Nr. 3/2016
Wahrheitspflicht / Meinungspluralismus / Entstellen von Informationen / Anhören bei schweren Vorwürfen

(X. c. «20 Minuten» und «20minuten.ch») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 8. Februar 2016

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I. Sachverhalt

A. Am 13. August 2014 publizierte «20 Minuten» in seiner Print- und Onlineausgabe einen Artikel mit dem Titel «Ukraine setzt Neo-Nazis gegen Separatisten ein». Der Lead lautet: «Beim Kampf in der Ostukraine will die Regierung in Kiew offenbar den Teufel mit dem 
Beelzebub austreiben: Bekennende Neo-Nazi-Gruppen sind an vorderster Front dabei.» Der Artikel basiert auf einem Bericht der britischen Zeitung «The Telegraph». Er thematisiert, dass das ukrainische Militär auch mehrere rechtsradikale Bataillone, bestehend aus mehreren tausend Freiwilligen, an die Front schicke. Die Armee sei auf die Unterstützung dieser Kämpfer angewiesen. Die einst glorreiche ukrainische Armee sei in einem desolaten Zustand. Der Einbezug der Rechtsextremen in die sogenannte Anti-Terror-Aktion der Regierung sei Wasser auf die Mühlen der russischen Propaganda. Zu Wort kommen auch zwei Experten, die die Risiken dieses Entscheids der Regierung beleuchten.


B. Am 25. August 2014 reichte X. im Namen von Ukrainern in der Schweiz Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen diesen Artikel ein. Sie macht geltend, der Artikel beinhalte viele falsche Schlussfolgerungen, diverse Fakten seien manipuliert. Der Titel sei durch die recherchierten Fakten nicht gedeckt, was die Gefahr erwecke, dass Leser einen unzutreffenden Eindruck erhielten. Der Artikel selbst verstosse gegen folgende zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») gehörende Richtlinien: 1.1 (Wahrheitssuche), 2.2 (Meinungspluralismus), 3.8 (Anhörungspflicht in Bezug auf die erhobenen schweren Vorwürfe) sowie gegen Ziffer 3 der «Erklärung» (Sorgfaltspflicht, Entstellung von Informationen). Im Artikel gebe es keinen Meinungspluralismus, er enthalte nur die Meinungen der Personen, die behaupteten, das Bataillon «Azow» bestehe aus Neo-Nazis. Die Autorin präsentiere fragwürdige Informationen als eine Tatsache, auch würden nicht alle Fakten präsentiert. Die Autorin erwähne drei Bataillone, verfüge aber nur über ein Interview mit einem einzelnen Mitglied des «Azow»-Bataillons. Zu fragen sei, wie die Autorin anhand eines Interviews beurteilen könne, dass alle Kämpfer Neo-Nazis seien? Zum schweren Vorwurf, die drei Bataillone bestünden aus Neo-Nazis, seien keine Meinungen von anderen Kämpfern angehört worden. Zu fragen sei zudem, ob die Publikation des Artikels genau an dem Tag, an dem der Bundesrat vorgehabt hat, über die Einführung von Sanktionen gegen Russland zu diskutieren, bloss Zufall war, ober ob eine bestimmte, ziemlich skrupellose Motivation dahinter zu vermuten sei. Unter Berücksichtigung dieses Verdachts bittet X. den Presserat, eine Untersuchung bezüglich dieses Artikels durchzuführen und erforderliche administrative Massnahmen gegen «20 Minuten» anzuordnen sowie die Situation bei anderen Zeitungen bezüglich der Informationsdarstellung über die Ukraine zu analysieren.


C. Am 27. Oktober 2014 nahm der Rechtsdienst von Tamedia zur Beschwerde Stellung und beantragte, diese sei abzuweisen, soweit darauf überhaupt einzutreten sei. Der beanstandete Bericht basiere weitestgehend auf der Berichterstattung der britischen Zeitung «The Telegraph». Zusätzliche, und im Artikel ebenfalls erwähnte Quelle sei der arabische Nachrichtensender «Al Jazeera» gewesen. «20 Minuten» sei keine politische Hintergrundzeitung und habe deshalb kein eigenes Korrespondentennetz. Sie stütze sich deshalb insbesondere bei der Auslandberichterstattung oft auf andere Publikationen, prüfe aber im Vorfeld stets die Seriosität der verwendeten Quelle. «The Telegraph» biete unter diesem Gesichtspunkt Gewähr. Eine Rückfrage bei «The Telegraph» habe ergeben, dass der Artikel keine negativen Reaktionen hervorgerufen hatte. Den Vorwurf der Manipulation von Fakten weist die Beschwerdegegnerin in aller Form zurück. Auch die Wahrheitspflicht sei nicht verletzt worden. Sie bestreitet, dass die Darstellungen und Schlussfolgerungen des «Telegraph» falsch seien. Dass die ukrainische Armee in einem desolaten Zustand sei, habe vor wenigen Tagen der Ukraine-Experte Frank Golczewski in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» bestätigt, worin er das Bataillon «Azow» als «neonazistische Gruppierung» bezeichnete. Absolut nicht ersichtlich sei, inwieweit «20 Minuten» gegen Richtlinie 2.2 verstossen haben soll. Weder habe «20 Minuten» eine Monopolstellung, noch verfolge die Zeitung bei der laufenden Berichterstattung über die Ukraine eine einseitige Linie, was die Beschwerdeführerin auch nicht behaupte. Mit Nachdruck bestreitet «20 Minuten», Informationen entstellt zu haben, dazu lege X. auch keine Beweise vor. Es treffe auch nicht zu, dass laut dem beanstandeten Bericht alle Kämpfer Neo-Nazis seien – es sei im Bericht die Rede davon, dass «nicht wenige» Männer bekennende Neo-Nazis seien. Gerade im Zug einer Berichterstattung über einen kriegerischen Konflikt sei es zudem nicht erforderlich, dass jeder Bericht das ganze Meinungsspektrum abdecke. Richtlinie 3.8 verlange nicht, dass bei Themen, zu denen es unterschiedliche Meinungen gibt, andere Meinungen eingeholt werden müssten, sondern dass Betroffene schwerwiegende Vorwürfe (darunter würden nicht Meinungen, sondern Tatsachendarstellungen fallen) anzuhören seien. Ein schwerwiegender Vorwurf richte sich allenfalls gegen die ukrainische Regierung. Es sei jedoch nicht anzunehmen, dass diese eine allfällige Konfrontationsanfrage beantwortet hätte. Was eine allfällige skrupellose Motivation betreffe, so weise «20 Minuten» solche unsinnigen Unterstellungen, die durch keinerlei Fakten oder auch nur Indizien gestützt seien, in aller Form zurück. Dass in Auseinandersetzungen wie der vorliegenden beide Seiten versuchten, ihre Propaganda in die Medien zu bringen, sei eine Binsenwahrheit, weshalb die Redaktion «20 Minuten» sehr wohl darauf achte, und dies bis heute mit Erfolg, nicht zum Spielball derartiger Bemühungen beider Seiten zu werden.

D. Am 26. Januar 2016 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.


E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 8. Februar 2016 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.


II. Erwägungen


1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, diverse Fakten seien manipuliert. Dieser Vorwurf wird nicht weiter begründet, weshalb darauf nicht einzutreten ist. Weiter macht sie sinngemäss eine Verletzung der Wahrheitspflicht geltend, indem im Artikel behauptet werde, die drei erwähnten Bataillone seien Gruppierungen Rechtsextremer, die im Frühjahr 2014 gegründet worden seien. Als Gegenbeweis führt X. den Bericht des Uno-Hochkommissariats für Menschenrechte über die Lage der Menschenrechte in der Ukraine vom 15. Juli 2014 an, der eine andere Definition von freiwilligen Bataillonen gebe. Diese lautet: «Die ersten freiwilligen Bataillone sind Mitte April in der östlichen Regionen der Ukraine erschienen. Es waren kleine Gruppen aus pro-ukrainischen Aktivisten, welche ihre Nachbarschaft vor der Gesetzlosigkeit der bewaffneten Gruppen zu verteidigen suchten. Eventuell haben sich nun mehr Personen angeschlossen. Einige Bataillone (ein Bataillon besteht aus ca. 500 Personen) sind bis Ende Mai zusammengesetzt worden. Ab Juli wurden mehrere dieser Bataillone in die Strukturen der zuständigen Ministerien integriert.» Dass es sich um eine andere Umschreibung handelt, ist offensichtlich. Allerdings äussert sich der Uno-Bericht gar nicht zur Frage, ob in diesen Bataillonen auch rechtsextreme Kämpfer kämpfen. «20 Minuten» macht denn auch geltend, die angeführte Belegstelle beweise nic
ht, dass die Darstellungen und Schlussfolgerungen des «Telegraph» falsch seien. «20 Minuten» führt zudem ein Interview mit einem Professor für osteuropäische Geschichte an, der in Bezug auf das Bataillon «Azow» ebenfalls von einer neonazistischen Gruppierung spricht. Hier steht zumindest Aussage gegen Aussage und Indizien sprechen eher für die Darstellung von «Telegraph»/«20 Minuten». Eine Verletzung der Wahrheitspflicht kann «20 Minuten» deshalb nicht vorgeworfen werden.

2. Richtlinie 2.2 hält fest: «Der Meinungspluralismus trägt zur Verteidigung der Informationsfreiheit bei. Er ist notwendig, wenn sich ein Medium in einer Monopolsituation befindet.» Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, «20 Minuten» befinde sich in einer Monopolsituation. Auf den Vorwurf ist deshalb nicht weiter einzugehen bzw. es ist nicht auf ihn einzutreten.

3. Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» fordert, dass Journalisten nur Informationen, Dokumente, Bilder und Töne veröffentlichen, deren Quellen ihnen bekannt wind. Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Töne noch von anderen geäusserte Meinungen. Sie bezeichnen unbestätigte Meldungen, Bilder und Tonmontagen ausdrücklich als solche. Die Beschwerdeführerin macht geltend, nicht alle Fakten seien präsentiert worden, führt aber nicht näher aus, um welche es sich ihrer Meinung nach handelt. Sie führt auch nicht näher aus, welche Informationen entstellt worden sein sollen oder welche unbestätigten Behauptungen nicht als solche bezeichnet wurden. Auf diesen Beschwerdepunkt ist deshalb ebenfalls nicht einzutreten. Soweit sie erneut kritisiert, im Artikel werde gesagt, dass alle Kämpfer Neo-Nazis seien, sei auf das oben Gesagte verwiesen. Im Artikel wird demnach nicht gesagt, alle Kämpfer seien Neo-Nazis, sondern es seien Gruppierungen Rechtsextremer bzw. nicht wenige der Männer seien bekennende Neo-Nazis. Ziffer 3 der «Erklärung» ist deshalb nicht verletzt.

4. Richtlinie 3.8 statuiert die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen. Hierzu macht die Beschwerdeführerin geltend, es seien keine Meinungen von anderen Kämpfern zum schweren Vorwurf, drei Bataillone bestünden aus Neo-Nazis, angehört worden. Wie die Redaktion richtig ausführt, verlangt Richtlinie 3.8 nicht, dass bei Themen, zu denen es unterschiedliche Meinungen gibt, andere Meinungen eingeholt werden müssten, sondern dass Betroffene schwerwiegender Vorwürfe anzuhören seien. Beschwerdeführerin X. führt nicht weiter aus, wer ausser weiteren Kämpfern anzuhören gewesen wäre. Mangels Substantiierung tritt der Presserat deshalb auch auf diesen Beschwerdepunkt nicht ein.


5. Soweit die Beschwerdeführerin eine generelle Untersuchung bezüglich der Informationsdarstellung über die Ukraine durch andere Zeitungen fordert, ist auf Art. 9 Abs. 2 des Geschäftsreglements zu verweisen. Massgeblich ist für den Presserat der Sachverhalt, wie ihn die Beschwerdebegründung umreisst. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die Berichterstattung von «20 Minuten», es besteht für den Presserat kein Anlass, über den so festgelegten Beschwerdegegenstand hinauszugehen.

6. Die Beschwerdeführerin verlangt zudem den Erlass administrativer Massnahmen gegen «20 Minuten». Der Presserat trifft in seinen Stellungnahmen Feststellungen und erlässt Empfehlungen. Er hat jedoch keine Sanktionsmöglichkeiten (Art. 17 Abs. 2 Geschäftsreglement) und kann somit keine administrativen Massnahmen gegen «20 Minuten» aussprechen. Nicht zu äussern hat sich der Presserat zudem zum Zeitpunkt der Publikation dieses Artikels. Dieser ist durch die redaktionelle Freiheit gedeckt.


III. Feststellungen


1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.

2. «20 Minuten» und «20 Minuten.ch» haben mit dem Artikel «Ukraine setzt Neo-Nazis gegen Separatisten ein» vom 13. August 2014 die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Meinungspluralismus), 3 (Entstellen von Informationen / Anhören bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.