Nr. 43/2019
Wahrheit / Freiheit der Information / Unterschlagen von Informationen

(X. c. «Blick am Abend»)

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I. Sachverhalt

A. «Blick am Abend» veröffentlichte am 15. März 2018 einen Artikel mit dem Titel «Revolte in der Pöschwies», gezeichnet von Dominique Rais. Im Lead hiess es: «Der Rupperswil-Killer Thomas N. wird wohl nicht verwahrt. In der JVA Pöschwies kam es deswegen zu Tumulten.»

Im Textteil wird behauptet, es sei am Rande des «Rupperswil-Prozesses» zu Tumulten gekommen, Insassen hätten Stühle gegen den Fernseher geworfen, fünf Rädelsführer seien deswegen «in den Bunker» gesteckt worden. Der Grund sei, dass der Vierfachmörder von Rupperswil aufgrund von milden psychiatrischen Gutachten um eine Verwahrung herumkommen könnte. Als Quelle wird die «Aargauer Zeitung» (AZ) genannt, die sich auf einen Badener Anwalt beruft, der sich wiederum auf einen inhaftierten Mandanten berufe. Für den Anwalt stehe fest: «Zurück in der Pöschwies erwartet den Rupperswil-Killer die Hölle auf Erden.» Kinderschänder wie er seien in der Rangordnung unter den Gefangenen ganz unten. Weiter wird der Anwalt zitiert: «Die grösste Gefahr droht Thomas N. im Duschraum», dort fänden die meisten Delikte unter Gefangenen statt. Jetzt liege es an der Strafanstalt, «den Rupperswil-Killer zu schützen». Es folgt der Hinweis, dass die Strafanstalt sich zum Vorfall nicht äussere, sondern an das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich verweise. Dieses habe – zweitletzter Satz des Artikels – den Vorfall erst weder bestätigt noch dementiert. Letzter Satz des Artikels: «Indes hat de Silva (Sprecherin des Amts für Justizvollzug) dementiert, dass es je zu einem derartigen Vorfall gekommen sei.»

Auf der Titelseite wird diese Geschichte gross angekündigt mit der Überschrift: «Der Knast wird die Hölle auf Erden», Obertitel: «Tumulte in der Pöschwies wegen Killer Thomas N.», darunter ein grosses Bild von einer Garage mit Lieferwagen, in welchem laut Bildlegende Thomas N. abgeholt wird, dazu ein kleines Bild von Thomas N. mit der Bildlegende «In der Hierarchie ganz unten: Kinderschänder und -Killer Thomas N.». Schliesslich der Text: «Als seine milden Gutachten bekannt wurden, drehten die Mitgefangenen durch (…) Ein Insider prophezeit ihm eine schlimme Rückkehr.»

B. X. reichte am 22. März 2018 Beschwerde gegen den Artikel und den Titel ein und machte eine Verletzung der Ziffern 1, 2, 3, 7 und 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend.

Der Artikel verstosse neben den genannten Ziffern der «Erklärung» insbesondere gegen die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.1 (Quellenbearbeitung), 7.1 (Schutz der Privatsphäre), 7.2 (Identifizierung), 7.4 (Unschuldsvermutung), 7.5 (Recht auf Vergessen) und 8.1 (Achtung der Menschenwürde). Im Weiteren stellt der Beschwerdeführer einige Anträge (Anordnen von Entschuldigungen, allenfalls Geldstrafe), welche nicht in der Kompetenz des Presserates liegen

Eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» und von Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) begründet der Beschwerdeführer damit, dass der gesamte Inhalt des Artikels nicht wahr sei. Es habe keine Revolte in der Pöschwies gegeben und die Redaktion habe das gewusst. Der letzte Satz des Artikels beweise dies.

Richtlinie 2.3 (Trennung zwischen Fakten und Kommentar) sei verletzt, weil ein Zusammenhang hergestellt werde zwischen den Tumulten (die es nie gab) und den milden Gutachten und damit indirekt zwischen den Tumulten und dem Angeklagten N. Dieser Zusammenhang sei schon auf der Titelseite als Fakt dargestellt worden, nicht nur als Vermutung.

Ein Verstoss gegen Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung, Überprüfung der Quelle) sei darin begründet, dass «Blick am Abend» seine Quelle offensichtlich nicht überprüft habe.

Hinsichtlich Richtlinie 7.1 (Schutz der Privatsphäre) und 7.2 (Identifizierung) wird zweierlei vorgebracht: Zum einen habe die Abwägung zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und dem Schutz der Privatsphäre nicht stattgefunden, denn es werde eine Feindseligkeit zwischen dem Angeklagten N. und den anderen Insassen behauptet, die es in Tat und Wahrheit nicht gebe. Das sei Rufschädigung. Und zum Zweiten würden auch die Mitinsassen als scheinbar gewalttätige Irre dargestellt («sie drehten durch») und das Gefängnispersonal werde indirekt so dargestellt, als habe es die Gefangenen nicht unter Kontrolle.

Richtlinie 7.4 sei verletzt, weil «Blick am Abend» weder mit diesem Artikel noch mit vielen zuvor in der gleichen Angelegenheit der Unschuldsvermutung Rechnung getragen habe. Das Urteil sei noch nicht rechtskräftig gewesen, die Unschuldsvermutung habe zu jenem Zeitpunkt weiter bestanden. Die Berichterstattung sei klar tendenziös, nicht ausgewogen und missachte die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten.

Richtlinie 7.5 (Recht auf Vergessen) sei verletzt, so die Beschwerde weiter, weil «Blick am Abend» den Artikel nicht überarbeitet, sondern kommentarlos gelöscht habe. Auch sei die Geschichte nie richtiggestellt worden.
Und die Menschenwürde (Richtlinie 8.1) sei verletzt, weil der Angeklagte N. wiederholt als Rupperswil-Killer bezeichnet werde. Diese Bezeichnung lasse auf niederträchtige Motive schliessen und widerspreche dem Gebot der Achtung der Menschenwürde.

C. Am 13. April 2018 beantwortete der anwaltlich vertretene «Blick am Abend» die Beschwerdeschrift. Er beantragt Nichteintreten, allenfalls vollumfängliche Ablehnung der Beschwerde.

Als wichtigsten Punkt stellt die Redaktion dabei in den Vordergrund, dass «Blick am Abend» am Folgetag eine Berichtigung gedruckt und sich entschuldigt habe, dies im Gegensatz zur Behauptung des Beschwerdeführers. «Mehr war und ist nicht zu machen.» Zudem sei der Artikel online noch am gleichen Tag gelöscht worden.

Im Übrigen habe «Blick am Abend» «nicht verfälscht und nichts verschleiert, niemanden irregeführt und nichts falsch nacherzählt» (Richtlinie 1.1). Der Badener Rechtsanwalt habe sich auf Nachfrage dem «Blick am Abend» gegenüber so geäussert, wie er zitiert worden sei. Ausserdem könne man aus dem Schlusssatz des Artikels («Indes hat de Silva [Sprecherin des Amts für Justizvollzug] dementiert, dass es je zu einem derartigen Vorfall gekommen sei») nicht ableiten, dass der «Blick am Abend» gewusst habe, dass die ihm vom Badener Anwalt bestätigte Information sachlich falsch sei. Dieses Dementi stehe einfach im Gegensatz zur zweiten Äusserung der gleichen Zürcher Strafvollzugsbehörde, die ebenfalls dem Leser mitgeteilt worden sei. So habe der Leser zwei Versionen gehabt und sich selber überlegen können, welche der beiden unvereinbaren Informationen – der des Anwalts und der AZ bzw. der Behörden – er jetzt eher glauben wolle. Das sei alles journalistisch vollkommen korrekt. An anderer Stelle fügt der Beschwerdegegner zum Schlusssatz des Artikels noch an: Wenn der Beschwerdeführer autoritätsgläubig meine, ein Dementi von offizieller Seite müsse für bare Münze genommen werden, irre er sich zumindest medienethisch gewaltig.

Zur Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) macht «Blick am Abend» geltend, diese Bestimmung sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.

Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) sei ebenfalls nicht verletzt, die Anforderungen an die Quellenbearbeitung seien optimal umgesetzt worden. Man habe sich auf die Berichterstattung der «Aargauer Zeitung» als seriöse Quelle stützen dürfen ohne die nachrecherchieren zu müssen, man habe aber dennoch genau das getan und deren Informanten, den Badener Rechtsanwalt, eine glaubwürdige Quelle, befragt. Dieser habe die Informationen der AZ bestätigt.

Was die Richtlinien 7.1 und 7.2 betreffe, so habe der vorliegende Sachverhalt nichts mit Privatsphäre oder Identifizierung zu tun. Die Unschuldsvermutung in der Gerichtsberichterstattung (7.4) sei ebenfalls überhaupt nicht betroffen, es gehe in diesem Artikel ja gar nicht um den Angeklagten N. Ähnliches gelte für Richtlinie 7.5 (Löschung von Online-Artikeln): Der Artikel sei noch am Erscheinungstag gelöscht worden.

Schliesslich liege auch kein Verstoss gegen Richtlinie 8.1 vor: Die Bezeichnung «Rupperswil-Killer» verstosse weder gegen die Menschenwürde noch gegen sonst eine Bestimmung der «Erklärung» oder der Richtlinien. Es werde auch den übrigen Insassen der Pöschwies nichts unterstellt.

D. Am 5. April 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 2. September 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Zur Wahrheitspflicht (Richtlinie 1.1): Es erscheint aufgrund der Aktenlage, insbesondere aufgrund des Wortlautes des fraglichen Artikels klar, dass die Redaktion des «Blick am Abend» noch vor Redaktionsschluss davon erfahren hat, dass das Zürcher Amt für Justizvollzug den «Tumult in der Pöschwies» klipp und klar dementiert hat («… dementiert, dass es je zu einem derartigen Vorfall gekommen sei»). Damit war mindestens sehr fraglich, ob die Geschichte stimmt. Wenn fraglich ist, ob ein journalistischer Inhalt der Wahrheit entspricht, muss er nachrecherchiert werden, bevor publiziert wird. Wäre dies geschehen, hätte der Artikel nicht publiziert werden können. Er enthielt die Unwahrheit. Ziffer 1 der «Erklärung» wurde mit der Veröffentlichung dieser Geschichte verletzt. Hingegen hat «Blick am Abend» richtig reagiert, indem man die Geschichte noch am gleichen Tag im Internet gelöscht und am Folgetag in der Zeitung widerrufen und sich entschuldigt hat.

2. Zur Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie» 2.3): Der Beschwerdegegnerin ist zuzustimmen: Diese Bestimmung ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Das Problem bestand in den falschen Fakten, nicht im Umstand, dass da zu wenig zwischen Fakten und Kommentar unterschieden worden wäre. Es liegt kein Verstoss gegen Richtlinie 2.3 vor.

3. Was die behauptete mangelnde Überprüfung der Quellen betrifft (Richtlinie 3.1), so ist auch hier der Beschwerdegegnerin zuzustimmen. Eine professionelle Quelle wie die «Aargauer Zeitung» muss nicht zwangsläufig nachrecherchiert werden. «Blick am Abend» hat das aber dennoch getan und mit der Quelle der AZ gesprochen. Auch diese durfte als glaubwürdig eingeschätzt werden (ein Rechtsanwalt). Es liegt somit auch kein Verstoss gegen Richtlinie 3.1 vor.

4. Auch hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre (Richtlinie 7.1) und der Identifizierung des Täters von Rupperswil (Richtlinie 7.2) ist nichts zu beanstanden. Die vom Beschwerdeführer angeführte Rufschädigung durch die Behauptung eines Zusammenhangs zwischen einer (nicht stattgefundenen) Revolte und der Person des Täters fiele allenfalls unter Richtlinie 1.1 (unwahre Sachverhaltsdarstellung), vor allem aber – allenfalls – unter eine zivilrechtlich zu beurteilende Rufschädigung. Der Presserat hat hier keine Entscheidungskompetenz.

5. Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung): Der Angeklagte im Vierfachmord von Rupperswil wird mehrfach als «Killer» bezeichnet («Rupperswil-Killer», «Kinder-Killer»). Was zum einen unmissverständlich erscheinen lässt, dass er der Täter war, was aber gleichzeitig – im Gegensatz zu eines «wegen vier Tötungsdelikten Angeklagten» beim «Killer» Gefühlskälte und niedrige Motive impliziert.

Grundsätzlich hat die Unschuldsvermutung zu gelten, bis ein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Im konkreten Fall aber lag ein Geständnis von vier Tötungen vor. Der Presserat ist in früheren Fällen (etwa im Zusammenhang mit dem Germanwings-Absturz: Entscheide 42/2015, 57/2015) davon ausgegangen, dass bei «erdrückender Indizienlage» von der Unschuldsvermutung abgesehen werden könne. Das gilt auch in diesem Fall, wenn es um die Frage geht, ob der Angeklagte die vier Tötungen effektiv begangen hat.

Die Frage, ob er als «Killer» bezeichnet werden darf, ist eine andere. «Killer» lässt auf Gefühlskälte und niedrige Motive schliessen. In der Tat hat der Angeklagte im Prozessverlauf Gefühlskälte und bestimmte «niedrige Motive» erkennen lassen. Inwieweit dies einem laut zwei Gutachten psychisch kranken Täter aber als bewusstes Handeln zugeschrieben werden darf, hängt nicht zuletzt vom Gerichtsurteil ab. Dieses war zum Zeitpunkt der Publikation des Artikels nicht rechtskräftig. Insgesamt gesehen ist die Wortwahl mindestens problematisch. Der Presserat sieht Richtlinie 7.4 aber knapp nicht verletzt.

Dasselbe gilt, aus den gleichen Gründen, für die beanstandete Verletzung der Menschenwürde (Richtlinie 8.1): Angesichts der Erkenntnisse aus dem Prozess, nach einer Serie von bis ins Detail geplanten und von weiteren bereits vorausgeplanten Morden mag es vertretbar sein, von einem «Killer» zu sprechen. Es wäre allerdings eine zurückhaltendere Wortwahl zu bevorzugen angesichts der Tatsache, dass es sich beim Täter laut zweier Gutachten um einen psychisch kranken Mann handelt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird in der Hauptsache gutgeheissen.

2. «Blick am Abend» hat mit dem Artikel «Revolte in der Pöschwies» gegen Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichte und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

3. Hingegen hat «Blick am Abend» nicht verstossen gegen die Ziffern 2, 3, 7 und 8 der «Erklärung».