinzu kommt, dass der Bericht keine vertraulichen Informationen enthält, über die Personen, die die Betroffenen kennen, vorher kaum informiert waren. ‹Ursula von Arx’› Schilderung gibt ihre subjektive Wahrnehmung ihrer Kindheit wieder. Dies ist für den Leser und die Leserin jederzeit erkennbar. Zwar gibt sie letztlich im Bericht vertrauliche Informationen in Bezug auf ihren Vater preis, dies betrifft jedoch nicht die Familie F. Die vom Autor gewählte Bezeichnung der Familie mit dem Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens sowie die Nennung der weiteren Details über die Familie ist vor diesem Hintergrund jedoch nicht zu beanstanden. Ziffer 7 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

c) Zumindest fragwürdig hingegen ist die Nennung des Vaters von ‹Ursula von Arx› mit vollem Namen. Der Vater von Frau ‹von Arx› ist seit zwölf Jahren tot. Diese Namensnennung beanstandet der Beschwerdeführer jedoch nicht, weshalb der Presserat nicht näher auf diesen Punkt eingeht.

2. Ziffer 1 der «Erklärung» hält fest, dass sich JournalistInnen an die Wahrheit halten ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Beschwerdeführer X. macht geltend, im Artikel werde eine wilde Fantasie geäussert und vom Autor unverifiziert publiziert. Der Autor habe weder bei Helen oder der Familie F. rückgefragt. Leider unterlässt es der Beschwerdeführer, genauer auszuführen, welche Elemente der Geschichte er als Fantasie erachtet. Generell lässt sich festhalten, dass Erwin Koch in seiner Reportage in einer für die Leserschaft klar erkennbaren Weise die subjektive Sicht von ‹Ursula von Arx› wiedergibt. Dies ist aus medienethischer Sicht nicht zu beanstanden, solange diese Optik erkennbar ist. Der Presserat hat in verschiedenen Entscheiden festgehalten, dass es berufsethisch zulässig ist, einseitige, subjektive Erfahrungsberichte zu veröffentlichen (Stellungnahmen 10/1997, 36/2006, 3/2009). «Das Magazin» führt zudem aus, der Autor habe die Berichte kritisch hinterfragt und auf ihre Plausibilität überprüft. Dem Presserat liegen keine Hinweise vor, dass der Journalist diesbezüglich seiner Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen wäre. Der Bericht erhebt zudem keine schweren Vorwürfe, die den Autor verpflichtet hätten, die Familie F. vor der Publikation des Berichts anzuhören. Eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» liegt somit nicht vor. Und gibt es keine materiell falschen Fakten, so ist auch nichts zu berichtigen; Ziffer 5 der «Erklärung» ist somit ebenso wenig verletzt.

3. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» dadurch geltend macht, dass es der Autor unterlassen habe, die Quellen zu recherchieren und die Aussagen von ‹Ursula von Arx› zu verifizieren, kann auf das oben Gesagte verwiesen werden. Die Quelle des subjektiven Erfahrungsberichts war ‹Ursula von Arx›. Ihre Geschichte wird so erzählt, wie sie Frau ‹von Arx› empfunden hat.

4. Nicht verletzt ist auch Ziffer 8 der «Erklärung» (Respektierung der Menschenwürde). Der Beitrag erhebt gegenüber Familie F. keine schweren Vorwürfe. Und er setzt die Familie auch nicht in krasser, menschenunwürdiger Weise herab.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «Das Magazin» hat mit dem Artikel «Die Dame in Schwarz», den subjektiven Erfahrungsbericht von ‹Ursula von Arx›, Ziffer 1 (Wahrheitspflicht), Ziffer 3 (Quellenbearbeitung), Ziffer 5 (Berichtigung), Ziffer 7 (Privatsphäre) und Ziffer 8 (Menschenwürde, Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.