Nr. 61/2011
Kommentarfreiheit

(Lindt c. «Der Landbote») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 23. Dezember 20

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I. Sachverhalt

A. Am 18. Juni 2011 veröffentlichte «Der Landbote» in der Rubrik «Tribüne» eine Kolumne des Schriftstellers Nicolas Lindt mit dem Titel «Xenia muss töten – wir Menschen nicht». Darin erzählt der Autor eine Geschichte, die «Freunde» vom «anderen Ende des Kantons» mit ihrer jungen Hündin Xenia erlebt hätten. Xenia habe «an einem Waldrand ein Reh entdeckt, angegriffen und töten wollen. Sie wurde zurückgepfiffen, das Reh konnte flüchten, doch ein Anwohner hat den Hund angezeigt. Die Jäger haben das Wild gesucht, aufgespürt und erlegt. Die Familie musste der Jagdgesellschaft dafür eine grössere Summe zahlen, da das Reh zum Revier der Jagdgesellschaft gehört und somit ihr Eigentum war. Auf die Verwarnung folgte eine Verzeigung. Es wird zu einem Urteilsspruch kommen.»

Xenia gelte nun als «böser Hund. Und das angegriffene Reh ist ein armes Reh. Warum ist aber der Jäger (…) kein böser Jäger? (…) Jäger sind im Grunde Serienkiller, weil sie vorsätzlich und geplant auf jeder Jagd einen Mord begehen. ‹Den Bestand regulieren› nennen sie ihre Blutgier. Sie bemänteln ihr tödliches Tun mit der Hege und Pflege des Waldes (…) Jäger sind keine Tierpfleger. Sie sind auch keine Naturfreunde. Sie fahren mit ihren Offroadern in den stillen, geduldigen Wald, um dort zu lauern, zu treiben, zu zielen, zu treffen, und sie machen andere Tiere – Hunde (…) zu Komplizen ihres Wilderertums.» Wer jetzt glaube, er habe etwas gegen Jäger, irre sich. Diese müssten zumindest «dem toten Tier in die verlöschenden Augen sehen». Dagegen würden die Fleischkonsument/innen nicht selber töten, sondern töten lassen. «Tag für Tag, Stunde für Stunde findet hinter undurchdringlichen Mauern ein Massenmord statt, der keinen Vergleich hat. Wir bedauern das arme Rehlein, doch niemand besichtigt Schlachthöfe.»

B. Am 22. Juni 2011 teilte Colette Gradwohl, Chefredaktorin «Der Landbote», Nicolas Lindt per E-Mail mit, sein Beitrag vom 18. Juni 2011 habe zahlreiche Reaktionen provoziert. «Ich möchte Sie informieren, dass wir am kommenden Samstag den Beitrag von Jagd Zürich, den ich Ihnen in der Anlage zustelle, veröffentlichen werden. (…) Ein Tribüne-Beitrag ist eine Art Carte Blanche für die Autor/innen. Die darin vertretenen Meinungen dürfen durchaus eigenständig und provokativ sein, sie müssen sich auch nicht mit der Meinung der Redaktion decken. Aber: Die Redaktion sollte sich darauf verlassen können, dass die Beiträge korrekt recherchiert sind, die dargestellten Sachverhalte der Wahrheit entsprechen und der Inhalt nicht verunglimpfend ist. In all diesen Punkten, die journalistische Standards sind, entspricht Ihr Beitrag vom vergangenen Samstag nicht unseren Vorstellungen. Ich möchte deshalb in Zukunft auf Ihre Tribüne-Beiträge verzichten und unsere Zusammenarbeit beenden.»

C. Am 25. Juni 2011 druckte der «Landbote» einen ausführlichen Text von Christian Jacques, Vizepräsident Jagd Zürich, unter dem Titel «Jäger sind keine Tiermörder» als Entgegnung auf die Kolumne der Vorwoche ab. Eine «so verquere, inhaltlich falsche und den Sachverhalt unvollständig wiedergebende Kolumne kann nach einer Pauschalverurteilung aller Zürcher Jägerinnen und Jäger nicht unwidersprochen bleiben. Nicolas Lindt verdreht die Fakten und greift eine unbescholtene, verantwortungsbewusste Jägerschaft scharf und pauschal an. Als bekennender Vegetarier nimmt er Jäger indifferent als Tiermörder wahr und den Hund als Opfer.» Xenia sei wie alle frei herumlaufenden Hunde unschuldig. Schuldig seien vielmehr verantwortungslose Hundehalter, die ihre Hunde frei herumlaufen lassen. «Wäre Xenia angeleint geführt worden, würde das Reh noch leben.»

Am Ende der Kolumne merkt die Redaktion an: «Christian Jacques hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass der der Kolumne zugrunde liegende Sachverhalt in wesentlichen Punkten nicht korrekt wiedergegeben worden ist. Unsere Abklärungen haben dies bedauerlicherweise bestätigt.»

D. Am 17. Juli 2011 protestierte Nicolas Lindt in einer E-Mail an Colette Gradwohl, er sei in der Kolumne der Jagdgesellschaft und im redaktionellen Begleitkommentar als Autor dargestellt worden, dessen Glaubwürdigkeit zu bezweifeln sei. Zwei andere Tribüne-Kolumnisten und ein Chefredaktor einer anderen Zeitung hätten zudem nicht verstanden, weshalb sie seine Kolumne absetze, bevor sie ihn zur Sache angehört habe. «Ich bitte Sie deshalb darum, dass Sie mir vor der endgültigen Beurteilung die Gelegenheit geben, Ihnen zu schildern, wie es wirklich war. (…) Ich möchte Ihnen auch erklären, warum ich mich sehr widerwillig, aber mit Rücksicht auf meine Familie dazu entschloss, den Vorfall mit dem Reh zu anonymisieren – ein legitimes journalistisches Vorgehen.»

E. Am 20. Juli 2011 antwortete Colette Gradwohl per E-Mail, ausschlaggebend für ihren Entscheid sei die Tatsache gewesen, «dass Sie von ihrem Hund geschrieben haben und nicht vom Hund von Freunden. In diesem Punkt haben Sie uns auf der Redaktion und auch die Leserschaft getäuscht – und Vertrauen missbraucht. Als Halter des Hundes, um den es in der Kolumne ging, waren Sie befangen. Und Befangenheiten gehören deklariert, mindestens gegenüber der Redaktion. Und im Vorfeld der Publikation. Wäre das geschehen, hätten wir mit Sicherheit den Abdruck der Kolumne nicht zugelassen. Aber möglicherweise im Gespräch mit Ihnen einen anderen Weg gefunden.» Unter den gegebenen Umständen sei das für eine weitere Zusammenarbeit notwendige Vertrauen gestört, weshalb sie zurzeit keine Möglichkeit sehe, auf ihren Entscheid zurückzukommen.

F. Am 15. August 2011 beschwerte sich Nicolas Lindt, Wald, beim Presserat über den Entscheid von Chefredaktorin Colette Gradwohl, ihn bereits nach der dritten Kolumne als Kolumnisten abzusetzen. Im Zusammenhang mit der Kolumne vom 18. Juni 2011 seien ihm Unkorrektheiten unterstellt worden, ohne ihn anzuhören. «Der Entscheid von Frau Gradwohl geschah offensichtlich auf Druck der Zürcher Jagdgesellschaft» und sei nicht mit Ziffer 2 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Freiheit des Kommentars und der Kritik) zu vereinbaren. Er habe sich zu dieser Beschwerde entschlossen, weil nach der ganzen Angelegenheit ein Gefühl der Ungerechtigkeit zurückbleibe, das viele Leserinnen und Leser mit ihm teilten. «Ich muss dafür büssen, dass eine Chefredaktorin auf äusseren Druck überstürzt reagierte und ihren Fehlentscheid nicht zugeben kann. Vor allem bedaure ich, als Kolumnist nicht mehr schreiben zu können.»

G. Am 14. September 2011 wies Chefredaktorin Colette Gradwohl die Beschwerde namens der Redaktion «Der Landbote» als unbegründet zurück. Der Vorwurf der Verletzung der Kommentarfreiheit gehe insofern ins Leere, als die umstrittene Kolumne erschienen sei. Da Nicolas Lindt die Jäger in seinem Text pauschal als «im Grunde Serienkiller» bezeichne, die, «vorsätzlich und geplant auf jeder Jagd einen Mord begehen», getrieben von «Blutgier», sei es für sie ein Gebot der Fairness gewesen, den betroffenen Jägern Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. «Persönlich hätte ich diese pauschalisierenden Verunglimpfungen (…) nicht durchgehen lassen.» Denn auch die Freiheit des Kommentars kenne Grenzen. «Herr Lindt hat sie in diesem Fall meines Erachtens überschritten.» Die Veröffentlichung der Stellungnahme der Zürcher Jagdgesellschaft sei entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers nicht auf deren Druck erfolgt.

Nicolas Lindt habe der Kolumne ein Vorkommnis zugrunde gelegt, das ihn selber betraf, habe dies aber nicht kenntlich gemacht, sondern den Sachverhalt «Freunden» zugeordnet. Falls Kolumnisten eigene Angelegenheiten zum Thema machten, «dann haben sie dies nach mei
nem Verständnis zumindest mit ‹offenem Visier› zu tun. Sollten sie glauben, gute Gründe für das Abgehen von diesem Grundsatz zu haben, so muss das mit der zuständigen Redaktion diskutiert werden. Der Entscheid liegt dann bei der Redaktion.» Da Nicolas Lindt lange journalistisch tätig gewesen sei, habe er diese Regeln kennen müssen. «Er hat dennoch keinen Kontakt mit der Redaktion gesucht. Für mich war damit das Vertrauen für eine weitere Zusammenarbeit mit Herrn Lindt nicht mehr gegeben.»

Soweit der Beschwerdeführer geltend mache, er sei zu den Vorwürfen der Jäger nicht angehört worden, verweist Chefredaktorin Gradwohl darauf, sie habe Nicolas Lindt am 22. Juni 2011 die Stellungnahme von Christian Jaques, Vizepräsident Jagd Zürich, per E-Mail zukommen lassen. «Herr Lindt hat auf dieses Schreiben und die darin enthaltene Sachverhaltsdarstellung mir gegenüber nicht reagiert.» Dass sie über dieses Mail vom 22. Juni hinaus nicht auch noch den persönlichen Kontakt mit Herrn Lindt gesucht habe, bedaure sie nachträglich.

H. Am 20. September 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

I. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. Dezember 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.


II. Erwägungen

1. Der Presserat hat bereits in der Stellungnahme 1/1992 festgehalten, dass die Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen im Ermessen der einzelnen Medienredaktion liegt. Dasselbe gilt für den Abdruck von Medienmitteilungen (11/1998), Leserbriefen (vgl. unter vielen die Stellungnahme 5/2008 sowie zuletzt die Stellungnahmen 32/2010) sowie von unverlangt eingesandten Berichten (65/2010) oder solchen von freien Journalisten (17/2006). In analoger Anwendung dieses Grundsatzes gilt dies auch für den Abdruck von Kolumnen sowie für die Auswahl von Kolumnistinnen und Kolumnisten. Ohnehin hat der Presserat nicht die Funktion einer «Oberchefredaktion». Gemäss Artikel 16 Absatz 4 seines Geschäftsreglements kann er in seinen Stellungnahmen Feststellungen treffen und Empfehlungen erlassen. Er kann aber weder Sanktionen verfügen noch den Redaktionen Weisungen erteilen. Entsprechend hat er sich grundsätzlich auch nicht in personelle Entscheide einzumischen, die im Rahmen der innerredaktionellen, arbeitsrechtlichen Kompetenzordnung getroffen werden.

2. a) Gemäss der Stellungnahme 37/2005 ist das freie Ermessen der Redaktionen bei der Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen in verhältnismässiger Weise auszuüben. Der Presserat hat es in diesem Entscheid als willkürlich angesehen, dass eine Redaktion einen persönlichen Konflikt zwischen einem Theatermann und dem Chefredaktor zum Anlass nahm, auf unbestimmte Zeit nicht mehr über eine Theatergruppe zu berichten. Es gehe berufsethisch nicht an, sich beim Entscheid über die Publikation einer Information von anderen als journalistischen Kriterien leiten zu lassen.

b) Die Wahrung der Unabhängigkeit der Journalistinnen und Journalisten (Ziffern 2 und 9 der «Erklärung») ist eine der zentralen berufsethischen Pflichten. Medienschaffende, die wegen persönlicher Beziehungen oder Interessen bei einem Thema befangen sind, sollten bei «grosser Nähe» in den Ausstand treten, oder – wenn das Mass der persönlichen Betroffenheit eine Bearbeitung nicht grundsätzlich ausschliesst, zumindest gegenüber der Leserschaft Transparenz herstellen. Der Presserat hat dazu in der Stellungnahme 51/2001 festgehalten, dass es gegen das Unabhängigkeitsgebot verstösst, die berufliche Funktion als Journalist dazu auszunützen, um eine private Auseinandersetzung rund um eine Vormundschaft über die eigene Zeitung auszutragen. Wenn eine Redaktion ein generelles Thema anhand eines konkreten Beispiels aufgreife, dürfe sie nicht ausgerechnet ein Beispiel wählen, bei dem der Chefredaktor und Autor des Artikels offensichtlich befangen ist und deshalb in den Ausstand treten müsste.

c) Der Beschwerdeführer behauptet, der Entscheid von Colette Gradwohl, seine Kolumne bereits nach der dritten Ausgabe abzusetzen, beruhe nicht auf sachlichen, journalistischen Gründen. Vielmehr sei die Chefredaktorin unter dem Druck der Jägerschaft eingeknickt. Für den Presserat ist dieser Vorwurf des Beschwerdeführers gestützt auf die ihm eingereichten Unterlagen allerdings nicht erstellt. Im Gegenteil erscheinen die von Colette Gradwohl angeführten journalistischen Gründe für die Beendigung der Zusammenarbeit mit Nicolas Lindt dem Presserat plausibel.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «Der Landbote» hat mit der Absetzung der Tribüne-Kolumne von Nicolas Lindt die Ziffer 2 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Freiheit des Kommentars und der Kritik) nicht verletzt.