Nr. 24/2008
Wahrheits- und Berichtigungspflicht

(Merck Sharp & Dohme-Chibret c. «Handelszeitung») Stellungnahme des Presserates vom 22. Mai 2008

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I. Sachverhalt

A. Die «Handelszeitung» hat mit dem New Yorker «Wall Street Journal» eine vertragliche Vereinbarung, die sie berechtigt, einzelne Artikel des «Wall Street Journal» auf Deutsch zu übersetzen und auf einer mit dem originalen Schriftkopf «The Wall Street Journal» überschriebenen Seite abzudrucken. In ihrer Ausgabe vom 31. Oktober 2007 publizierte die «Handelszeitung» auf einer solchen Seite den Artikel «Merck hofft auf ein neues Medikament» von Sarah Rubenstein. Das «Wall Street Journal» hatte den Artikel unter dem Titel «Merck hopes promising AIDS drug will pay» am 12. Oktober 2007 gebracht. Der Artikel beginnt mit dem Satz: «Merck könnte im Kampf gegen Aids bald ein neues Kapitel aufschlagen, wenn die Arzneimittelbehörde FDA (US Food and Drug Administration) Isentress zulässt.» Es folgen einige Erwägungen über den möglichen Preis des Medikaments, dann befasst sich der ganzseitige Beitrag ausführlich mit den Leistungen des amerikanischen Pharmakonzerns Merck im Kampf gegen Aids. Dazwischen zitiert die Autorin verschiedene medizinische Fachleute, die grosse Erwartungen in Isentress setzen, weil es das erste Medikament ist, welches das Enzym Integrase angreift, das dem Aids-Virus ermöglicht, seine DNA in den menschlichen Zellen einzupflanzen.

B. Im Auftrag der Firma Merck meldete sich eine PR-Beraterin zunächst telefonisch und am 2. November 2007 per E-Mail bei der «Handelszeitung». Sie wies darauf hin, dass die amerikanische Behörde FDA das Medikament bereits am 12. Oktober 2007 – dem Tag, als der Originalartikel im «Wall Street Journal» erschienen war – für den amerikanischen Markt zugelassen habe. Die Firma Merck verlange eine Berichtigung auf drei Ebenen: erstens sofort in der Online-Ausgabe der «Handelszeitung», zweitens ebenso am gleichen Tag eine Pressemitteilung an die Agenturen SDA, AP, Reuters Schweiz, Dow Jones Schweiz und AWP und drittens in der nächsten Printausgabe der wöchentlich erscheinenden «Handelszeitung». Den gewünschten Text sandte die PR-Beraterin gleich mit. Neben der eigentlichen Berichtigung, dass Isentress die FDA-Zulassung bereits erhalten habe und auf dem amerikanischen Markt und in Mexiko erfolgreich eingeführt sei, sollte die Mitteilung auch folgenden Satz enthalten: «Die ‹Handelszeitung› entschuldigt sich für diese unkorrekte und irreführende Information.»

C. Der stellvertretende Chefredaktor der «Handelszeitung» bedauerte in seiner Antwort-E-Mail vom 2. November 2007 das Versehen. Er erklärte, dass die «Handelszeitung» vom «Wall Street Journal» übernommene Beiträge nicht verändern und nicht auf seine Homepage nehmen dürfe. Die FDA-Zulassung hätte aber in einer separaten Box vermerkt werden müssen. Er versprach eine Berichtigung in der nächsten Ausgabe der Zeitung. Der von ihm vorgeschlagene Text enthielt im Wesentlichen die von Merck vorformulierte Berichtigung, allerdings ohne die oben zitierte Entschuldigungsformel.

D. Für die Firma Merck bestand die PR-Beraterin mit E-Mail vom 6. November 2007 darauf, dass die Berichtigung auch auf der Homepage erscheinen und an die genannten Medienagenturen versandt werden müsse. Die Firma Merck behalte sich vor, anstelle oder parallel zu einem Presseratsverfahren beim Bezirksgericht Zürich eine superprovisorische Massnahme zu verlangen.

E. In ihrer Ausgabe vom 7. November 2007 veröffentlichte die «Handelszeitung» unter der Rubrik «Korrigenda»: «Im ‹Wall Street Journal›-Artikel ‹Merck hofft auf neues Aids-Medikament› wurde berichtet, die Zulassung der US-Arzneibehörde FDA für Isentress, Raltegravir sei noch ausstehend. Das neue Aidsmedikament Isentress, Raltegravir des US-Pharmakonzerns Merck hat tatsächlich bereits am 12. Oktober 2007 die FDA-Zulassung erhalten und ist auf dem amerikanischen Markt und in Mexiko erfolgreich eingeführt. Isentress ist der erste Vertreter einer neuen Klasse, der so genannten Integrase-Inhibitoren.» Bereits am Vorabend, dem 6. November 2007, hatte die «Handelszeitung» diese Berichtigung auch auf ihrer Website aufgeschaltet.

F. Mit Schreiben vom 21. Dezember 2007 erhob die anwaltlich vertretene Firma Merck Beschwerde beim Presserat. Sie beantragte, die «Handelszeitung» sei wegen Verletzung der Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Quellenbearbeitung) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» zu rügen. Die Information, das Medikament Isentress stehe kurz vor der FDA-Zulassung, obwohl es seit knapp drei Wochen auf dem US-Markt eingeführt sei, sei falsch. Die Beschwerdeführerin erklärt, die FDA-Zulassung von Isentress sei «in den Medien breit publiziert» worden; sie führt dazu die «Basler Zeitung», «Cash Daily» und das Mittagsjournal von Radio Suisse Romande an. Ein Blick auf die Webseite der Firma Merck oder in die Mediendatenbank SMD oder eine Google-Recherche hätten den richtigen Sachverhalt rasch ans Licht gebracht. Die unterlassene Recherche sei gravierend, weil die Zulassung von Isentress einen Einfluss auf die Börsenbewertung von Merck habe. «Die verbreitete Falschmeldung ist geschäfts- sowie wettbewerbsschädigend.» Darum habe die Beschwerdeführerin eine Berichtigung auf drei Ebenen (Online, Agenturen und Printausgabe) verlangt. Den eingereichten Berichtigungstext habe die Beschwerdegegnerin abgekürzt und nicht unverzüglich publiziert. Auf der Homepage sei die Berichtigung erst am 6. November erschienen, unter dem Titel «Merck» statt «Berichtigung». Und die Mitteilung an die Agenturen habe die Beschwerdegegnerin verweigert.

G. In ihrer Beschwerdeantwort vom 6. Februar 2008 stellt sich die Beschwerdegegnerin auf den Standpunkt, sie habe weder die Wahrheitspflicht noch die Pflicht zur Quellenbearbeitung verletzt. Es habe sich «lediglich ein Fehler eingeschlichen, der in der nächsten Ausgabe umgehend korrigiert wurde». Damit habe sie auch die Berichtigungspflicht erfüllt. Der Artikel über Merck und Isentress sei, weil der Vertrag mit dem «Wall Street Journal» dies verboten habe, nie auf dem Online-Portal der «Handelszeitung» erschienen. Dass die Beschwerdegegnerin die Korrektur am 6. November 2007 auch online publizierte, sei ein Akt des Goodwills gegenüber Merck und aus Sicht der Zeitung eine Vorabmeldung gewesen. Die presserechtliche Berichtigungspflicht sehe eine Korrektur in dem Medium vor, in dem der beanstandete Text erschienen sei. Deshalb habe auch keine Notwendigkeit bestanden, die Berichtigung via Medienagenturen zu verbreiten. Der betreffende Artikel habe zudem keinen «gravierenden», schon gar keinen «rufschädigenden» Fehler enthalten, sondern eine Unterlassung, für die sich die Redaktion bei der PR-Beraterin der Beschwerdeführerin entschuldigt habe.

H. Der Presserat übertrug die Behandlung der Beschwerde seiner 3. Kammer, der Esther Diener-Morscher als Präsidentin, Thomas Bein, Andrea Fiedler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann angehören.

I. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 22. Mai 2008 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Medienschaffenden, sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten zu lassen, die Wahrheit zu erfahren. Der Artikel von Sarah Rubenstein im «Wall Street Journal» vom 12. Oktober 2007 liess die Öffentlichkeit eine Wahrheit wissen, gegen die die Firma Merck offenbar nichts einzuwenden hatte. Es war darin viel Positives über das neue Medikament Isentress zu erfahren, dessen baldige Zulassung angekündigt und nicht in Zweifel gezogen wurde; die einzigen kritischen Anmerkungen betrafen die Preispolitik von Merck. Die Beschwerdegegnerin druckte am 31. Oktober 2007 diesen Artikel – inhaltlich unverändert, wie es der Vertrag mit dem «Wall Street Journal» verlangte – in deutscher Übersetzung nach. In der Zwischenzeit hatte sich die Wahrheit etwas verschoben: Me
rck hatte für Isentress die Zulassung für die USA und für Mexiko erhalten. Deswegen wurde aber der Artikel nicht zu Makulatur und erst recht nicht zur Unwahrheit. Sämtliche Aussagen behielten nach wie vor ihre Gültigkeit, bis auf die eine: dass die FDA-Zulassung erst bevorstand. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht ausführt, war die Nachricht von der Zulassung auch bis in die Schweizer Medien vorgedrungen – allerdings nur vereinzelt und als Kurzmeldung. Die Beschwerdegegnerin hatte keine Kenntnis davon. Sie hätte sich diese Information zwar verschaffen können und – angesichts der zu erwartenden Zulassung – auch sollen. Die Publikation des nicht mehr ganz aktuellen Artikels ist eine Unachtsamkeit, die mit dem üblichen korrigierenden Hinweis behoben werden kann. Einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» stellt diese Panne eindeutig nicht dar.

2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Beschwerdegegnerin habe die Recherchierpflicht bzw. die Sorgfaltspflicht im Umgang mit Quellen verletzt (Ziffer 3 der «Erklärung»). Davon kann keine Rede sein. Der Artikel des «Wall Street Journal» beruhte zwar auf Recherchen der Autorin Sarah Rubenstein und auf Quellen, doch für die Beschwerdegegnerin war der Artikel selbst keine Quelle, sondern ein von einer renommierten Redaktion geprüfter Text, den die Beschwerdegegnerin nur unverändert übernehmen oder übergehen durfte. Sie hätte aber, wie die Beschwerdegegnerin in der Beschwerdeantwort selbst schreibt, ein kleines Informationskästchen dazustellen sollen, in dem die FDA-Zulassung mitgeteilt worden wäre. Am Hauptartikel selbst hätte nichts verändert werden müssen; alle Leserinnen und Leser wären in der Lage gewesen, die jüngste Entwicklung nachzuvollziehen.

3. Ziffer 5 der «Erklärung» verlangt von Medienschaffenden, jede veröffentlichte Meldung zu berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. Je schwerer ein Fehler wiegt, desto dringender ist die Pflicht zur Berichtigung. Im vorliegenden Fall aber handelt es sich – was den Fehler anbelangt – um eine Bagatelle, welche die Wahrheitspflicht, wie dargelegt, nicht verletzt. Daher geht es hier nicht um eine eigentliche Berichtigung im Sinne von Ziffer 5 der «Erklärung», sondern um eine nachgeschobene Zusatzinformation. Die Beschwerdegegnerin hat denn auch bereits beim ersten Hinweis auf die erfolgte Zulassung des Medikaments der Beschwerdeführerin zugesichert, dies in der folgenden Ausgabe der Zeitung an der üblichen Stelle zu berichten. Darüber hinaus nahm sie die Korrekturmeldung am Vorabend der Printausgabe auch in ihr Online-Portal auf, obwohl in der elektronischen Ausgabe der betreffende Artikel nie erschienen war. Damit hat die Beschwerdegegnerin genug getan, um ihrer Leserschaft den neusten Stand der Entwicklung mitzuteilen. Der ursprüngliche Fehler war objektiv zu geringfügig, um irgendwelchen Schaden anzurichten. Es ist nach allen Regeln der Vernunft und des Geschäftslebens nicht einzusehen, weshalb ein Leser des Artikels zu einer anderen Einschätzung der Firma Merck und ihres Aids-Medikaments hätte gelangen können, wenn er bereits von der Zulassung – die im Artikel mit nichts angezweifelt wurde – gewusst hätte. Die Beschwerdeführerin aber macht aus der Bagatelle eine «Falschmeldung», die «geschäfts- sowie wettbewerbsschädigend» sein soll. Damit schiesst sie weit über das Ziel hinaus. Entsprechend überrissen sind denn auch ihre Forderungen, die Berichtigung über fünf verschiedene Agenturen zu verbreiten. Wo die Reaktion auf einen kleinen Fehler derart unverhältnismässig ist, wandelt sich das schützenswerte Anliegen einer Berichtigung unversehens zu einem Angriff auf die Freiheit und Unabhängigkeit der Medienschaffenden. Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt abzuweisen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Dem vertraglich bedingten, unveränderten Nachdruck des Artikels «Merck hofft auf ein neues Medikament) aus dem «Wall Street Journal» hätte die «Handelszeitung» zwar in einer separaten Notiz die Information beifügen sollen, dass die US-Behörde das Medikament inzwischen zugelassen hatte. Dass die Beschwerdegegnerin dies unterliess, weil sie den aktuellen Stand des Zulassungsverfahrens vor dem Nachdruck nicht abklärte, stellt zwar einen Mangel, aber keine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») und keine falsche Verarbeitung von Quellen (Ziffer 3) dar.

3. Die mangelhafte Information korrigierte die Beschwerdegegnerin in angemessener Weise. Eine eigentliche Berichtigungspflicht im Sinne von Ziffer 5 der «Erklärung» bestand nicht.