I. Sachverhalt
A. Am 31. Oktober 2002 veröffentlichte das «Oltner Tagblatt» einen längeren Artikel mit dem Titel «ÐRentengeschenk? für Asylbewerber» und dem Untertitel «Sozialversicherungen: Die Linke darf aus Datenschutzgründen nicht wissen, was die Rechte tut». Der Text war mit einer Karikatur illustriert. Darin gibt ein Beamter mit Blindenschleife einem lachenden Krauskopf (mit IV-Schild, Schweizerfahne und Krücke) ein Bündel Banknoten; hinter dem Empfänger steht ein Karren mit einem Haufen Geld. Im Artikel ging es um die Problematik, dass der Asylsuchende T. eine IV-Rente zugesprochen und rückwirkend ausbezahlt erhalten hatte, obschon er zwischenzeitlich für den gleichen Zeitraum Fürsorgegelder der Gemeinde bezogen hatte. Als die Gemeinde das Geld habe zurückfordern wollen, sei es bereits 10 Tage nach der Überweisung durch die IV nicht mehr vorhanden gewesen. Der Autor kritisierte in erster Linie, dass die zuständigen Stellen gegenseitig nicht über die Geldzahlungen informiert waren und es deshalb zur ungerechtfertigten Überweisung von 41’000.- Franken kommen konnte. Der Artikel erschien im Vorfeld der Abstimmung über die SVP-Asylinitiative vom 23./24. November 2002.
B. In den Ausgaben vom 12., 14. und 15 November 2002 erschienen im Zusammenhang mit anderen Leserbriefen zur Abstimmung drei Leserreaktionen, die ihre Empörung über den im Artikel vom 31. Oktober 2002 thematisierten Missbrauch ausdrückten.
C. Am 15. November 2003 sandte X., einen Leserbrief per E-mail an das «Oltner Tagblatt». Darin stellt er richtig, es sei offensichtlich nicht möglich, dass ein Asylsuchender in der Schweiz eine IV-Rente erhalte, ohne vorher je hier gearbeitet zu haben. Bereits eine kurze Nachfrage habe ergeben, dass der Asylbewerber T. während einiger Jahre als Saisonnier in der Schweiz gearbeitet habe, bevor er ein Asylgesuch stellte
D. Am 6. Dezember 2002 legte X. beim Presserat Beschwerde gegen das «Oltner Tagblatt» ein. Er rügte, die Zeitung habe die Tatsache unterschlagen, dass keine IV-Rente beziehen könne, wer nie in der Schweiz gearbeitet habe. Der Journalist sei dieser Frage nicht nachgegangen und habe versäumt zu erwähnen, dass der betroffene Asylbewerber vor der Einreichung des Asylgesuchs einige Jahre in der Schweiz als Saisonnier tätig gewesen war. Damit habe die Redaktion Ziffer 3 (Verbot der Unterschlagung oder Entstellung von Informationen) verletzt. Dies sei auch deshalb gravierend, weil die Leserschaft den Artikel als Diskussionsbeitrag zur bevorstehenden eidgenössischen Abstimmung über die Asylinitiative der SVP verstanden habe. Zudem beschwerte sich der Beschwerdeführer, dass das «Oltner Tagblatt» den von ihm am 15. November 2002 per E-mail zugesandten Leserbrief nicht abdruckte, in dem er bereits auf den Fehler aufmerksam gemacht habe.
E. Am 14. Dezember 2002 war der beanstandete Fall unter dem Titel «Gemeinde wusste doch von IV-Gesuch» und dem Untertitel «ÐFall Oensingen? Veränderte Informationslage wirft neues Licht auf die komplexe Sachlage» erneut Thema im «Oltner Tagblatt. Im Artikel erklärte die Zeitung, dass die Gemeindeverwaltung Oensingen fälschlicherweise gegenüber der Zeitung behauptet habe, der Asylbewerber habe nie gearbeitet. Im Widerspruch zu den Angaben des Gemeindeschreibers stehe auch die Tatsache, dass die Gemeinde doch über das IV-Gesuch informiert war.
F. Das «Oltner Tagblatt» nahm am 15. Januar 2003 zur Beschwerde Stellung. Die Redaktion räumte ein, im Nachgang zum publizierten Artikel zu neuen Informationen gekommen zu sein. Im Zeitpunkt der Veröffentlichung aber sei die Äusserung der Gemeinde aus zuverlässiger Quelle (Gemeindeschreiber von Oensingen) richtig wiedergegeben worden. Den Leserbrief des Beschwerdeführers habe man selbstverständlich ernst genommen. Seine Angaben hätten aber im Widerspruch zu den Angaben des Gemeindeschreibers gestanden, weshalb er in dieser Form nicht publiziert worden sei. Die weiteren Abklärungen hätten sich verzögert, weil der zuständige Redaktor Militärdienst habe leisten müssen.
G. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde zur Behandlung an die erste Kammer. Diese setzt sich zusammen aus Peter Studer (Kammerpräsident), Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli, Pia Horlacher, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 28. März 2003 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Zwischen den Parteien ist unbestritten, dass dem beanstandeten Artikel des «Oltner Tagblatts» nicht entnommen werden konnte, dass der Asylbewerber T. vor der Einreichung seines Asylgesuchs einige Jahre als Saisonnier in der Schweiz gearbeitet hatte. Ebenso ist unbestritten, dass sich die Auskunft des Gemeindeschreibers von Oensingen nachträglich als falsch herausstellte, die Gemeinde habe von der Einreichung des IV-Gesuchs durch T. keine Kenntnis gehabt. Nachfolgend ist dementsprechend näher zu prüfen, ob a) die Zeitung sich vor der ersten Publikation zu Recht mit der Auskunft des Gemeindeschreibers begnügte und sich auf diese verliess (nachfolgend Erwägungen 2 bis 4) und b) ob die Richtigstellung vom 14. Dezember 2003 genügend frühzeitig erfolgt ist bzw. ob die Zeitung verpflichtet gewesen wäre, den Leserbrief des Beschwerdeführers abzudrucken (nachfolgend Erwägungen 5 und 6).
2. Erster Punkt der «Erklärung» ist die Pflicht zur Wahrheitssuche (Ziffer 1). Sie stellt, wie in die Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» ausgeführt, «den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit» dar. Teil dieser Wahrheitssuche ist auch das Gebot, keine Tatsachen zu entstellen und keine wichtigen Informationen zu unterschlagen (Ziffer 3 der «Erklärung»).
3. Vorliegend ist dementsprechend zu prüfen, ob die ihm Artikel fehlende Information, dass Asylbewerber T. zuvor während einigen Jahren in der Schweiz als Saisonnier gearbeitet und dementsprechend Sozialversicherungsbeiträge entrichtet hatte als wesentlich im Sinne von Ziffer 3 der «Erklärung» zu werten ist.
Dem beanstandeten Artikel ist zu entnehmen, dass T. seit 1997 in der Gemeinde Oensingen wohnte und bis im Herbst 2002 zusammen mit seiner Ehefrau für über Fr. 100’000.– Fürsorgegelder bezog. Im Dezember 1998 habe er dann ein Gesuch für eine IV-Rente eingereicht, die ihm im September 2002 rückwirkend per 1. November 1996 zugesprochen worden sei. Das Ehepaar habe laut Gemeindeverwaltung während des gesamten Aufenthalts unter dem Status des Asylgesetzes keine Erwerbstätigkeit ausgeübt. Zwar sind diese Angaben für sich allein betrachtet offensichtlich korrekt und es wird bei genauerer Betrachtung zudem klar, dass T. vor 1997, d.h. vor dem «Aufenthalt unter dem Status des Asylgesetzes» durchaus bereits eine Erwerbstätigkeit in der Schweiz ausgeübt haben konnte. Dennoch dürfte bei einem erheblichen Teil der Leserschaft des «Oltner Tagblatts» der tatsachenwidrige Eindruck entstanden sein, hier sei einem Asylbewerber eine IV-Rente zugesprochen worden, ohne dass dieser in der Schweiz je Sozialversicherungsbeiträge bezahlt hätte.
Zwar war dieser Aspekt nicht das Hauptthema des Artikels, der sich in erster Linie mit der ungenügenden Koordination zwischen Fürsorgebehörden und Sozialversicherungsträgern befasste. Der beklagte Artikel erschien jedoch im Vorfeld der Abstimmung über die SVP-Asylinitiative vom 23./24. November 2002. Angesichts des sehr emotional geführten Abstimmungskampfes zu dieser Initiative war klar, dass alle Zeitungsartikel, die in irgendeiner Form von Asylsuchenden handelten, automatisch auch als Diskussionsbeitrag zur Abstimmung aufgefasst werden konnten. Aus den dem Presserat eingereichten Beispielen von Leserbriefen zu schliessen, traf dies hier so zu.
War die fehlende Angabe über die frühere Erwerbstätigkeit von Asylbewerber T. in der Schweiz demnach geeignet, bei einem erheblichen Teil der Leserschaft eine fal
sche Vorstellung über die Tragweise des vom «Oltner Tagblatt» thematisierten Missbrauch zu erwecken, ist diese Information als «wesentlich» im Sinne von Ziffer 3 der «Erklärung» zu qualifizieren. Ebenso gilt dies ohne weiteres für die – allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt geklärte – Frage, ob die Gemeinde etwas von der IV-Anmeldung wusste oder nicht.
4. Sowohl die fehlende (frühere Erwerbstätigkeit) als auch die Falschinformation (Kenntnis der Gemeinde über IV-Anmeldung) basieren auf den Auskünften des Gemeindeschreibers von Oensingen, der dem «Oltner Tagblatt» als «kompetenter und verlässlicher Behördenvertreter» bekannt sei, wie es in der Beschwerdeantwort heisst. Die Redaktion sei daher in guten Treuen davon ausgegangen, dass seine Darstellung den Tatsachen entsprach. Der Presserat schliesst sich in diesem Punkt der Argumentation des «Oltner Tagblatts» an. Die journalistische Arbeit würde sehr erschwert, wenn man nicht mehr davon ausgehen könnte, dass Auskünfte von Behördenvertretern der Wahrheit entsprechen und dass darin keine wesentlichen Informationselemente unterschlagen werden.
Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass gerade möglicherweise abstimmungsrelevante Informationen vor ihrer Veröffentlichung besonders sorgfältig geprüft werden müssen. Denn Un- oder Halbwahrheiten können oft nicht mehr in nützlicher Frist berichtigt werden. Alle themenspezifische Information, die die Leserschaft vor einer Abstimmung erhält, kann das Verhalten beeinflussen. Was nach der Abstimmung veröffentlicht wird, hat auf den Ausgang keinen Einfluss mehr. Da vor Abstimmungen auch die Gefahr besteht, dass Journalistinnen und Journalisten von Interessenvertretern instrumentalisiert werden, müssen zudem Quellen und Informant/innen noch sorgfältiger geprüft werden.
5. Gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» haben Journalistinnen und Journalisten jede von ihnen veröffentlichte Meldung zu berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. Laut der Richtlinie 5.1 zur «Erklärung» ist die Berichtigungspflicht unverzüglich wahrzunehmen. Im Gegensatz zur Veröffentlichung von Berichtigungen steht der Abdruck von Leserbriefen im freien Ermessen der Redaktion. Dementsprechend sind selbst Medien mit einer regionalen Vormachtstellung nicht verpflichtet, im Einzelfall einen bestimmten Leserbrief abzudrucken (Stellungnahme 23/02 i.S. DJL c. «Neue Luzerner Zeitung»).
6. Dementsprechend geht die Rüge des Beschwerdeführers offensichtlich fehl, sein Leserbrief sei nicht abgedruckt worden. Hingegen ist näher zu prüfen, ob das «Oltner Tagblatt» der Berichtigungspflicht mit der Publikation des zweiten Artikels vom 14. Dezember 2002 Genüge getan hat.
Gemäss unbestrittener Darstellung hat der Beschwerdeführer die Redaktion mit seinem am 15. November 2003 per E-Mail zugesandten Leserbrief über die Unrichtigkeit der Annahme orientiert, Asylbewerber T. habe eine IV-Rente zugesprochen erhalten, ohne je in der Schweiz gearbeitet zu haben. Bereits nach Erhalt des Leserbriefs, in dem der Kläger einige Ungereimtheiten erwähnt, erschien es dem Chefredaktor gemäss Darstellung in der Beschwerdeantwort notwendig, «sich der Sache nochmals anzunehmen». Die rund eineinhalb Monate Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten Artikel begründet er mit dem Militärdienst des zuständigen Redaktors. Auch wenn es bei kleineren Redaktionen nicht immer möglich sein mag, bei Abwesenheiten eine Stellvertretung zu organisieren, wäre eine Prüfung der vom Beschwerdeführer zu Recht geltend gemachten Unrichtigkeit mit einem minimalen Aufwand ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, ohne die Rückkehr des zuständigen Redaktors und Autors des ersten Artikels abzuwarten. Eine einfache Anfrage bei der im Artikel vom 31. Oktober 2003 erwähnten zuständigen AHV-Ausgleichskasse des Kantons Solothurn wäre umso mehr angezeigt gewesen, als zwischen dem Erhalt des Leserbriefs und dem Abstimmungswochenende noch etwas mehr als eine Woche lag. Damit hatte das «Oltner Tagblatt» also noch genügend Zeit für eine Nachrecherche und für die Veröffentlichung einer Richtigstellung vor dem Abstimmungstermin.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das «Oltner Tagblatt» wäre aufgrund von Ziffer 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verpflichtet gewesen, den vom Beschwerdeführer bestrittenen Sachverhalt umgehend zu überprüfen und noch vor dem Abstimmungswochenende vom 23./24. November 2002 eine Richtigstellung zu veröffentlichen.
2. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
3. Möglicherweise abstimmungsrelevante Informationen sind vor ihrer Veröffentlichung besonders sorgfältig zu prüfen, da Un- oder Halbwahrheiten oft nicht mehr vor einer Volksabstimmung berichtigt werden können. Da vor Abstimmungen in besonderem Masse die Gefahr besteht, dass Journalistinnen und Journalisten von Interessenvertretern instrumentalisiert werden, müssen zudem Quellen und Informant/innen noch sorgfältiger geprüft werden.