Nr. 2/2007
Respektierung der Menschenwürde / Intimsphäre

(X. c. «Weltwoche») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 16. Februar 2007

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Zusammenfassung

Resumé

Riassunto

I. Sachverhalt

A. Die «Weltwoche» Nr. 12 vom 23. März 2006 veröffentlichte im Rahmen der Kolumne «Fernsehkritik der reinen Vernunft» des Schriftstellers Gion Mathias Cavelty einen Text mit dem Titel «Im Bann der Nippelgöttin». Darin berichtete der Autor über sein subjektives Erleben einer Lesung im Y. «Die Leiterin desselben begrüsste die Zuhörerschaft in bestem Deutsch und setzte dann zu einer Einführung des soeben seinen ersten Roman veröffentlicht habenden Autors an. Dieses Werk – verkopft hoch siebenundachtzig – schien es ihr sichtlich angetan zu haben, denn durch ihren Pullover zeichneten sich mit zunehmender Deutlichkeit ihre Nippel ab … Mit jedem Satz wurden sie grösser und grösser, ab einem gewissen Punkt habe ich mich dann nicht mehr getraut hinzuschauen.» Diese Nippel seien ihm in der Folge auch bei einem darauffolgenden Flug nach New York nicht mehr aus dem Kopf gegangen und «als ich irgendwann in einem am Boden gefundenen ‹Tages-Anzeiger-Magazin› den Satz ‹Anuschka Roshani schreibt wie eine Göttin!› (…) las, überkamen mich düstere, fiebrige Visionen von griechischen Nippelgöttinnen, die mich mit ihren gigantischen Brüsten, sprudelnden Quellen von Weisheit und Wahrheit oder etwas in der Art zerquetschen wollten».

B. Am 30. März 2006 gelangte X. mit einer Beschwerde an den Presserat. Mit der Veröffentlichung der Kolumne «Im Bann der Nippelgöttin» habe die «Weltwoche» die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Diskriminierung, Respektierung der Menschenwürde) verletzt. Insider wüssten, um wen es sich bei der nicht namentlich genannten Leiterin des Y. handle. Mit seiner pornografisierenden Darstellung habe Cavelty die Grenzen der Kommentarfreiheit und der Satire überschritten. Die Kolumne sei als sexistischer Akt zu werten, der die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Leiterin des Y. und ebenso die Würde der Beschwerdeführerin als Leserin und Frau verletze.

C. Am 28. Juni 2006 wies die anwaltlich vertretene Redaktion der «Weltwoche» die Beschwerde als unbegründet zurück. X. habe in ihrer Beschwerdeschrift ausschliesslich die Ziffer 8 der «Erklärung» und die zugehörigen Richtlinien 8.1 (Diskriminierung) und 8.2 (Menschenwürde) erwähnt. Die vom Presserat vorgenommene Verfahrensausdehnung auf die Ziffer 7 der «Erklärung» (Respektierung der Privatsphäre) sei ohne Mehrheitsbeschluss des Presserates (Art. 6 Geschäftsreglement) unzulässig. Entsprechend habe sich das Verfahren auf die Ziffer 8 der «Erklärung» zu beschränken. Die in der Kolumne zwar nicht namentlich genannte, aber identifizierbare Leiterin des Y. sei im Text nicht als Repräsentantin eines Geschlechts, sondern als Individualperson betroffen. Mithin gehe es nicht um eine Geschlechterdiskriminierung, sondern um die Rechte einer Individualperson. Zudem verletze eine Satire die Persönlichkeit nur dann widerrechtlich, wenn sie ihre weit auszulegenden Grenzen in unerträglichem Masse überschreite. Die Beschwerdeführerin stelle nicht dar, inwiefern dies hier zutreffe. Sie stelle auch den Wahrheitsgehalt nicht in Frage.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 6. Juli 2006 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer und den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever sowie Esther Diener-Morscher behandelt.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 16. Februar 2007 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Vorab ist die von der «Weltwoche» aufgeworfene Verfahrensfrage zu prüfen. Art. 8 Abs. 2 verlangt von den Beschwerdeführer/innen, den massgeblichen Sachverhalt zusammenzufassen und zudem anzugeben, welche Punkte der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nach ihrer Auffassung durch den beanstandeten Medienbericht verletzt worden sind. Diese Begründungspflicht ist nach der Praxis des Presserates (12/2001) keine strenge Rügepflicht. Der Presserat kann zu einem Sachverhalt auf Beschwerde hin nicht nur dann Stellung nehmen, wenn die genaue Ziffer der «Erklärung» und/oder der zugehörigen Richtlinien in der Beschwerde explizit erwähnt ist. Da das Beschwerdeverfahren vor dem Presserat auch juristischen Laien offen stehen soll, lässt es der Presserat genügen, wenn aus dem Text der Beschwerde sonstwie deutlich wird, welche berufsethische(n) Bestimmung(en) gemeint ist. Aus der Beschwerde von ¨X. vom 30. März 2006 geht hervor, dass diese sowohl einen kollektive (Sexismus, Würde der Frau) als auch individuelle (Verletzung der Persönlichkeit der identifizierbaren Leiterin des Y.) Stossrichtung enthält. Entsprechend hat der Presserat die «Weltwoche» aufgefordert, nicht «nur» zur angeblichen Verletzung von Ziffer 8, sondern auch zu einer solchen von Ziffer 7 der «Erklärung» (Respektierung der Privatsphäre) Stellung zu nehmen. Darin liegt entgegen der Auffassung der «Weltwoche» keine Verfahrensausdehnung, die gestützt auf Art. 6 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Presserates einen Mehrheitsbeschluss des Plenums erforderte. Ein solcher ist notwendig, wenn der Presserat einen Sachverhalt von sich aus aufgreift und nicht bloss wie hier einen ihm durch Beschwerde unterbreiteten Sachverhalt berufsethisch unter einem weiteren Gesichtspunkt würdigt. Zumal der «Weltwoche» wie angeführt ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich auch in Bezug auf eine allfällige Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» zu äussern.

2. In seiner Praxis zu Ziffer 8 der «Erklärung» hat der Presserat mehrfach festgehalten (Stellungnahmen 32/2001, 10/2005), dass das Verbot diskriminierender Anspielungen nicht ausdehnend interpretiert werden darf. Die Meinungsäusserungsfreiheit gebietet auch beim Vorwurf der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, nicht den Massstab einer strengen «sexual correctness» anzulegen. Entsprechend bewertet der Presserat die Veröffentlichung der subjektiven Männerfantasie des Kolumnisten nicht als berufsethisch zu rügende Herabwürdigung des weiblichen Geschlechts. Zumal der Text über den beschriebenen Einzelfall hinaus keine Verallgemeinerungen enthält, welche Frauen auf ein blosses Sexobjekt reduzieren.

3. Problematisch war es hingegen, das angebliche Anschwellen der Brustwarzen einer zwar nicht namentlich genannten, jedoch ohne weiteres identifizierbaren Frau während eines öffentlichen Anlasses in einem Medienbericht zu beschreiben. Zusammen mit der Mutmassung, der Romanautor scheine «es ihr sichtlich angetan zu haben», wird der Betroffenen damit ein äusseres Zeichen sexueller Erregung unterstellt und damit in ihre Intimsphäre eingegriffen. Wie zuletzt in der Stellungnahme 52/2006 ausgeführt, ist eine Berichterstattung, welche die Privat- oder gar die Intimsphäre einer Person berührt, nur unter restriktiven Voraussetzungen zulässig. Vorliegend ist eine derartige Ausnahme nicht ersichtlich. Insbesondere besteht keinerlei Zusammenhang dieses Eingriffs in die Intimsphäre zur Funktion der Leiterin eines Y. in der Öffentlichkeit.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Mit der Veröffentlichung der Kolumne «Im Bann der Nippelgöttin», in der Gion Mathias Cavelty das angeblich sexuell motivierte Anschwellen der Brustwarzen einer Frau bei einem öffentlichen Anlass in identifizierender Weise beschreibt, hat die «Weltwoche» in die Intimsphäre der Betroffenen eingegriffen und damit die Ziffer 7 der «E
rklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

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