Nr. 5/2002
Identifizierende Bildberichterstattung / Respektierung der Menschenwürde

(X. c. «Schweizer Illustrierte») Stellungnahme des Presserates vom 15. Februar 2002

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I. Sachverhalt

A. In ihrer Ausgabe vom 1. Oktober 2001 berichtete die «Schweizer Illustrierte» (nachfolgend: SI) in Text und Bild auf «20 Seiten» über «das Blutbad von Zug», bei dem 14 Politikerinnen und Politiker von einem Amokschützen ermordet wurden.

B. Mit Eingaben vom 9. und 22. Oktober 2001 beschwerte sich Rechtsanwalt X. beim Presserat über die «reisserisch aufgemachte Reportage», in der die Ereignisse bzw. die aussergewöhnlich tragischen Folgen des «Amoklaufes von Zug voyeuristisch präsentiert» würden. In «taktloser Weise» sei «im Wesentlichen das Sensationsinteresse des Publikums bedient worden, wobei sogar Nahaufnahmen von Opfern bzw. ganze Serien davon gezeigt werden». Die SI sei dabei nicht einmal davor «zurückgeschreckt», ein Bild des sterbenden Y. zu veröffentlichen. Der notwendige Respekt gegenüber dem Leid der Opfer und der Angehörigen fehle im Berichts vollends. Stattdessen würden die Opfer erneut viktimisiert, indem die Illustrierte sie in Wort und Bild zu Objekten der Sensationsgier des Publikums mache. Dadurch werde nicht nur das Recht auf Privatsphäre im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», sondern auch die Menschenwürde im Sinne von Ziffer 8 Satz 2 der «Erklärung» verletzt.

C. In einer Stellungnahme vom 26. November 2001 beantragte die durch Rechtsanwalt Dr. Mathias Schwaibold vertretene Redaktion der SI, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit der Presserat darauf eintrete. Die SI-Ausgabe vom 1. Oktober 2001 habe ansonsten keinerlei negative Reaktionen ausgelöst. Die Berichterstattung sei – dem tragischen Anlass gemäss – durchaus prominent gewesen. Sie habe getreu dem journalistischen Konzept einer illustrierten Wochenzeitschrift das mit dem «Massaker verbundene Schreckliche natürlich nicht einfach nur in Worte und unbebilderte Texte fassen» können. Die von der SI abgedruckten Bilder seien bereits weltweit und auch in den elektronischen Medien verbreitet worden. Ebenso seien die Namen der Todesopfer und der (Schwer-) Verletzten bereits am Tag des Verbrechens über alle Medien verbreitet worden.

D. Mit Schreiben vom 30. November 2001 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel der Parteien als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt.

E. Am 4. Dezember 2001 ergänzte der Beschwerdeführer, er habe keineswegs bestritten, dass über Ereignisse der vorliegenden Art – auch mit Bildern – berichtet werden dürfe, wenn und soweit dies zurückhaltend und unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen geschehe. Es sei aber schlechthin keinerlei Informationsinteresse der Öffentlichkeit anzuerkennen, einen Betroffenen in dieser für ihn schrecklichen Situation erkennbar abzubilden. Entgegen den Behauptungen der Beschwerdegegnerin habe die beanstandete Berichterstattung zudem mehrere negative Reaktionen ausgelöst. So habe sich eine Leserbriefschreiberin in der SI vom 8. Oktober 2002 über deren Berichterstattung «schockiert» gezeigt und sich über die Verletzung der Privat- und Intimsphäre der Opfer durch die gezeigten Fotos beschwert. Weiter habe sich eine Zuger Kantonsrätin am 5. Oktober 2001 per e-mail bei Chefredaktor Walder gegen die fragliche Bildberichterstattung verwahrt.

F. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates (Fassung vom 1. Juli 2001) kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 15. Februar 2002 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde betrifft die Ziffern 7 (Respektierung der Privatsphäre) und 8 (Achtung der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Gemäss der Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» ist besondere Zurückhaltung bei Personen geboten, die sich in einer Notsituation befinden oder unter dem Schock eines Ereignisses stehen; dasselbe gilt für Trauernde. Nach der Richtlinie 8.1 hat sich die Informationstätigkeit an der Achtung der Menschenwürde zu orientieren, die ständig gegen das Recht der Öffentlichkeit auf Information abzuwägen ist. Ebenso ist gemäss der Richtlinie 8.3 bei Berichten über drastische Ereignisse oder Gewalt immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abzuwägen. Schliesslich statuiert die Richtlinie 8.5, dass Fotografien und Fernsehbilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen die Menschenwürde respektieren und darüber hinaus die Situation der Familie und der Angehörigen der Betroffenen respektieren müssen. Dies gilt insbesondere im Bereich der lokalen und regionalen Information.

2. Im angefochtenen Zeitschriftenbeitrag betonte der Bundesanwalt, Zug habe hier den grössten Amoklauf der Schweizer Kriminalgeschichte erlebt. Daraus folgt zwar keineswegs, dass deshalb die oben angeführten Grundsätze bei der Berichterstattung über dieses Ereignis ausser Kraft gesetzt würden. Angesichts des für die Schweiz und die Welt unfassbaren Ausmasses von Gewalt und Schrecken, das durch einen Einzeltäter verursacht wurde, bestand seitens des Publikums aber ein aussergewöhnliches öffentliches Interesse an einer umfassenden Berichterstattung. Zudem waren die Opfer des Amokschützen Personen des öffentlichen Lebens, und die Aggression des Täters richtete sich gezielt gegen Träger öffentlicher Funktionen.

Der Presserat hat in seiner Stellungnahme 36/2001 seine Praxis zur Berichterstattung über Personen des öffentlichen Lebens dahingehend zusammengefasst, auch diese hätten grundsätzlich einen Anspruch auf Respektierung ihrer Privat- und Intimsphäre. Im Gegensatz zu «gewöhnlichen Personen» müssen sie sich aber gewisse Eingriffe gefallen lassen. Jedenfalls dann, wenn ihr Privatbereich und ihre Funktion in der Öffentlichkeit direkt zusammenhängen; wenn es ohne diesen Eingriff nicht möglich ist, einen Sachverhalt von öffentlichem Interesse angemessen zu vermitteln; und wenn bei einer Interessenabwägung dieses öffentliche Interesse gegenüber dem Interesse auf Respektierung der Privatsphäre überwiegt.

Unter den konkreten Umständen war es berufsethisch grundsätzlich zulässig – dies wird vom Beschwerdeführer auch nicht in Frage gestellt -, dass die SI über den «Amoklauf» von Zug in einer breitangelegten Bildreportage berichtete. Zu prüfen ist hingegen, ob die Redaktion bei der Auswahl des Bilder verhältnismässig gehandelt hat, ob sie bei ihrer Interessenabwägung neben dem öffentlichen Interesse auch den Interessen der Opfer und ihrer Angehörigen gerecht wurde.

3. a) Mit Blick auf die Ziffern 7 und 8 der «Erklärung» rügt der Beschwerdeführer insbesondere, dass «sogar Nahaufnahmen von Opfern bzw. ganze Serien davon gezeigt werden, dies zudem unter Angabe der Namen». Dies betreffe insbesondere die Serie mit Bildern von Kantonsrätin Beatrice Gaier. Die SI sei zudem nicht einmal davor zurückgeschreckt, «ein Bild des sterbenden Y. (Mann auf Stuhl mit Tuch über dem Kopf)» zu veröffentlichen.

b) Die Beschwerdegegnerin macht dazu geltend, der Abdruck von vier Bildern der Kantonsrätin Beatrice Gaier beim Verlassen des Regierungsgebäudes greife nicht von vornherein in ihre Menschenwürde und Privatsphäre ein. «Niemand schliesst in negativer Weise auf Frau Gaier, wenn er diese Bilder sieht»; umgekehrt werde sie auch nicht in entwürdigender Weise dargestellt. Frau Gaier werde in einem öffentlichen Raum gezeigt; beim Verlassen des Regierungsgebäudes und im Freien in dessen direkter Umgebung. Die Medien dürften eine Parlamentarierin zeigen, die entsetzt das Parlamentsgebäude verlasse, nac
hdem dort soeben mehrere Menschen erschossen worden seien. Zudem liege keine «gezoomte» Aufnahme des Gesichts und dessen Abdruck auf einer ganzen Druckseite vor. Auf die bildliche Fixierung ihrer Fassungslosigkeit sei keine der Fotografien angelegt. Vielmehr werde Frau Gaier stets mit mindestens zwei anderen Personen und in Bewegung, immer mit ihrem ganzen Körper und aus erkennbarer Distanz gezeigt.

Auf den Vorwurf, die Reportage der SI rücke den sterbenden Y. ins Bild, entgegnet die Redaktion: Selbst wenn die Darstellung des Beschwerdeführers zutreffend sein sollte, erfahre die Leserschaft weder, wer auf dem Stuhl sitze, noch dass es sich um einen Sterbenden handle. Es fehlten weitere Anhaltspunkte, um das Opfer identifizieren zu können. Auch hier sei das Bild nicht auf das Opfer, sondern vielmehr auf die Situation zentriert.

c) Nach den oben unter Ziffer 2 angeführten Grundsätzen und früheren Stellungnahmen des Presserates zur bildlichen Darstellung schockierender Ereignisse (Stellungnahme 1/1998 i.S. SJU-Frauenrat c. «FACTS»; 2/1998 i.S. Umgang mit Schock- und People-Bilder; 12/1999 i.S. E c. «Blick»; 25/2000 i.S. P c. «Blick» ) prüfte der Presserat zunächst die vier Bilder von Kantonsrätin Beatrice Gaier. Er kam zum Schluss, dass deren Abdruck angesichts der aussergewöhnlichen Umstände und des damit einhergehenden gesteigerten öffentlichen Interesses berufsethisch vertretbar war. Die Bilder entstammen nicht dem Privatbereich der Kantonsrätin, sondern stehen im Zusammenhang mit ihrer öffentlichen Funktion. Sie wird auf den Bildern weder zu einem blossen Objekt degradiert, noch durch eine übergrosse Nahaufnahme in sensationeller Weise blossgestellt. Im Vordergrund der Darstellung steht nicht die Person der Kantonsrätin. Vielmehr sollten die Bilder offenbar stellvertretend den Schock und die Trauer derjenigen belegen, die den tödlichen Amoklauf im Zuger Parlament überlebt haben. Insgesamt entsprach die Redaktion SI dem legitimen Interesse des Publikums an einer – auch bildlich – eingehenden Berichterstattung, ohne dabei in unnötiger Weise in die Persönlichkeit der abgebildeten Kantonsrätin einzugreifen.

Am Rande sei angemerkt, dass die Jury des Schweizer Fotopreises offenbar zu ähnlichen Schlüssen gelangt ist, wenn sie dem in der SI gross gebrachten Gruppenbild mit Frau Gaier am 22. November 2001 den Preis in der Kategorie Aktualität verlieh. Der Doyen der Schweizer Fotomuseums-Kuratoren, Charles-Henri Favrod: « (…) une image respectueuse et forte, (…) gardant la distance, et en manifestant néanmoins la sympathie». Der Zuger Fotograf, Christof Borner: « (…) Es kam für mich nicht in Frage, den geschockten und verletzten Menschen ins Gesicht zu fotografieren, und ich bin deshalb auf Abstand gegangen. Obwohl mit einem Teleobjektiv fotografiert, ist diese Distanz, die andere Respekt nennen, vielleicht der Grund, weshalb diese Bilder um die Welt gingen (…)»

d) Zumindest auf den ersten Blick anders gelagert erscheint der Abdruck des Bildes, auf dem gemäss Darstellung des Beschwerdeführers der sterbende Parlamentarier Y. von einem Tuch überdeckt auf einem Stuhl sitzend zu sehen ist. Laut der oben bereits angeführten Richtlinie 8.3 ist die sensationelle Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen berufsethisch insbesondere dann verpönt, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigen.

Nach Auffassung des Presserates vermag selbst der aussergewöhnliche Amoklauf von Zug und das Interesse des Publikums an einer eingehenden Berichterstattung auf Anhieb nicht zu rechtfertigen, eines der sterbenden Opfer abzubilden. Den Hinterbliebenen ist die Veröffentlichung eines solchen Bildes selbst dann nicht zuzumuten, wenn darauf ein Parlamentarier am Rande seiner öffentlichen Funktion abgebildet ist. Der Presserat hat zudem in der Stellungnahme 12/99 i.S. E. c. «Blick» (bestätigt in 45/2001 i.S. P. c. «Zofinger Tagblatt») darauf hingewiesen, dass eine generelle Zurückhaltung in der Wortwahl auch dann angebracht ist, wenn die Betroffenen für eine breite Öffentlichkeit nicht identifizierbar sind. Was bereits für die Wortwahl unabdingbar erscheint, hat umso mehr auch für die Bildauswahl zu gelten.

Die Veröffentlichung des Bildes des sterbenden Y. war berufsethisch deshalb selbst dann grundsätzlich unzulässig, wenn er für Aussenstehende nicht identifizierbar war – sogar wenn die Leserschaft nicht einmal erkennen konnte, dass es sich um einen Sterbenden handelte.

Aufgrund der Darstellung der Parteien und der ihm vorliegenden Unterlagen geht der Presserat jedoch davon aus, dass sich die Redaktion der SI zum Zeitpunkt der Publikation weder bewusst war noch bei genügender Aufmerksamkeit hätte bewusst sein müssen, dass sie – wie sich nun nachträglich herausstellte – offenbar das Bild eines Sterbenden veröffentlicht hat. Wie die Beschwerdegegnerin zu Recht geltend macht, ist das Bild nicht auf das Opfer, sondern auf die Hilfeleistenden zentriert. Für den Bildbetrachter, der nicht über die Zusatzinformationen des Beschwerdeführers verfügt – also auch für die Redaktion zum Zeitpunkt der Bildauswahl – ist nicht erkennbar, dass es sich beim vermeintlich lediglich Verletzten um einen Sterbenden handelte. Davon zeugt auch der Wortlaut der entsprechenden Bildlegende: «Sie (Kantonsrätin und Krankenschwester Manuela Weichelt) (…) kümmert sich um einen Kollegen, der auf einem herbeigeschafften Stuhl notdürftig versorgt wird.» Unter diesen Voraussetzungen kann der Redaktion der SI kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie irrtümlicherweise einen Sterbenden abgebildet hat; der Sachverhalt liegt anders als in der Stellungnahme 12/99, wo es um eine fahrlässige Falschaussage über einen Unfalltoten ging. Einen abweichenden Schluss vermag auch die implizite Behauptung des Beschwerdeführers nicht nahezulegen, wonach die SI nicht vor dem Abdruck dieses Bildes «zurückgeschreckt» sei. Zurückschrecken kann nur, wer sich einer Tatsache ganz oder wenigstens in den Grundzügen bewusst ist. Der Beschwerdeführer legt jedoch keinerlei Beweismittel vor, die solches belegen oder zumindest andeuten würden.

III. Feststellungen

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.