Nr. 18/2000
Interviews / Gestellte Fotos

(Müller c. „Puls-Tip“) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 24. Mai 2000

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I. Sachverhalt

A. Der „Puls-Tip“ veröffentlichte in seiner Ausgabe vom Februar 2000 einen Artikel mit dem Titel „Darf das ein Schularzt?“. Er führt darin Beispiele von Schulärzten an, die Knaben und/oder Mädchen an den Genitalien untersuchen. Für viele Eltern und manche Ärzte sei das ein sexueller Übergriff. Die Zeitschrift kommt zum Schluss, Untersuche beim Schularzt seien, weil weitgehend nutzlos, abzuschaffen. Seine Kritik stützt der „Puls-Tip“ namentlich mit einem Interview der Kinderärztin Francesca Navratil. „Puls-Tip“ illustrierte den Artikel auf dem Titelblatt und dem doppelseitigen Auftakt mit einem Foto, auf dem die Hand eines Arztes den Slip eines Mädchens vom Körper wegzieht.

B. Am 10. Februar 2000 schrieb der Weinfelder Kinderarzt U. Müller an den Autor des Artikels, Thomas Grether, mit Kopie an den Schweizer Presserat. Darin kritisierte er den redaktionellen Umgang mit einer Aussage, die Franzesca Navratil im Interview gemacht hatte und stiess sich zudem an der gestellten Szene der schulärztlichen Untersuchung.

In einem Antwortschreiben vom 3. März 2000 wies „Puls-Tip“-Redaktionsleiter Tobias Frey darauf hin, dass Redaktor Grether vor und nach der Publikation mit Frau Navratil Kontakt gehabt habe. Bei der gestellten Szene seien die beiden Modelle – ein Vater und seine Tochter – sehr sorgfältig ausgewählt worden.

Tags darauf wies U. Müller „Puls-Tip“-Redaktionsleiter Frey in einem Schreiben darauf hin, dass Francesca Navratil Redaktor Grether nach Erscheinen des Artikels auf das falsche Zitat aufmerksam gemacht habe, worauf Grether gesagt habe, „in dem Fall tut es mir leid“. Und laut Navratil das Telefon aufhängte.

C. Zwischenzeitlich reichte U. Müller am 17. Februar 2000 eine Beschwerde beim Presserat ein. Müller berichtet darin von einem Telefongespräch mit der „prominenten und geschätzten Kollegin, die viele Pädiater als Kursreferentin und Autorität bei kinder- und jugendgynäkologischen Fällen gerne beiziehen“. Navratil habe ihm gesagt, ihre Aussagen seien im Interview „völlig entstellt und erweitert worden“. Mit dem entstellten Zitat habe der „Puls-Tip“ Ziffer 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt. In bezug auf die Illustration des Artikels warf der Beschwerdeführer die Frage auf, ob das fotografierte Mädchen in einer Art benützt worden sei, die als Missbrauch qualifiziert werden könne. Eventuell verstosse das Foto deshalb gegen Ziffer 4 der „Erklärung“.

D. In einer Stellungnahme vom 27. März 2000 verweist der „Puls-Tip“ darauf, Francesca Navratil hätten all ihre Aussagen in Interview und Haupttext vor der Publikation vorgelegen und sie habe sie autorisiert.

Zur gestellten Bildszene macht „Puls-Tip“ geltend, das Foto deute eine Genitaluntersuchung nur an. Die Redaktion habe die Szene vorgängig diskutiert. Sie sei sich bewusst gewesen, dass die Darsteller sorgfältig auszusuchen und zu informieren seien. Schliesslich habe man via eine Agentur Vater und Tochter gefunden.

E. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu, der Catherine Aeschbacher als Präsidentin an sowie Esther Diener Morscher, Judith Fasel, Sigi Feigel, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann angehören. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 24. Mai 2000 und auf dem Korrespondenzweg. Esther Diener-Morscher, die als freie Journalistin u.a. für den „Puls-Tip“ tätig ist, trat in den Ausstand.

II. Erwägungen

1. Die Spielregeln des journalistischen Interviews leiten sich vom Grundprinzip der Fairness ab. Diese Regeln basieren auf der Ziffer 4 der „Erklärung der Pflichten“, wonach sich Journalistinnen und Journalisten bei der Beschaffung von Informationen keiner unlauteren Methoden bedienen sowie auf dem der „Erklärung“ zugrundeliegenden Fairnessprinzip. Die Interview-Regeln sind in der Richtlinie 4.5 zu Ziffer 4 der „Erklärung“ genauer ausgeführt. Danach dürfen Interviews bearbeitet und gekürzt werden. Sie müssen im Normalfall autorisiert werden. Die interviewte Person darf jedoch keine Korrekturen anbringen, die völlig vom geführten Gespräch abweichen: „In solchen Fällen haben Medienschaffende das Recht, auf eine Publikation zu verzichten oder den Vorgang transparent zu machen.“ Zum Verhalten bei verabredeten Interviews hat sich der Presserat eingehend in seiner Stellungnahme i.S. Cottier c. „Facts“ vom 20. Januar 1996 (Sammlung 1996, S. 15ff.) geäussert.

2. Aus den vom „Puls-Tip“ in seiner Stellungnahme mitgelieferten Beilagen und der schliesslich publizierten Fassung ist klar ersichtlich, dass Autor Grether das Interview a) der Ärztin vorgelegt hat, dass diese b) das Interview gegengelesen und autorisiert hat, dass Grether c) die verlangten Änderungen in Interview und Haupttext korrekt ausgeführt hat und dass sich d) die danach von Grether noch vorgenommenen sprachlich/redaktionellen Retuschen in einem ganz engen Rahmen bewegten und in keinem Punkt die Aussagen oder Intentionen der Interviewten betrafen. Falls Francesca Navratil gegenüber dem Beschwerdeführer nach Erscheinen des Artikels von ihren Aussagen und ihrer Haltung, wie sie im „Puls-Tip“ zum Ausdruck kommen, ganz oder teilweise abgerückt sein sollte, kann das für die Beurteilung des Verhaltens des Journalisten bei der Bearbeitung und Veröffentlichung des Interviews nicht massgeblich sein. Diesbezüglich ist einzig und allein darauf abzustellen, ob das Interview korrekt geführt, vorgelegt, korrigiert, autorisiert und publiziert worden ist. Im Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass der „Puls-Tip“ die Spielregeln für das journalistische Interview in diesem Fall respektiert hat und eine Verletzung der „Erklärung“ dementsprechend zu verneinen ist.

3. Dass der „Puls-Tip“ dieses Schwerpunktthema nicht nur mit den Bildern von Betroffenen und Interviewten illustrieren wollte, sondern auch mit einem thematischen Bild, ist für den Presserat nachvollziehbar. Zu prüfen ist nachfolgend, ob die „Puls-Tip“-Redaktion bei der Auswahl, Bearbeitung und Publikation des vom Beschwerdeführer beanstandeten Bildes den berufsethischen Anforderungen genügend Rechnung getragen hat.

Der Presserat hat sich in den letzten Jahren eingehend mit der Bild-Frage in den Medien auseinandergesetzt, auch mit Bildern zu sexueller Gewalt an Kindern (vgl. die Stellungnahmen vom 20. Februar 1998 i. S. SJU-Frauenrat c. „Facts“ sowie zum Umgang mit Schock- und People-Bildern, Sammlung 1998, S. 15ff. und 29ff.). Er hat darin hingewiesen, dass die Leserschaft, insbesondere bei Zeitschriften (also auch beim „Puls-Tip“), Bilder erwartet. Doch kann nicht nur das, was die Medienschaffenden wie sagen, ihnen nicht gleichgültig sein, sondern auch was sie zeigen. Deshalb gelten für Bilder grundsätzlich die gleichen berufsethischen Regeln wie für Texte. Menschenwürde und Persönlichkeitsschutz sind in jedem Fall zu achten. Bei heiklen, sensiblen Themen sollen Bilder mit grösster Zurückhaltung und erst nach sorgfältiger Interessenabwägung eingesetzt werden. Computergestützte Bilder, nachgestellte Aufnahmen usw. sind in jedem Fall ausdrücklich als solche zu bezeichnen und damit für die Leserschaft klar erkenntlich zu machen. Studioaufnahmen bergen die Gefahr der Verletzung der Menschenwürde in sich. Die bildlich-ästhetische Verniedlichung verbrecherischen Handelns kann einer Entstellung von Tatsachen gleichkommen (Sammlung 1998, S. 28).

4. Die fotografische Umsetzung des Motivs durch die „Puls-Tip“-Redaktion erweckt im Lichte der zitierten Praxis des Presserates in verschiedener Hinsicht Bedenken. Fraglich erscheint dabei insbesondere, ob es bei Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen notwendig war, die Abbildung der angedeuteten Untersuchung derart gross und bildscharf aufzumachen und zudem den Bildau
sschnitt weitgehend auf die Intimsphäre zu beschränken. Als nicht unproblematisch ist auch in diesem Fall die Verwendung einer Studioaufnahme anzusehen, die zusammen mit dem Titel „Darf das ein Schularzt?“ einen möglichen sexuellen Übergriff zumindest offenlässt. Auch wenn sich für die Bildaufnahme Agenturmodelle zur Verfügung stellten, ist zudem zu fragen, ob der Einsatz eines Kindes ungeachtet des Einverständnisses seiner Eltern für eine solche Aufnahme zu verantworten war. Trotz dieser erheblichen Bedenken gelangt der Presserat bei einer Gesamtbetrachtung zum Schluss, dass es sich beim vom „Puls-Tip“ verwendeten Bild zwar um einen Grenzfall handelt, eine Verletzung der Menschenwürde (Ziff. 8 der „Erklärung“), eine Entstellung von Tatsachen (Ziff. 3) oder unlautere Methoden (Ziff. 4) – vorbehältlich der Ausführungen in Ziff. 5 der Erwägungen – zu verneinen sind, weil das Bild durchaus als, wenn auch künstliche, Abbildung einer ordnungsgemässen Schularztuntersuchung gesehen werden kann.

5. Für die Betrachterinnen und Betrachter des „Puls-Tip“ fehlt allerdings eine wesentliche Information: Nämlich der deutliche Hinweis, dass die Szene gestellt worden ist. Der „Puls-Tip“ hätte seine Leserschaft in einer Bildunterschrift auf das Zustandekommen dieses Fotos aufmerksam machen müssen. Die Zeitschrift hat damit gegen Ziff. 3 der „Erklärung“ verstossen: „Sie (die Journalistinnen und Journalisten) unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen. (…) Sie bezeichnen unbestätigte Meldungen, Bild- und Tonmontagen ausdrücklich als solche.“

III. Feststellungen

1. Die Redaktion des „Puls-Tip“ hat die berufsethischen Regeln in Bezug auf das publizierte Interview nicht verletzt.

2. Vor der Publikation eines Bildes zu einem sensiblen, heiklen Thema sollte sich eine Redaktion bei der Interessenabwägung immer fragen, wie konkret, gross, bildscharf usw. ein Bild aufzumachen ist bzw. ob nicht eine zurückhaltendere Abbildung möglich wäre. Auf gestellte Aufnahmen zu solchen Themen sollte nach Möglichkeit verzichtet werden. Das von der Redaktion des „Puls-Tip“ verwendete Bild ist dementsprechend als Grenzfall anzusehen. Eine Verletzung der Ziff. 3, 4 oder 8 der „Erklärung“ ist jedoch zu verneinen.

3. Beim publizierten Foto fehlt der Hinweis, dass die Aufnahme gestellt ist. Ein solcher Hinweis ist bei gestellten Szenen unumgänglich, insbesondere zu heiklen Themen wie sexuellen Übergriffen. Die Redaktion des „Puls-Tip“ hat damit Ziffer 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt.