I. Sachverhalt
A. Unter dem Titel «Sonderstatus» veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» (nachfolgend: TA) am 8. Dezember 2000 folgenden Leserbrief des Lesers V. zum israelisch-palästinensischen Konflikt:
Im Westjordanland erschiessen israelische Soldaten in aller Öffentlichkeit Kinder mit gezielten Kopfschüssen, und die Weltöffentlichkeit schaut zu. Israelische Kampfflugzeuge bombardieren palästinensische Schulen, und die Weltöffentlichkeit schaut zu. Unliebsame Palästinenser werden ohne Gerichtsurteil gefangen gehalten und gefoltert, und die Weltöffentlichkeit schaut zu. Ganze Palästinenserfamilien werden deportiert, die Weltöffentlichkeit schaut zu. Israel unterschreibt Verträge, hält diese nicht ein, die Weltöffentlichkeit schaut immer noch zu. Weshalb darf Israel morden, deportieren, erpressen und foltern, ohne dass nur ein Hauch von Kritik von den Medien und den Menschenrechtsorganisationen kommt? Weshalb schauen die Regierungen anderer Länder tatenlos zu? Gibt es irgendein Recht, das Israel legitimiert, gegen jedes nur erdenkliche Menschenrecht zu verstossen? Es kann und darf nicht sein, dass jede berechtigte Kritik an Israel mit dem Zauberwort «Antisemitismus» abgewürgt wird.»
B. Mit Brief vom 11. Dezember 2000 beschwerte sich W. beim TA und bezeichnete den Leserbrief als «üble Hasstirade». Er sei manifest antisemitisch und übersteige den damaligen «Stürmer». Am 14. Dezember 2000 antwortete der Chefredaktor des TA und erklärte, dass der Brief «zweifellos ein Grenzfall» sei. Aber immerhin stehe V. mit ganzem Namen zur eigenen Aussage.
C. Am 29. Dezember 2000 erschien im TA erneut ein Leserbrief, der die israelische Seite kritisierte. Leser P. führte darin aus:
«Es ist erstaunlich: Wenn Kritik an Israel und seiner menschenverachtenden, seit 1948 andauernden Besetzung weiter Teile Palästinas laut wird, erfolgt von jüdischer Seite immer sofort der Ruf nach dem Presserat. Leitende Persönlichkeiten von jüdischen Organisationen erklären der Welt immer wieder, wie viel Leid die jüdische Diaspora weltweit immer wieder ertragen musste. Dies ist unbestritten und sehr bedauerlich. Aber die Frage sei erlaubt: Wie ist es mit den Tausenden von Palästinensern, welche über die vergangenen 52 Jahre durch die Armee, die Hagana oder den späteren Mossad zu Tode kamen oder zu Invaliden gemacht wurden? Kein Wort der Empörung, des Bedauerns aus jüdischen Kreisen. Warum nicht? Solche und ähnliche Fragen werden die Welt und die Bürger dieses Landes weiter stellen. Wir sind ein freies Land mit dem Recht auf freie Meinungsäusserung und lassen uns von niemandem den Mund verbieten. Wenn ich Juden wegen ihrer ganzen Art nicht mag, dann hat das noch lange nichts mit Hass zu tun und mit Antisemitismus schon gar nicht.»
D. Am 4. Januar 2000 reichte W. (nachfolgend: Beschwerdeführer) Beschwerde beim Presserat ein. Diese richtet sich insbesondere gegen die Veröffentlichung des Leserbriefes von V. vom 8. Dezember und «exemplarisch gegen die generell antisemitisch gefärbte Leserbrief-Auswahl des TA.» Die Leserbriefredaktion des Tagesanzeigers habe damit gegen Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen. Weiter wirft der Beschwerdeführer dem TA hinsichtlich der Veröffentlichung «antisemitisch angehauchter antiisraelischer» Leserbriefe eine an «Thesen- und Kampagnenjournalismus grenzende Konzeption» vor, die gegen die Ziffern 1 und 2 der «Erklärung» verstosse.
E. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde zur Behandlung an die erste Kammer. Diese setzt sich wie folgt zusammen: Peter Studer (Kammerpräsident), Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli Mazza, Silvana Iannetta, Philip Kübler, Katharina Lüthi, Edy Salmina.
F. In seiner Beschwerdeantwort vom 2. Februar 2001 beantragte der TA, die Beschwerde sei abzulehnen. Der TA gestalte die Leserforums-Seite so offen wie möglich, es gelte jedoch Grenzen zu ziehen. Diese Publikationsschranken bildeten die Antirassismus-Strafnorm und der Pressekodex. Die gerügten Leserbriefe bewegten sich im Grenzbereich. Der Leserbrief von V. sei zweifellos holzschnittartig formuliert. In Zentrum der Kritik stünden aber nicht die Jüdinnen und Juden, sondern der Staat Israel. Daher sei der Brief weder antisemitisch noch diskriminierend, sondern «bloss einseitig und wenig differenziert».
Auch den zweiten Leserbrief erachtet der TA als grösstenteils unproblematisch. Einzig der letzte Satz bewege sich im Grenzbereich «und es hätte – in der Nachbetrachtung – einiges dafür gesprochen, diesen zu streichen». Aber auch dieser Satz rufe nicht zu Hass auf und stelle die Menschenwürde von Juden und Jüdinnen nicht in Frage.
Weiter verwahrt sich der TA gegen den Vorwurf des Kampagnenjournalismus, der lediglich anhand zweier herausgepickter Leserbriefe erhoben werde.
G. In einer «Replik» auf die Beschwerdeantwort bekräftigte W. seine Klage und wies darauf hin, dass Antisemiten die unstatthafte Vermengung von Kritik an den Handlungen des Staats Israel und infamem Antisemitismus längst in ihr «Manipulationsrepertoire» aufgenommen hätten.
H. Die erste Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 5. April 2000 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Der Presserat hatte sich in jüngster Zeit häufig mit Leserbriefen zu befassen und hat dabei u.a. folgende Leitlinien entwickelt: Aus der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» kann keine journalistische Verpflichtung zum Abdruck von Leserbriefen abgeleitet werden. Dementsprechend sind die Redaktionen grundsätzlich frei, Leserbriefe nicht abzudrucken oder gegebenenfalls zu kürzen (vgl. die Stellungnahme 19/1999 i.S. B. c. «La Liberté» vom 1. Oktober 1999, Sammlung 1999, S. 154ff.). Wenn sich eine Redaktion jedoch für den integralen oder gekürzten Abdruck einer Leserzuschrift entscheidet, ist sie bei der redaktionellen Bearbeitung an die ethischen Regeln der «Erklärung» gebunden (vgl. die Stellungnahme 22/1999 i.S. «Veröffentlichung rassistischer Leserbriefe» vom 15. Dezember 1999, Sammlung 1999, S. 174ff.). An die redaktionelle Bearbeitung von Leserbriefen kann jedoch nicht der gleich strenge Masstab angelegt werden wie an die Bearbeitung von redaktionellen Eigenleistungen, da eine Redaktion nicht immer alles und jedes nachprüfen kann, das in einem Leserbrief enthalten ist. Der Presserat hat den Prüfungsmassstab bei Leserbriefen deshalb auf offensichtliche Verstösse gegen die berufsethischen Regeln beschränkt. Dementsprechend sind Leserbriefe zurückzuweisen, die offensichtlich falsche Aussagen, sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen oder diskriminierende Anspielungen enthalten (vgl. Stellungnahme 22/1999, a.a.O., Stellungnahme 9/2000 i.S. W. c. Coop-Zeitung» vom 30. März 2000, Sammlung 2000, S. 76ff., Stellungnahme 34/2000 i.S. L c. «Thurgauer Volkszeitung» / «Thurgauer Zeitung» vom 2. November 2000, Sammlung 2000, S. 251ff.).
2. Der Kläger wünscht sich vom Presserat eine Klärung, wo die Grenzen zwischen der Meinungsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot (Ziff. 8 der «Erklärung») beim Abdruck von Leserbriefen zu ziehen sind. Einige Eckpunkte dieser Grenzziehung hat der Presserat in der bereits mehrfach erwähnten Stellungnahme 22/1999 angeführt. Danach sind rassistische Äusserungen solche, die Personen und Gruppen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie oder ihrer Religion diffamieren. Latent rassistisch sind Briefe, die Menschen oder Gruppen indirekt diffamieren oder dies bloss andeuten. Im Einzelfall ist es oft jedoch umstritten und schwierig, einen Brief klar zuzuordnen. Der Presserat empfahl damals folgendes Vorgehen: «Bei jeder Aussage ist deshalb kritisch zu fragen, ob damit eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt oder ob herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet wer
den, ob lediglich Handlungen der tatsächlich dafür Verantwortlichen kritisiert werden oder ob die berechtigte Kritik an einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert wird.» Über die erwähnten Anhaltspunkte hinaus kann der Presserat kein generelles Rezept für die Grenzziehung liefern, weshalb es letztlich dabei bleiben muss, dass die Grenze im Einzelfall in Anwendung der genannten Kriterien durch eine wertende Interessenabwägung immer wieder neu gefunden werden muss.
3. Antisemitismus äussert sich nicht immer und nicht nur in den offensichtlichen und bekannten kollektiven Anschuldigungen und Angriffen auf Juden und Jüdinnen, wie sie leider auch in der Schweiz in den letzten Jahren wieder vermehrt zu hören und zu lesen waren. Die Gefahr dass sich Antisemiten des Mittels der – durch die Meinungsfreiheit geschützten – Kritik am Staat Israel bedienen und so mit Hilfe der Meinungsäusserungsfreiheit ihr antijüdisches Gedankengut zu verbreiten versuchen, ist deshalb durchaus vorhanden und sollte nicht unterschätzt werden. Insbesondere auf den Leserbriefredaktionen darf deshalb die Aufmerksamkeit gegenüber latenten und versteckten Diffamierungen nicht nachlassen.
Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass allein wegen einer möglicherweise hinter einem Leserbrief stehenden antisemitischen Haltung jegliche Kritik am Staat Israel oder an den Handlungen der Verantwortlichen dieses Staates von vornherein von den Forumsseiten fern gehalten werden muss. Eine Zurückweisung von solchen Leserbriefen oder gegebenenfalls eine redaktionelle Bearbeitung lässt sich im Lichte von Ziff. 8 der «Erklärung» nur dann rechtfertigen, wenn eine antisemitische Gesinnung zumindest latent auch im Text selber zum Ausdruckt kommt.
4. Betrachtet man die beiden kritisierten Leserbriefe vor diesem Hintergrund, sind sie tatsächlich – wie dies auch vom TA zugestanden wird – dem Grenzgebiet zwischen berufsethisch verpönter Diskriminierung, Diffamierung auf der einen und gerade noch zulässiger Polemik und überzeichneter Kritik auf der anderen Seite zuzuordnen.
a) Viele der Behauptungen von V. im Brief vom 8. Dezember 2000 erscheinen als sehr einseitig und undifferenziert. So ist z.B. nicht erwiesen, dass Kinder durch «gezielte» Kopfschüsse von israelischen Soldaten getötet worden sind. Auch die Behauptung, dass weder von Medien noch von Menschenrechtsorganisationen «auch nur ein Hauch von Kritik» an Israel geübt wird, stimmt in dieser Absolutheit nicht. Sowohl die Rolle Israels wie diejenige der palästinensischen Führung in diesem Konflikt wird in den Schweizer Medien und auffällig oft durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz immer wieder kritisch kommentiert. Obwohl diese Anschuldigungen gegen den israelischen Staat und gegen die Weltöffentlichkeit deshalb zumindest als ungenau und überzeichnet zu qualifizieren sind, hat die Redaktion des TA mit dem Abruck der entsprechenden Passagen die «Erklärung» noch nicht verletzt. Die Forumsseiten der Zeitungen leben davon, dass hier die Menschen ihre – teilweise – undifferenzierten Meinungen äussern können und ihre Kritik an Institutionen und Staaten oder deren Handlungen anbringen können, weshalb eine gewisse Grosszügigkeit der Redaktionen von vornherein angebracht erscheint. Im konkreten Fall wäre eine redaktionelle Streichung der ärgsten Übertreibungen unter berufsethischen Gesichtspunkten zwar durchaus empfehlenswert gewesen, doch kann noch nicht von einem offensichtlichen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht bzw. gegen das Diskriminierungsverbot die Rede sein, bei dem die Redaktion aus berufsethischer Sicht zwingend hätte eingreifen müssen.
b) Etwas anders verhält es sich mit dem Brief des Lesers P. vom 29. Dezember 2000. Auch in diesem Brief wird mit Hilfe von überzeichneten und übertriebenen Behauptungen versucht, die Frage nach der Kritik an Israel zum Diskussionsthema zu machen. Im Gegensatz zum ersten Brief gerät hier aber nicht nur der Staat Israel ins Visier. Vielmehr greift der Briefschreiber die «jüdischen Kreise», die «jüdische Seite» scharf an. Soweit er im ersten Teil des Textes die «jüdische Seite» kritisiert, welche bei Kritik an Israel sofort nach dem Presserat rufe und weiter moniert, Vertreter jüdischer Organisationen würden immer nur das Leid der Juden betonen und grosszügig über dasjenige der Palästinenser hinwegsehen, bewegt er sich noch innerhalb der Grenzen der Freiheit des Kommentars und der Kritik, bei der ein redigierendes Eingreifen zwar denkbar, berufsethisch aber nicht zwingend war. Offensichtlich diskriminierend im Sinne von Ziff. 8 der «Erklärung» ist hingegen der letzte Satz des Leserbriefes :«Wenn ich Juden wegen ihrer ganzen Art nicht mag (…)». Damit wird den Juden als Religionsgemeinschaft in generalisierender Weise eine objektiv negative Charakter-«Art» zugesprochen, woran auch die Ich-Form des Satzes nichts zu ändern vermag. Das ist eine altbekannte, latent rassistische, mit versteckten Anspielungen operierende Diffamierungstechnik, die auch in einer Leserbriefspalte nichts zu suchen hat. Im Ergebnis hätte die Leserbriefredaktion des TA den Leserbrief von P. entweder nicht veröffentlichen oder zumindest den letzten Satz streichen sollen.
6. Die Kritik des Beschwerdeführers richtet sich nicht nur gegen die Veröffentlichung der beiden diskutierten Leserbriefe, sondern darüber hinaus gegen die «generell antisemitisch gefärbte Leserbrief-Auswahl des TA», sowie gegen die an «Thesen- und Kampagnenjournalismus grenzende Konzeption» des TA bei der Veröffentlichung von «antisemitisch angehauchten antiisraelischen» Leserbriefen. Der Beschwerdeführer erachtet die beiden diskutierten Leserbriefe sowie einen Brief von TA-Chefredaktor Löpfe vom 14. Dezember 2000, in dem dieser den Abdruck des Leserbriefes von V. verteidigt, als Indizien für seine These.
Hinsichtlich dieser Rüge ist darauf hinzuweisen, dass allein aus dem Abdruck zweier sich im Grenzbereich des berufsethisch Tolerablen bewegenden Leserbriefen – wovon in einem Fall gegen Ziff. 8 der «Erklärung» verstossen worden ist – die vom Beschwerdeführer postulierte These bei weitem nicht zu belegen vermag. Dass dem TA keine «generell antisemitisch gefärbte» Auswahl der Leserbriefe vorzuwerfen ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass die Zeitung auch proisraelische Briefe abdruckt – wie die vom TA mit der Beschwerdeantwort eingereichte beigelegte Leserbriefseite vom 18. Dezember 2000 beispielhaft belegt. Die Beschwerde ist in diesem Punkt als offensichtlich unbegründet abzuweisen, soweit auf diese Rüge mangels genügender Begründung (Ziff. 8 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates) überhaupt eingetreten werden kann.
III. Feststellungen
1. Der TA hat mit dem Abdruck des letzten Satzes des Leserbriefes von P. vom 29. Dezember 2000 gegen Ziff. 8 der «Erklärung» verstossen. Die Beschwerde wird insoweit teilweise gutgeheissen.
2. Darüber hinaus wird die Beschwerde abgewiesen.
3. Den Redaktionen wird empfohlen, krasse Übertreibungen in Leserbriefen, die gesichertem Alltagswissen widersprechen, zu streichen, statt sie ungefiltert weiterzuverbreiten.