Lokalisierende Berichterstattung (X. c. «20 Minuten»)
Stellungnahme des Presserates 53/2002 vom 22. November 2002
I. Sachverhalt
A. Unter Angabe der genauen Adresse einschliesslich der Abbildung des betroffenen Hauses meldete «20 Minuten» am Montag 24. Juni 2002, eine 21-jährige Frau habe am vorangegangenen Freitag Abend in Basel ihren 22-jährigen Ehemann mit einer Faustfeuerwaffe schwer verletzt. Das Opfer sei ins Kantonsspital eingeliefert worden, befinde sich aber nicht in Lebensgefahr. Unter dem Bild des Hauses stand als Legende: «In diesem Haus geschah des Familiendrama.»
B. Mit Schreiben vom 25. Juni 2002 gelangte X. an den Chefredaktor von «20 Minuten» und zeigte sich als Mitbewohner über die Abbildung «unserer Liegenschaft mit genauer Adressangabe» entsetzt. Er fragte, was die Liegenschaft mit einer Familientragödie zu tun habe. Im übrigen habe er am 24. Juni 2002 auf der Redaktion in Basel vorgesprochen, wo er nicht gerade freundlich empfangen worden sei. Auf seine Vorhalte habe man ihm lediglich mitgeteilt, dass die Bildveröffentlichung rechtens sei und er das akzeptieren müsse.
C. Mit Beschwerde vom 31. Juli 2002 gelangte X. an den Presserat und rügte «eine erhebliche Verletzung von uns und der anderen Mitbewohner und Geschäftsinhaber» seiner Liegenschaft. Da er bis heute keine Antwort von der Redaktion von «20 Minuten» erhalten habe, möchte er die Stellungnahme des Presserates zu einer solchen Berichterstattung hören. Allenfalls sei zudem die Redaktion von «20 Minuten» «für ihr schäbiges Verhalten zu einer Entschuldigung» zu bewegen.
D. In einer Stellungnahme vom 3. September 2002 beantragte die Redaktion von «20 Minuten» die Abweisung der Beschwerde. Wie den Ausführungen von Herrn X. zu entnehmen sei, habe er von der Redaktion sehr wohl eine (mündliche) Antwort erhalten. Nach Meinung von «20 Minuten» gehöre es heute zum journalistischen Handwerk, Tatorte zu zeigen. Auch andere Medien hätten in vergleichbaren Fällen die Adresse einer betroffenen Liegenschaft genannt oder ein Bild derselben gezeigt.
E. Am 6. September 2002 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel der Parteien als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt.
F. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.
G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 22. November 2002 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» auferlegt den Medienschaffenden die Pflicht, die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Gemäss der Richtlinie 7.6 (Namensnennung) veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten in der Gerichtsberichterstattung – vorbehältlich von Ausnahmen – grundsätzlich weder Namen noch andere Angaben, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen. Der Presserat hat in seiner Praxis diesen Grundsatz der Nichtidentifikation der Betroffenen über die Gerichtsberichterstattung hinaus ausgedehnt (vgl. z.B. 8/00 i.S. L. c. «Beobachter»; 41/00 i.S. A. c. «Basler Zeitung» und 12/02 i.S. X. c. «Tribune de Genève»).
2. Ausgehend von diesem Grundsatz würde es offensichtlich zu weit führen, die Nennung der genauen Adresse und die Abbildung von Tatorten unter dem Gesichtspunkt der Respektierung der Privatsphäre der von einer Berichterstattung Betroffenen von vornherein für unproblematisch zu erklären. Denn diese Angaben können ebenso wie die Namensnennung dazu führen, dass Betroffene über den engen Kreis von Bekannten, Verwandten und Freunden hinaus identifizierbar werden. Mithin kann die Privatsphäre von Personen, die nicht dem öffentlichen Leben zuzuordnen sind, bei einer solchen Berichterstattung auch bei einem Verzicht auf die Namensnennung bloss gestellt werden, ohne dass dies immer durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt wäre.
Insoweit erscheint die präzis lokalisierende Berichterstattung durch «20 Minuten» im Bericht vom 24. Juni 2002 als nicht unproblematisch, weil sie die Identifikation der schiessenden Ehefrau und des verletzten Ehemannes zumindest erheblich erleichtert. Ob diesbezüglich gegebenenfalls eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» zu bejahen wäre, kann hier allerdings offen bleiben, da der Beschwerdeführer ausschliesslich eine Verletzung der Privatsphäre von Eigentümer und Mitmietern der Liegenschaft rügt.
3. Eine Verletzung der Privatsphäre des Beschwerdeführers und seiner Mitbewohner allein durch die öffentliche Nennung und bildliche Illustration der Tatsache, dass in ihrer Liegenschaft ein Gewaltverbrechen verübt worden ist, vermag demgegenüber keine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» zu begründen. Denn ungeachtet der entsprechenden Behauptung des Beschwerdeführers erscheint es als höchst unwahrscheinlich, dass er oder seine Mitbewohner durch die Berichterstattung materiell oder immateriell erheblich geschädigt worden sind. Denn aus dem Artikel von «20 Minuten» kann in keiner Weise abgeleitet werden, dass die Liegenschaft, deren Besitzer oder Mitbewohner in irgendeiner Form mit dem Gewaltverbrechen in Zusammenhang stehen und damit in ein schlechtes Licht gestellt würden. Eine unzulässige Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre ist unter diesen Umständen zu verneinen.
4. Ebensowenig kann aus der Nichtbeantwortung des Schreibens des Beschwerdeführers vom 25. Juni 2002 durch die Redaktion von «20 Minuten» eine Verletzung der «Erklärung» abgeleitet werden. Dessenungeachtet wäre aber eine kurze schriftliche Antwort der Redaktion gut angestanden.
III. Feststellung
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.