Nr. 38/2024
Privatsphäre / Menschenwürde

(X. c. «20 Minuten»)

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 15. Dezember 2023 veröffentlichte «20 Minuten» (online) einen Artikel mit dem Titel «Ukrainischer Abgeordneter zündet Handgranaten in Ratssitzung». Der Beitrag basiert auf einer Agenturmeldung. Nach dem Lead ist ein Video des Vorfalls eingebunden. Vor dessen Start wird während zwei Sekunden ein Hinweis eingeblendet: «Warnung. Das folgende Video beinhaltet Bilder und Schilderungen, die dich aufwühlen könnten.» Dann ist ein Mann zu sehen, dessen Gesicht verpixelt ist. Er wirft drei Handgranaten in einen Raum voller Menschen. Es sind Explosionen zu sehen, das Video wird nun stummgeschaltet, die Bilder laufen aber weiter. In der folgenden halben Minute ist zu sehen, wie sich der Saal mit Rauch füllt, die Menschen in Panik ausbrechen, Tische zur Seite gerückt werden, um einer oder mehreren darunter liegenden Personen zu helfen. Der auf dieses Video folgende Text erläutert, dass ein (namentlich genannter) Abgeordneter eines Dorfrates in der westukrainischen Region Transkarpatien in einem Sitzungszimmer drei Granaten gezündet habe. Dabei habe er eine Person getötet und 26 weitere verletzt, sechs davon lebensgefährlich. Die Ratssitzung sei auf Facebook übertragen worden, weshalb ein Video des Anschlags existiere.

B. Am 6. März 2024 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel ein. Die Verlinkung des verstörenden Videos verletze die Richtlinie 7.8 (Krieg und Konflikte) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung»), «insbesondere ‘die Gefahr […] die Sensibilität der Betrachter zu verletzen’ und das ‘Recht auf Totenruhe des/der Abgebildeten’.» Die Trigger-Warnung zu Beginn schütze nur ungenügend und könne durch die Autoplay-Funktion gewisser Browser auch übersehen werden. Weder die Warnung noch der Hinweis, dass es sich um einen externen Inhalt handle, entbinde die Journalistinnen und Journalisten von ihrer Verantwortung. Das Video enthalte keinerlei Mehrwert und zeige nur eine Brutalität, die bereits im Text erwähnt werde. Weiter verletze das Video Richtlinie 8.3 (Opferschutz) und 8.4 (Bilder über Kriege und Konflikte): Sensationelle Darstellungen, welche Menschen zu blossen Objekten degradierten, seien untersagt, insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen. Es sei fraglich, ob das publizierte Video dem Informationsbedürfnis der breiten Leserschaft entspreche. Es handle sich um die implizite Verherrlichung eines Mordes zwecks Sensationalismus. Die Menschenwürde sei verletzt, indem die Opfer als Mittel zum Zweck degradiert würden – nämlich zur Erhöhung von Klickzahlen. Die unpassende Formulierung, es handle sich um einen «merkwürdigen Anschlag» fordere schon fast zur Überprüfung des Videos auf, obwohl dieses für den Inhalt des Artikels überflüssig sei.

C. Am 25. Juni 2024 nahm der Rechtsdienst der TX Group für die Redaktion «20 Minuten» zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Abweisung. Weder seien die Menschen im Video identifizierbar noch würden sie erkennbar als leidend gezeigt. Der Fall zeige vielmehr exemplarisch die prekäre Sicherheitslage in der Ukraine. Die Trigger-Warnung, die zu Beginn des Videos eingeblendet werde, sei ausreichend, insbesondere nachdem auch in Titel und Oberzeile klar formuliert werde, was im Video zu sehen sei. Je nach Plattform müssten vor dem Start des Videos auch noch zwei Werbungen abgewartet werden und der Ton sei stummgeschaltet. Der Journalistenkodex werde von der Redaktion eingehalten.

D. Am 23. Mai 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 23. Oktober 2024 verabschiedet.


II. Erwägungen

1. Richtlinie 7.8 (Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte) zur «Erklärung» verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, sich besonders zurückhaltend gegenüber Personen zu zeigen, die sich in einer Notlage befinden oder die unter dem Schock eines Ereignisses stehen. Bilder von Kriegen und Konflikten, Terrorakten und weiteren Notlagen dürfen nur publiziert werden, wenn sie historische Momente zeigen. Dabei muss jedoch das öffentliche Interesse an der Publikation abgewogen werden «gegen die Gefahr, die Privatsphäre der abgebildeten Personen und/oder die Sensibilität der BetrachterInnen zu verletzen» sowie «das Recht auf Totenruhe des/der Abgebildeten». Im vorliegenden Fall illustriert das Video einen Artikel, welcher den Angriff explizit beschreibt. Am textlichen Inhalt des Artikels besteht ein öffentliches Interesse, am Zeigen des entsprechenden Videos aber nicht: Weder bringen die Videobilder einen journalistischen Mehrwert noch können sie als historisches Dokument gelten. Sowohl die Privatsphäre der Betroffenen als auch die Ruhe des Todesopfers sind höher zu bewerten als der Informationswert des Videos. Richtlinie 7.8 ist daher verletzt.

2. Gemäss Richtlinie 8.3 (Opferschutz) sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren. Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze dessen übersteigt, was durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit gerechtfertigt ist. Das ist vorliegend der Fall: Die Veröffentlichung des Videos bringt keine Zusatzinformation, sondern zielt einzig und allein auf Sensation und – damit verbunden – auf Klicks. Richtlinie 8.3 ist demnach verletzt.

3. Gemäss Richtlinie 8.4 (Bilder über Kriege und Konflikte) müssen Kriegsbilder vor ihrer Ausstrahlung besonders geprüft werden: Beim gezeigten Video handelt es sich nicht um die Dokumentation eines Krieges oder eines Konflikts, sondern um einen Anschlag innerhalb einer Parlamentssitzung, also ein Verbrechen. Richtlinie 8.4 ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde in der Hauptsache gut.

2. «20 Minuten» (online) hat mit dem Beitrag «Ukrainischer Abgeordneter zündet Handgranaten in Ratssitzung» vom 15. Dezember 2023 die Ziffern 7 (Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.