I. Sachverhalt
A. Unter dem Titel «Im Heiligen Land» veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» am 24. Dezember 2010 in der Tourismusbeilage «Reisen und Freizeit» einen Reisebericht von Beate Schümann über Bethlehem im Westjordanland. Der Untertitel lautet: «Auch im überwiegend muslimischen Bethlehem wird Weihnachten gefeiert – obwohl niemandem wirklich zum Feiern zumute ist.» Nach dem Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 seien die Zahlen im Israel-Palästina-Tourismus stark eingebrochen. «Die Stadt Bethlehem, wo einst Jesus zur Welt gekommen sein soll, blüht jeweils zur Weihnachtszeit kurz auf.»
Im Lauftext schreibt die Autorin, «die neun Meter hohe Betonmauer und die zahlreichen Checkpoints drohen die Stadt zu erwürgen. Sie machen den Palästinensern das Leben schwer, legen die Wirtschaft lahm und verunsichern Touristen. An den Ecken stehen schlotternde Kinder, die geschnitzte Kamele aus Olivenholz oder Palästinensertücher anpreisen, für wenige Schekel. Die jungen Verkäufer warten schon lange in der Kälte, nur selten kommt Kundschaft vorbei. (…) Die Geburtsstätte Jesu ist heute wenig mehr als ein Stall. Das Dach ist undicht, die Holzdecke morsch, die Wände voller Schimmel. Bei der israelischen Belagerung im Jahr 2002 hat das gesamte Gebäude Schaden genommen. (…) Im einst christlichen Bethlehem leben nur noch zwei Prozent Christen. Die Gemeinde ist ausgezehrt, viele sind ausgewandert. In den Strassen hängen Stromkabel zwischen zerschossenen Stockwerken und zerstörten Häusern (…) Die Armut ist dramatisch.» Der Tourismus sei nach Beginn der zweiten Intifada massiv zurückgegangen. Selbst der Strom der Pilgergruppe sei versiegt. «Für die letzten Jahre weist die Statistik wieder steigende Gästezahlen aus. Errechneten Bethlehems Touristiker im Jahr 2004 nur rund 50’0000 Besucher, kamen 2007 allein im Dezember schon wieder 60’000. (…) Abschied von Bethlehem, Fahrt nach Jerusalem. Das bedeutet Warten am Checkpoint. Eigentlich liegt die Stadt nur dreissig Minuten entfernt, in Wahrheit aber eine Ewigkeit. In diese Richtung wird besonders hart kontrolliert.»
B. Als Reaktion auf den Bericht von Beate Schümann veröffentlichte Ulrich W. Sahm am 26. Dezember 2010 auf der Website «Achse des Guten» den Artikel «Weihnachten in der NZZ». «Wo immer die Kollegin Schümann war, Bethlehem kann es nicht gewesen sein.» Die Stadt werde keineswegs von zahlreichen Checkpoints erwürgt, es gebe nur einen einzigen. Und da das Land zur Zeit eine Hitzewelle erlebe, liefen keine «schlotternden» Kinder herum. Von einem Einbruch im Tourismus könne nicht die Rede sein. Das palästinensische Tourismusministerium vermelde mit 140’000 Besuchern vielmehr einen «Rekord aller Zeiten». «Alle Hotels sind seit drei Monaten ausgebucht.» Seit dem letzten April habe es nur einmal geregnet. Deshalb sei es undenkbar, dass «Wände voller Schimmel» seien. Entgegen dem NZZ-Bericht sei zudem Geld da, um das Geburtshaus Jesus zu renovieren. Seit September 2010 werde renoviert, vor allem das seit Jahrzehnten marode Dach. Der Anteil von zwei Prozent Christen stimme für das gesamte Autonomiegebiet, aber nicht für Bethlehem. Die Beschreibung einer verwahrlosten Stadt entspreche längst nicht mehr dem aktuellen Stand. «Die gute Frau scheint vor 9 Jahren, auf dem Höhepunkt der Intifada, das letzte Mal in Bethlehem gewesen zu sein.»
C. Am 29. Dezember 2010 und 5. Januar 2011 beschwerte sich X. beim Presserat über die Veröffentlichung des Berichts von Beate Schümann in NZZ und weiteren Publikationen. Unter Berufung auf den Text des «in Jerusalem ansässigen Nahost-Korrespondenten» Ulrich Sahm sieht die Beschwerdeführerin die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Unabhängigkeit), 3 (Entstellung von Tatsachen), 5 (Berichtigung), 6 (Quellenschutz) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
Eine derartige verzerrte Berichterstattung habe verheerende Auswirkungen auf die Meinungsbildung der Leserschaft. «Sie führt zu Hass gegen Israel und damit gegen die Juden (…) überall auf der Welt.» Sie beobachte schon seit Jahren «die in vielen Schweizer Medien geübte Stimmungsmache» – sei es mittels «lügenhafter Angaben», sei es mittels Weglassens wichtiger Hintergrundinformationen – mit grösster Sorge.
D. Am 2. und 23. Januar 2011 gelangte Y. mit einer ähnlichen Beschwerde gegen den Bericht von Beate Schümann an den Presserat. Sie beanstandet darin eine Verletzung der Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Entstellung von Informationen) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». «Der Artikel von Frau Schümann ist voll von offensichtlichen Lügengeschichten, die in klarer Weise Israel in ein schlechtes Licht stellen.»
E. Am 28. Februar 2011 beantragte die durch Chefredaktor Markus Spillmann und die Rechtskonsulentin vertretene Redaktion der «Neuen Zürcher Zeitung», die Beschwerde sei abzuweisen. Der Artikel von Beate Schümann enthalte weder antijüdische Tendenzen, noch fänden sich darin Lügengeschichten. An keiner Stelle des Beitrags werde Israel schlechtgemacht. «Der Artikel schildert allein die Eindrücke der Autorin von einer Reise nach Bethlehem und von der Geburtskirche Jesu sowie der Grabeskirche in Jerusalem.» Es handle sich um einen Reisebericht und nicht um einen politischen Beitrag. Die Autorin habe darin weder wichtige Informationen unterschlagen noch Tatsachen entstellt.
Der am 24. Dezember 2011 erschienene Reisebericht habe «selbstverständlich im Voraus produziert werden» müssen. Deshalb habe die Autorin Bethlehem bereits einige Wochen vor Weihnachten besucht. «Das ist auch jedem Leser klar.» Dass sich die geschilderten Gegebenheiten nicht auf die Weihnachtstage selbst beziehen, werde auch aufgrund der Bemerkung klar, «dass zur Weihnachtszeit der Geburtsort Jesu immer kurz aufblühe».
Die Redaktion habe die von den Beschwerdeführerinnen monierten zahlreichen Punkte bei einem Auslandredaktor der NZZ, der Anfang 2011 in Bethlehem war und beim Israel- Korrespondenten der NZZ abklären lassen. Diese hätten bestätigt, dass die Darstellung von Beate Schümann zutreffe. Ein Fehler habe sich einzig bei der Zahl der Christen in Bethlehem eingeschlichen. «In Bethlehem ist ihr Anteil tatsächlich weit höher. Die 2 Prozent beziehen sich auf die gesamte palästinensische Bevölkerung inklusive Gaza. Hingegen trifft es zu, dass in den letzten Jahren eine grosse Abwanderung stattgefunden hat.» Diese Ungenauigkeit habe die NZZ mit einer am 27. Dezember 2011 publizierten SDA-Meldung («Tausende von Pilgern in Bethlehem») richtig gestellt.
Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerinnen gebe es mehrere Checkpoints, was unter dem Link http://www.ochaopt.org/documents/ocha_opt_bethlehem_closure_map _july_2010_a3.pdf nachgeprüft werden könne.
Tatsache sei zudem, dass Kinder Souvenirs verkaufen. «Die Arbeitslosigkeit ist hoch in Bethlehem und Armut sehr verbreitet. Kinder versuchen, mit dem Verkauf von Souvenirs sich etwas Geld zu verdienen. (…) Dass es dabei im Winter am Abend schnell einmal kalt wird, auch wenn tagsüber die Sonne schien und die Temperaturen warm waren, ist kaum zu bestreiten.»
Als die Autorin Bethlehem bereiste, sei die Zahl der Touristen gering gewesen. Wie bereits erwähnt, habe sie jedoch darauf hingewiesen, dass der Ort an Weihnachten jeweils aufblühe. Und die NZZ habe am 27. Dezember 2010 vermeldet, dass sich am Weihnachtstag schätzungsweise 100’000 Pilger – so viele wie noch nie – in Bethlehem versammelt hätten. In dieser Meldung werde auch auf den hohen Anteil an Christen in Bethlehem (rund ein Drittel der Bevölkerung) und darauf hingewiesen, dass es in den 50er-Jahren noch 75 Prozent waren.
«Verrottete Autowracks und Pferdekarren, herunterhängende Stromkabel und zerschossene Stockwerke und zerstörte Häuser», all dies sei in Bethlehem auch heute noch zu sehen, auch wenn der Zustand der Stadt vor einigen Jahren noch weit schlechter gewesen sei.
Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerinnen gebe es schliesslich tatsächlich einen ausschliesslich dem motorisierten Verkehr dienenden Tunnel, «der von der Grünen Linie (Grenze zu Ostjerusalem) in den Westen der Stadt führt».
F. Am 11. März 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.
G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 10. Juni 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Es gehört zur Pressefreiheit und zur Freiheit des Kommentars und der Kritik, dass Journalistinnen und Journalisten aktuelle gesellschaftliche Zustände, Veränderungen und Entwicklungschancen unterschiedlich beschreiben und bewerten. In Bezug auf die heutige wirtschaftliche Situation in Bethlehem führt dies bei Beate Schümann respektive Ulrich W. Sahm zu diametral entgegengesetzten Einschätzungen. Den Standpunkt Sahms zu stützen scheint eine ebenfalls im Zeitraum Weihnachten 2010 erschienene Meldung der Agentur Bloomberg (veröffentlicht am 23. Dezember 2010 in der «International Herald Tribune» und am 25. Dezember 2010 durch «Cash Online»), die von einem wirtschaftlichen Aufschwung berichtet. Der Artikel, der in erster Linie die Sichtweise der an der Erholung und Weiterentwicklung des Tourismus und damit an einer möglichst positiven Darstellung existenziell interessierten palästinensischen Autonomiebehörde wiedergibt, enthält allerdings auch kritische Untertöne. So wird erwähnt, dass die Arbeitslosenquote im Vergleich zum Vorjahr zwar um zwei Prozent gesunken ist, aber immer noch 22 Prozent beträgt. Und: «Schwierig ist auch die Lage der Stadt, die fast vollständig von der hohen Mauer umgeben ist, die Israel an der Grenze zum Westjordanland errichtet hat.»
Welche Einschätzung als zutreffend(er) erscheint, muss unter diesen Umständen an dieser Stelle offen bleiben. Soweit die Beschwerdeführerinnen im Hauptpunkt ihrer Beschwerden unter Berufung auf die Darstellung von Ulrich W. Sahm behaupten, der Reisebericht von Beate Schümann entspreche nicht den Tatsachen, ist der Presserat gestützt auf die für ihn verfügbaren Informationen nicht in der Lage, zu beurteilen, ob die Ausführungen des Artikels «Im Heiligen Land» tatsächlich in einem oder mehreren Punkten nicht der Wahrheit entsprechen. Der Presserat hat bereits in früheren Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass er kein «Wahrheitstribunal» ist und es nicht zu seinen Aufgaben gehört, gesellschaftspolitische Kontroversen nach dem Wahrheitskriterium zu bearbeiten (Stellungnahme 32/2001) Zumal gemäss ständiger Praxis des Presserats aus der «Erklärung» keine Pflicht zu «objektiver» Berichterstattung abzuleiten ist. Vielmehr lässt die Berufsethik auch Raum für einseitige und fragmentarische Sichtweisen (vergleiche zuletzt die Stellungnahme 17/2011) mit weiteren Hinweisen.
2. Die NZZ räumt in einem einzigen Punkt eine Ungenauigkeit des Artikels von Beate Schümann ein. Danach beträgt der Anteil der Christen in Bethlehem nicht bloss zwei Prozent, sondern rund ein Drittel der Bevölkerung. Gemäss übereinstimmender Darstellung der Parteien bezieht sich der Anteil von zwei Prozent auf die gesamte palästinensische Bevölkerung inklusive Gaza. Ist aus diesem auf einem Versehen beruhenden sachlichen Fehler eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheit) abzuleiten? Gemäss seiner Praxis stellt der Presserat bei Fehlern und Ungenauigkeiten in Medienberichten nur dann eine Verletzung der Wahrheitspflicht fest, wenn sie im Gesamtzusammenhang für das Verständnis der Leserschaft relevant erscheinen (vergleiche dazu beispielsweise die Stellungnahme 64/2009 und 20/2010). Dies ist hier nach Auffassung des Presserates zu verneinen.
3. Ist für den Presserat keine Verletzung der Wahrheitspflicht belegt, entfällt auch eine allfällige Verletzung der Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigung). Ohnehin macht die NZZ dazu zu Recht geltend, dass die am 27. Dezember 2010 abgedruckte SDA-Meldung die korrekten Zahlen und Relationen nachgeliefert hat.
4. Diskutabel erscheint hingegen das Argument der Zeitung, für die Leserschaft sei klar gewesen, dass die Autorin Bethlehem bereits einige Wochen vor Weihnachten bereist habe. Sowohl das Publikationsdatum wie auch die Einbettung des Artikels in das Thema «Weihnachten» suggerieren den gegenteiligen Schluss. Zumal es im Zeitalter der elektronischen Kommunikation durchaus möglich ist, einen Reisebericht kurzfristig zu produzieren. Nach Auffassung des Presserats wäre es – wie bereits bei der falschen Bezifferung des Anteils der Christen an der Bevölkerung Bethlehems –unverhältnismässig, aus der Unterlassung der Angabe des Reisezeitpunkts eine Verletzung der «Erklärung» (hier: Ziffer 3 – Unterschlagung von wichtigen Informationen) abzuleiten. Eine entsprechende Angabe in Reiseberichten ist aber generell zu empfehlen.
5. Soweit die Beschwerdeführerin X. darüber hinaus eine Verletzung der Ziffern 6 (Redaktionsgeheimnis) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung» rügt, ist auf ihre Beschwerde nicht einzutreten. Für den Presserat ist nicht ersichtlich, inwiefern die NZZ mit der Veröffentlichung des beanstandeten Berichts gegen den Quellenschutz verstossen haben soll. Und soweit X. geltend macht, Beate Schümann mache in ihrem Artikel «übelste Stimmung gegen Israel und damit gegen die Juden» erscheint dieser Vorwurf bei unbefangener Prüfung des Textes als offensichtlich unbegründet. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich Ziffer 7 der «Erklärung» nur auf individuelle Personen, nicht aber auf Personengruppen bezieht.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerden werden abgewiesen, soweit der Presserat darauf eintritt.
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Im Heiligen Land» am 24. Dezember 2010 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagung und Entstellung von Informationen), 5 (Berichtigung), 6 (Quellenschutz), 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.