Zusammenfassung
Die Schweizer Verlegerinnen, die Werke der britischen Schriftstellerin A. L. Kennedy herausgeben, haben beim Schweizer Presserat eine Beschwerde gegen die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) eingereicht. Auslöser war ein Porträt über die Schriftstellerin, in dem Kennedy unter anderem wegen ihren Äusserungen zu Brexit und Pandemie als «Verschwörungstheoretikerin» bezeichnet wurde. Die Beschwerdeführerinnen warfen der NZZ vor, Kennedy in einem schlechten Licht darzustellen und Aussagen aus dem Zusammenhang zu reissen. Sie als «Verschwörungstheoretikerin» zu bezeichnen, sei rufschädigend. Ausserdem sei Kennedy keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Der Artikel war Ende April 2023 erschienen. Damals galt noch die alte Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen). Gemäss der damaligen Praxis wertete der Presserat den Begriff «Verschwörungstheoretiker» nicht als schweren Vorwurf im Sinne von «illegal oder vergleichbar». Eine Anhörung wäre wünschenswert, aber nicht zwingend gewesen. Deshalb sah der Presserat keinen Verstoss gegen die Erklärung.
PS: Seit 1. Mai 2023 ist die revidierte Richtlinie 3.8 in Kraft, die strenger ist: Neu gilt, dass jemand angehört werden muss, wenn die Vorwürfe «gravierendes Fehlverhalten beschreiben oder sonstwie geeignet sind, jemandes Ruf schwerwiegend zu schädigen».
Résumé
Les éditeurs suisses publiant des ouvrages de l’autrice britannique A. L. Kennedy ont porté plainte auprès du Conseil suisse de la presse contre la «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ). Le journal avait publié un portrait d’elle dans lequel elle était présentée comme une « adepte de la théorie du complot » du fait de ses déclarations sur le Brexit et la pandémie. Les plaignants reprochent à la NZZ d’avoir présenté l’autrice sous un mauvais jour et d’avoir sorti ses déclarations de leur contexte. Ils ont décrié l’atteinte à sa réputation que représentait le fait de la qualifier d’«adepte de la théorie du complot». Ils ont en outre noté que le journal ne lui avait pas donné la possibilité de prendre position. L’article était paru fin avril 2023. À l’époque, c’est encore l’ancienne directive 3.8 (Audition lors de reproches graves) qui s’appliquait. Dans sa pratique de l’époque, le Conseil suisse de la presse ne considérait pas encore la qualification d’«adepte de la théorie du complot» de reproche grave au sens de la dénonciation d’un «comportement illégal ou du même ordre». Une audition aurait donc été souhaitable, mais n’était pas impérative. Le Conseil suisse de la presse n’a dès lors pas constaté de violation de la «Déclaration des devoirs et des droits du/de la journaliste».
PS : La directive 3.8 révisée, en vigueur depuis le 1er mai 2023, indique que la personne concernée doit avoir la possibilité de prendre position lorsque les reproches qui la visent «font état de comportements gravement répréhensibles ou sont susceptibles de nuire sévèrement à (s)a réputation».
Riassunto
Gli editori svizzeri che pubblicano le opere della scrittrice britannica A. L. Kennedy hanno presentato presso il Consiglio svizzero della stampa un reclamo contro il quotidiano «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ).
La causa del reclamo è una descrizione della scrittrice in cui viene dipinta come una «teorica della cospirazione», tra le altre cose a causa delle sue dichiarazioni sul Brexit e la Pandemia. I reclamanti hanno accusato l’NZZ di aver messo in cattiva luce la Kennedy e di aver citato le sue dichiarazioni fuori contesto. Il fatto di averla descritta come una «teorica della cospirazione» ha danneggiato la sua reputazione. Inoltre alla Kennedy non è stata data la possibilità di pronunciarsi. L’articolo è stato pubblicato a fine aprile 2023, quando era ancora in vigore la vecchia Direttiva 3.8 (Diritto di essere ascoltati in caso di gravi addebiti). Secondo la prassi di allora, il Consiglio della stampa non considerava l’espressione «teorico della cospirazione» al pari di un’accusa grave nel senso di «illegale o equiparabile». L’ascolto sarebbe stato auspicabile, ma non era obbligatorio, motivo per cui il Consiglio della stampa non l’ha considerata una violazione della Dichiarazione
PS: A partire dal primo maggio 2023 è in vigore la Direttiva 3.8 riveduta, che è più severa: la nuova regola prevede che una persona debba essere ascoltata se le accuse descrivono «comportamenti profondamente scorretti o possono altrimenti danneggiare in modo serio la reputazione di qualcuno».
I. Sachverhalt
A. Am 28. April 2023 veröffentlicht die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) unter dem Titel «Eine sanfte Schottin mit rabiaten Ansichten» ein Porträt über die Schriftstellerin A. L. Kennedy. Der Untertitel lautet «England stehe ein Genozid bevor und die Tories lebten von russischem Geld, sagt die Schriftstellerin A. L. Kennedy». Auf der Frontseite der Zeitung wird der Artikel mit Foto, Hauptartikel und folgendem Titel angerissen: «Verschwörungstheorien einer Schriftstellerin – Die Britin A. L. Kennedy sieht ihr Land vor einem Genozid». Hier würdigt Roman Bucheli Kennedy zunächst als eine der bekanntesten und renommiertesten Schriftstellerinnen des Vereinigten Königreichs, die auch als Stand-Up-Comedian auftrete und für Zeitungen scharfsinnige und pointierte Zeitdiagnosen schreibe. Ihre Ansichten hätten sich nach Brexit, Corona und Boris Johnson jedoch geändert, schreibt Bucheli, und er gibt im Folgenden Kennedys Ansichten aufgrund eines persönlichen Gesprächs wieder.
Gemäss Bucheli habe sich Kennedy zur «veritablen Verschwörungstheoretikerin» entwickelt, die hinter wichtigen Ereignissen dunkle Mächte am Werk sehe. So sei die Brexit-Abstimmung ein Test dafür gewesen, wie wirkungsvoll eine Desinformationskampagne sein könne. Gemäss Kennedy steckten Boris Johnson, Donald Trump und Rupert Murdoch dahinter.
«Wir haben seit etwa einer Dekade ein System, das darauf angelegt ist, behinderte Menschen zu eliminieren», zitiert Bucheli die Schriftstellerin. Sie sei «auch überzeugt, dass in Grossbritannien mit Billigung der Regierung ein Euthanasieprogramm laufe». Die Pandemie sei – so Kennedy – gerade recht gekommen, «um die Schwachen zu eliminieren, die ohnehin nutzlose Esser sind», zitiert Bucheli aus dem Gespräch.
Bucheli schreibt weiter, kein Einwand habe die Schriftstellerin in ihrem Denken erschüttert. Sie habe stets auf «sinistre Kräfte», die im Verborgenen sind, hingewiesen, beispielsweise auf die Russen, die Grossbritannien unterwandert hätten, oder auf «digitale Nerds», die einen Umsturz vorbereiteten. Kennedy sei eine radikalisierte Autorin, schliesst Bucheli auf der Frontseite.
Der Artikel selbst findet sich im Feuilleton der NZZ und stellt eine ausführlichere, ähnlich aufgebaute Version dar. Unter anderem erwähnt der Redaktor auch hier, dass die Schriftstellerin unter Long-Covid gelitten habe. Sie trage eine Gesichtsmaske, um sich «vor den herumfliegenden Viechern» zu schützen. Die Aerosole beunruhigten sie mehr als ein Händedruck zur Begrüssung. Weiter beschreibt er ihr Äusseres und erwähnt sichtlich gebrauchte, gepflegte Bergschuhe, und sie trage «schräg und kühn eine Baskenmütze». Des Weiteren: «Nicht immer ist klar, ob A. L. Kennedy ihre abstrusen Thesen ernst meint oder ob sie ihre eigene Paranoia parodiert.»
Auch hier erscheinen die Kategorisierungen ihrer Theorien als «sinistre Verschwörungstheorien» bzw. «wüste Weltverschwörung», weiter erwähnt werden die ausführlicheren Versionen der erwähnten Theorien (Brexit und Euthanasieprogramm).
B. Mit Schreiben vom 27. Juli 2023 erhoben X. und Y. Beschwerde beim Schweizer Presserat und machten Verstösse gegen mehrere zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») gehörende Richtlinien geltend.
In beiden Artikeln (Front und Feuilleton) werde «in starker und mehrfacher Weise» gegen die journalistische Sorgfaltspflicht verstossen. Die Artikel seien tendenziös und gravierend rufschädigend – sowohl für die Schriftstellerin als auch für den Verlag der Beschwerdeführerinnen, der einen Essay von A. L. Kennedy herausgegeben habe, welcher den Anlass für die Berichterstattung gebildet habe.
Der Artikel verstosse gegen Ziffer 3 der «Erklärung», da das lange Interview tendenziös auf wenige aus dem Zusammenhang gerissene Zitat-Sätze reduziert worden sei. Im Konkreten beanstanden die Beschwerdeführerinnen, dass der Titel «Verschwörungstheorien einer Schriftstellerin» die Ziffern 3 (Entstellung von Tatsachen) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung» sowie die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletze. Als «Verschwörungstheoretikerin» bezeichnet zu werden sei massiv rufschädigend, und die Schriftstellerin habe nicht direkt Stellung nehmen können.
Mehrere Passagen verstiessen zudem gegen die Ziffern 3 (Entstellung von Tatsachen) und 5 (Berichtigungspflicht), 7 (Privatsphäre) der «Erklärung» sowie gegen die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.1 (Quellenbearbeitung), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) 4.5 (Interview) und 4.6 (Recherchegespräch). Angeführt werden die folgenden Passagen: «dass sie sich zur veritablen Verschwörungstheoretikerin entwickelt», «sinistre Verschwörungstheorien (…) ausbreitet», «in Kennedys konspirativ verworrener, intellektuell aber reduzierter Weltsicht», «eine wüste Weltverschwörung, die sich A. L. Kennedy ausgedacht hat», «Die Furien des Untergangs haben sich ihrer bemächtigt, und dunkle Ahnungen von sinistren Mächten treiben sie an».
Auch habe der Redaktor, nachdem ein bereits von der Schriftstellerin autorisiertes Interview vorgelegen habe, entschieden, statt das Interview zu veröffentlichen ein Porträt zu verfassen. Die Beschwerdeführerinnen sehen darin einen Verstoss gegen Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung».
Sie machen zudem geltend, der Autorin sei nicht die Gelegenheit gegeben worden, ihre Sicht auf die Pandemie und die damit verbundenen Auswirkungen für die Politik in England, auf sie selbst und ihr Schreiben darzulegen. In diesem Zusammenhang monieren sie, dass ein Essay, welchen die NZZ bei A.L. Kennedy in Auftrag gegeben hatte, schliesslich von der Zeitung nicht publiziert worden sei.
C. Mit Schreiben vom 7. November 2024 nahm der Rechtsdienst der «Neuen Zürcher Zeitung» Stellung und beantragte, die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen, insoweit darauf eingetreten werde.
Die NZZ weist darauf hin, dass die Entscheidung, anstelle des Interviews ein Porträt zu publizieren, in Absprache mit der Schriftstellerin getroffen worden sei.
Zum Vorwurf betreffend Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationselemente / Entstellen von Tatsachen) der «Erklärung»: Es sei nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerinnen als Verlegerinnen lieber ein wohlwollendes Interview gesehen hätten als ein kritisches Porträt. Eine gemeinsam mit der Schriftstellerin vereinbarte Abweichung vom ursprünglich geplanten Interview zu einem Porträt stelle keine Unterschlagung von Informationen oder Entstellung von Tatsachen dar. Des Weiteren erreiche die Nichterwähnung des Umstandes, dass die Schriftstellerin während des Interviews keine Maske getragen habe, den Grad einer Unterschlagung nicht. Zudem sei auf dem Foto ersichtlich, dass die Schriftstellerin nicht zu jedem Zeitpunkt eine Maske getragen habe.
Zur Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung»): Der NZZ sei kein Fehler in Bezug auf den Artikel bekannt, und seitens der Beschwerdeführerinnen oder der Schriftstellerin seien auch keine diesbezüglichen Begehren eingegangen. Deshalb bestehe auch kein Verstoss gegen die Berichtigungspflicht. Auch die Nichtpublikation des Essays stelle diesbezüglich keinen Verstoss dar, da dieser Entscheid der Redaktion obliege. Überdies sei die Schriftstellerin für den nichtpublizierten Essay entschädigt worden.
Zur Ziffer 7 (Privatsphäre / Ungerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung» räumt die NZZ ein, dass es nicht angebracht sei, «unbescholtene Bürger als Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen». Aufgrund der Aussagen der Schriftstellerin sei das jedoch die Einordnung des Redaktors. Die Aussagen seien derart kritisch gewesen, dass diese Einordnung zulässig sei, zumal die Schriftstellerin eine Person öffentlichen Interesses sei. Auch dass die Schriftstellerin unzurechnungsfähig und verdummt dargestellt worden sei, treffe nicht zu.
Betreffend Ziffer 8 (Menschenwürde) der «Erklärung» weist die NZZ die Vorwürfe zurück. Der Autor beschreibe das Aussehen von A. L. Kennedy und versuche dieses zu interpretieren und einzuordnen. Dies jedoch sachlich – wenn auch «vielleicht etwas sarkastisch» – aber nicht verletzend. Ausserdem habe sich die Schriftstellerin so fotografieren lassen, womit eine Verletzung der Menschenwürde nicht ersichtlich sei.
Zur Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) räumt die Redaktion ein, dass die Schriftstellerin während des Gesprächs wohl nicht mit dem Begriff «Verschwörungstheoretikerin» konfrontiert worden sei. Allerdings sei sie mit der Aussage des Redaktors, ihre Aussagen seien Unfug, sinngemäss angehört worden. Ausserdem sei fraglich, ob der Begriff «Verschwörungstheoretikerin» überhaupt ein Vorwurf sei oder eher eine Einordnung, Meinung und Interpretation des Autors.
D. Der Presserat teilte die Beschwerde der 1. Kammer zu, bestehend aus Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg. Susan Boos trat von sich aus in den Ausstand.
F. Die 1. Kammer hat die Beschwerde in ihrer Sitzung vom 26. Januar und 25. September 2024 sowie auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Rechtsdienst der «Neuen Zürcher Zeitung» macht geltend, die angeblichen Verstösse seien gar nicht oder zu wenig substantiiert, weshalb auf die Beschwerde nicht einzutreten sei. Der Presserat teilt diese Ansicht nicht. Aus der Begründung der Beschwerdeführerinnen geht klar hervor, welche Ziffern der «Erklärung» und der Richtlinien mit welchen Passagen gemeint sind. Damit erfüllt die Beschwerdeschrift die Anforderungen, die an eine Begründungspflicht zu stellen sind. Diese sind nicht allzu hoch anzusetzen, handelt es sich bei der Beschwerde an den Presserat doch um eine sogenannte «Jedermannsbeschwerde», die allen offen steht und deren niederschwelliger Zugang gewahrt werden soll. Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht worden. Auf sie ist somit einzutreten.
2. Ziffer 1 (Wahrheitssuche) der «Erklärung» erwähnen die Beschwerdeführerinnen, ohne jedoch deren mögliche Verletzung konkret zu begründen. Zudem haben weder die Beschwerdeführerinnen noch die «Neue Zürcher Zeitung» das autorisierte Interview vorgelegt. Deshalb kann sich der Presserat zum Wahrheitsgehalt des stattdessen publizierten Porträts nicht äussern.
3. In Bezug auf Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) beanstanden die Beschwerdeführerinnen unter anderem den Titel «Verschwörungstheorien einer Schriftstellerin» sowie mehrere Passagen (siehe Sachverhalt I. B.) wie: «veritable Verschwörungstheoretikerin», «sinistre Verschwörungstheorien, «in Kennedys konspirativ verworrener, intellektuell aber reduzierter Weltsicht». Diesen ist gemein, dass die gewählten Adjektive nicht nur neutral und beschreibend, sondern oft auch wertend sind. Der Artikel ist im Feuilleton der NZZ erschienen, fasst die Biografie und Bibliografie der Schriftstellerin zusammen und fährt dann in der Ich-Perspektive des Redaktors fort, der seine Wahrnehmungen, Interpretationen und Einordnungen vornimmt und wiedergibt. Dies mit pointierten und provozierenden Formulierungen und – von der NZZ eingeräumt – streckenweise auch sarkastisch. Dem Publikum ist jedoch aufgrund der vom Autor gewählten Formulierungen klar, dass es sich um Einordnungen und Meinungen des Redaktors handelt, die es teilen kann oder auch nicht. So schreibt der Redaktor im Frontanriss als Einführung zum Gespräch: «Als A. L. Kennedy auf ihrer Lesereise jüngst in Zürich zu Besuch war, trafen wir sie zum Gespräch. Dabei zeigte sich, […]». Noch subjektiver formuliert er im Artikel im Feuilleton: «Das alles war mir bekannt, als wir uns vorige Woche bei ihrem Besuch in Zürich zum Gespräch trafen. Ich wusste, dass […]». Eine Verletzung von Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) liegt somit nicht vor.
4. Bezüglich Ziffer 3 (Unterschlagung von Informationen und Entstellung von Tatsachen) der «Erklärung» bemängeln die Beschwerdeführerinnen unter anderem, dass das autorisierte Interview zu einem Porträt umgeändert worden sei. Gemäss NZZ ist diese Änderung der Form in Absprache mit der Schriftstellerin geschehen. Die Beschwerdeführerinnen bestreiten dies nicht. Da dem Presserat das autorisierte und nicht veröffentlichte Interview wie erwähnt nicht vorliegt, kann er den Vorwurf der Entstellung des Inhalts oder der Entstellung von Tatsachen in Bezug auf das autorisierte Interview nicht beurteilen.
Die Beschwerdeführerinnen beanstanden zudem, es sei im Artikel nicht erwähnt worden, dass die Schriftstellerin zwar mit Maske zum Interview gekommen sei, die Maske jedoch während des Interviews entfernt habe. Die NZZ bestreitet diesen Umstand nicht. Der Presserat erachtet diese Nichterwähnung wohl als eine journalistische Ungenauigkeit. Diese erreicht jedoch nicht den Grad eines Verstosses gegen die «Erklärung». Die Schriftstellerin ist ohne Maske auf Frontseite und im Feuilleton abgebildet. Ob dem Publikum klar war, dass sie die Maske nicht zu jedem Zeitpunkt getragen hat, muss dabei offen bleiben. Im Ergebnis liegt diesbezüglich kein Verstoss gegen Ziffer 3 der «Erklärung» vor.
5. In Bezug auf Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) machen die Beschwerdeführerinnen unter anderem geltend, ein separater Essay, der von der NZZ in Auftrag gegeben worden war, sei von der Zeitung nicht publiziert worden. Dieser hätte eine Berichtigung der im Artikel vom 28. April 2023 veröffentlichten Inhalte ermöglicht.
Aufgrund der redaktionellen Freiheit steht es grundsätzlich jeder Redaktion frei, einen verfassten Text nicht zu publizieren. Eine allfällige Berichtigung bezieht sich zudem immer auf den Text selbst, nicht auf nachfolgende Veröffentlichungen. Richtlinie 5.1 ist deshalb in Bezug auf den nicht veröffentlichten Text nicht anwendbar. In Bezug auf das Porträt selbst legen die Beschwerdeführerinnen nicht dar, welche Passagen berichtigt hätten werden müssen. Eine Verletzung von Richtlinie 5.1 ist somit nicht erstellt.
6. Eine Verletzung von Ziffer 7 (ungerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung» sehen die Beschwerdeführerinnen u. a. darin, dass die Schriftstellerin durch die starken Wiederholungen, welche sie sozusagen als nicht mehr zurechnungsfähig, abstrus redend und fuchtelnd beschreiben, als geradezu verdummt dargestellt werde. Diese Beschreibungen und Wertungen und nicht zuletzt der Titel «Verschwörungstheorien einer Schriftstellerin» verletzten Ziffer 7 der «Erklärung».
Der Duden definiert eine Verschwörungstheorie als «Vorstellung, Annahme, dass eine Verschwörung, eine verschwörerische Unternehmung Ausgangspunkt von etwas sei», und Verschwörung als eine «gemeinsame Planung eines Unternehmens gegen jemanden oder etwas (besonders gegen die staatliche Ordnung)». Der Redaktor erwähnt insbesondere zwei Erzählungen der Autorin (Brexit und Euthanasieprogramm) als Begründung für seine Einordnung. Nach seinem Hinweis, dies sei Unfug, habe die Schriftstellerin sehr gelassen und bestimmt geantwortet: «Nein.» Für die Leserschaft ist somit klar, aufgrund welcher Aussagen der Redaktor zu seiner Einordnung kommt. Es handelt sich somit um eine Meinung, der das Publikum folgen kann oder nicht. Gemäss wiederholter Spruchpraxis des Presserates (vgl. Stellungnahme 27/2018, 1/2017) ist es nicht dessen Aufgabe, zu beurteilen, ob jemand ein Verschwörungstheoretiker ist oder nicht. Aufgabe des Presserats ist es, zu beurteilen, ob die Redaktion die medienethischen Regeln eingehalten hat. Da er überdies den Inhalt des Interviews nicht kennt, muss offenbleiben, ob die beiden kritisierten Beiträge ungerechtfertigte Anschuldigungen enthalten. Eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» ist jedenfalls nicht erstellt.
7. Zu Ziffer 8 (Menschenwürde) der «Erklärung»: Die Beschwerdeführerinnen sehen die Menschenwürde der Schriftstellerin dadurch verletzt, dass der Autor die Bekleidung der Schriftstellerin als lächerlich interpretiere und als Beweis ansehe, dass diese zur Verschwörungstheoretikerin mutiert sei. Aufgrund ihrer Kleidung und ihres Verhaltens werde sie als verdummt und unzurechnungsfähig dargestellt. Der Presserat kommt nicht umhin, einen sarkastischen Ton in den Einordnungen und Meinungsäusserungen des Redaktors festzustellen (von der NZZ wird dies auch eingeräumt). Diese Einordnungen erreichen jedoch als erkennbare Meinungsäusserungen nicht den Grad einer Verletzung von Ziffer 8 (Menschenwürde). Eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» liegt somit nicht vor.
8. In Bezug auf Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) ist zu beurteilen, ob die Schriftstellerin hätte angehört werden sollen, bevor sie öffentlich als Verschwörungstheoretikerin bezeichnet wird, wie es die Beschwerdeführerinnen geltend machen. Die NZZ sieht die Anhörung sinngemäss dadurch vollzogen, dass der Redaktor – auch transparent im Text wiedergegeben – die Schriftstellerin mit seiner Einschätzung konfrontiert habe, dies sei Unfug, worauf Kennedy dies mit «nein» zurückgewiesen habe.
Als der Artikel publiziert wurde, galt noch die alte Richtlinie 3.8 (die revidierte Version trat kurz danach in Kraft, siehe unten). Gemäss der alten Richtlinie 3.8 musste eine Person angehört werden, wenn ihr «schwere Vorwürfe» gemacht wurden; nach damaliger Praxis verstand der Presserat darunter «ein illegales oder vergleichbares Verhalten». Gemäss dieser Praxis wertete der Presserat den Begriff «Verschwörungstheoretiker» nicht als schweren Vorwurf im Sinne von «illegal oder vergleichbar». Entsprechend war eine Anhörung nicht zwingend (vgl. Stellungnahme 27/2018). Trotzdem wäre es angebracht gewesen, die Autorin dazu anzuhören und ihre Stellungnahme kurz wiederzugeben. Zumal die NZZ in ihrer Beschwerdeantwort selber schreibt: «Selbstverständlich ist es nicht angebracht, unbescholtene Bürger als Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen.» Dieses Versäumnis erreicht jedoch nach damals noch geltender Praxis nicht den Grad eines Verstosses gegen Richtlinie 3.8 (Anhörung).
9. Gemäss der neuen Regelung von Richtlinie 3.8, die seit 1. Mai 2023 in Kraft ist, wäre dieser Fall gegebenenfalls anders zu beurteilen: Di aktuell gültige Regelung von Richtlinie 3.8 verschärft die Pflicht zum Anhören etwas: Neu gilt, dass jemand angehört werden muss, wenn die Vorwürfe «gravierendes Fehlverhalten beschreiben oder sonstwie geeignet sind, jemandes Ruf schwerwiegend zu schädigen».
Die NZZ vertritt im Weiteren die Ansicht, die Anhörung habe ja stattgefunden. Die Schriftstellerin sei im Gespräch direkt damit konfrontiert worden, das sei doch «alles Unfug». Was sie verneinte. Zu klären wäre, ob diese Konfrontation gleichwertig wäre mit einer Anhörung, wie die NZZ argumentiert.
Dies ist nicht der Fall, da die Schriftstellerin zum Zeitpunkt des Gesprächs von einem Interview ausging, welches autorisiert werden sollte. Allein gestützt auf die Entgegnung des Redaktors, es handle sich um «Unfug», musste sie nicht davon ausgehen, dass er sie als Verschwörungstheoretikerin bezeichnen wird. Sie durfte vielmehr darauf vertrauen, dass beim Interview das gesprochene Wort gilt. Richtlinie 3.8 verlangt jedoch, dass den «von schweren Vorwürfen Betroffenen die zur Publikation vorgesehenen Kritikpunkte […] präzis zu benennen […] sind». Das war hier nicht der Fall.
Diese Einschätzung ändert aber nichts an der Beurteilung, wonach nach der damals noch geltenden Version der Richtlinie 3.8 der Schriftstellerin mit der Bezeichnung als «Verschwörungstheoretikerin» kein «illegales oder vergleichbares Verhalten» vorgeworfen wurde und entsprechend auch kein Verstoss gegen Richtlinie 3.8 vorliegt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit den Artikeln «Verschwörungstheorien einer Schriftstellerin» und «Eine sanfte Schottin mit rabiaten Ansichten» vom 28. April 2023 nicht gegen die Richtlinie 3.8 (Anhörung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.