Nr. 22/2019
Schutz der Privatsphäre / Menschenwürde

(X. c. «20 Minuten»)

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I. Sachverhalt

A. Am 18. Januar 2018 veröffentlichte «20 Minuten» online einen Artikel mit dem Titel «Den letzten Atemzug eines Kindes spüren», gezeichnet von Ann Guenter. Darin wird der Fall zweier Pädophiler geschildert, eines Schweizers, der in Deutschland Kinder vergewaltigt hat, und seines deutschen Mittäters «Daniel V.», auf den der Artikel vor allem Bezug nimmt. V. wird eingangs des Artikels charakterisiert mit: «Man kann den Elektrotechniker getrost als einen der schlimmsten Kinderschänder Deutschlands bezeichnen». In der Folge zählt der Artikel die Taten und Vorstrafen des V. auf, sowie die Tatsache, dass er immer auch Kontakt zu Pädophilen in der Schweiz gehabt habe. So habe er schon 2008 mit einem Mann in Glarus die Kinder (Buben, drei- und sechsjährig) zur Vergewaltigung getauscht. Dabei werden Details aufgezählt wie die Tatsache, dass V. nicht vom Sohn des Schweizers abgelassen habe, als dieser kollabiert sei, oder dass den Kindern Betäubungsmittel verabreicht worden seien. V. habe später einen anderen Chat-Partner gefragt, ob er mal «den Atem eines sterbenden Kindes spüren» wolle, er habe dazu Bilder von strangulierten Kinderleichen, von an den Genitalien verletzten Kindern mitgeschickt. Weiter wird ausgeführt, wie V. in einem Chat davon redet, dass er Kinder beim Geschlechtsverkehr Nadeln unter die Zehennägel stechen wolle. Schliesslich wird geschildert, wie V. zusammen mit einem Holländer die Entführung und Ermordung eines «idealerweise» achtjährigen Kindes geplant habe, wie das Opfer über Stunden gequält und missbraucht werden soll. Am Schluss des Artikels wird erwähnt, dass V. 2009 zu zehn Jahren Haft und Sicherungsverwahrung verurteilt worden sei, dass er aber Mitte 2015 entlassen worden sei und sich seither bereits wieder auffällig verhalten habe, also «ein hoffnungsloser Fall» sei.

B. Mit Schreiben vom 22. Januar 2018 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht die Verletzung der Ziffern 7 (Schutz der Privatsphäre) und 8 (Schutz der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten (nachfolgend «Erklärung») geltend. Insbesondere moniert er, dass die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 7.3 (Kinder) verletzt sei, bei der es um den Schutz von Kindern geht, speziell bei der Berichterstattung über Gewaltverbrechen. Weiter sieht der Beschwerdeführer Richtlinie 7.7 (Sexualdelikte) verletzt, den gebotenen Schutz der Opfer von Sexualverbrechen, und schliesslich Richtlinie 8.3 (Opferschutz), den Schutz von Opfern von Gewalt oder anderen dramatischen Ereignissen. Dort zitiert er unter anderem den Passus, wonach sensationelle Darstellungen zu unterbleiben haben. «Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von (…) Leidenden, wenn die Darstellung in Text und Bild (…) die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt».

Der Beschwerdeführer nennt keine konkreten Stellen im Text, welche die drei Verstösse belegten, er macht aber allgemein geltend, dass unnötigerweise auf den ganzen Lebenslauf des Täters eingegangen werde, dass der Behauptung, V. sei einer der schlimmsten Kinderschänder Deutschlands, keine Belege folgten und dass der Artikel sich «insgesamt wie eine Anleitung für Nachahmer lese»; dazu führt der Beschwerdeführer dann vier Textbeispiele an:
– Dass der Täter V. seinen Mittäter auf dem Chatforum «Zauberwald» kennengelernt habe
– Dass V. dem Schweizer seinen eigenen Sohn «zur Verfügung gestellt» habe, um sich umgekehrt an dessen Sohn vergehen zu dürfen
– Dass Experten der Polizei die verschlüsselten Daten auf V.s Computer nicht entschlüsseln konnten und
– Dass den Opfern leicht betäubende Crème und Schlaftabletten verabreicht worden seien.
Diese detaillierten Ausführungen seien in keiner Weise für das Verständnis des Artikels notwendig, seien abscheulich und in einem für jede Altersgruppe frei zugänglichen Medium unverantwortlich.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 14. März 2018 beantragt Tamedia als Herausgeberin von «20 Minuten» Abweisung der Beschwerde, soweit überhaupt darauf einzutreten sei. Letzteres sei allerdings abzulehnen, weil der Beschwerdeführer es versäume, gemäss Geschäftsreglement Art. 9 Abs. 2 anzugeben, inwiefern der Text Bestimmungen der Erklärung verletze, insbesondere werde nirgends angegeben, worin der behauptete Verstoss gegen Richtlinie 7.3 und 7.7 bestehen soll.

Für den Fall des Eintretens macht die Redaktion geltend, dass Richtlinie 7.3 (Schutz von Kindern) nicht verletzt sei. Zum einen gebe die Beschwerde gar nicht an, worin die Verletzung bestehen solle. Zum anderen sei die Privatsphäre des Kindes geschützt geblieben, es würden keine Angaben gemacht, die eine Identifizierung des Opfers ermöglichten.

Dasselbe gelte für Richtlinie 7.7 (Schutz der Opfer von Sexualdelikten): Auch hier nenne der Beschwerdeführer keinen Grund, weshalb diese Vorschrift verletzt worden sein soll. Es seien keine Angaben im Artikel, welche eine Identifikation der Opfer ermöglichten.

Zu Richtlinie 8.3 (Opferschutz) wird festgehalten, dass der Artikel nicht die sensationelle Darstellung des Leidens der Kinder beabsichtige, sondern die «Bewusstmachung der Reiz- und Lusterfüllungsstrategien des Täters». Angesichts der einmaligen Abscheulichkeit der Taten sei es Absicht der Autorin gewesen, «dem abgenutzt gewordenen Begriff des Missbrauchs realitätsgerechte Konturen zu geben». Insbesondere sei es wichtig gewesen, mit der – vom Beschwerdeführer monierten – «Darstellung des Lebenslaufes des V. den Kontrast zwischen der harmlosen Rolle in der Gesellschaft und den Abgründen seiner Taten aufzuzeigen». Es werden zwei Artikel beigelegt, in welchen Journalisten dafür plädieren, das Elend von Opfern deutlicher bewusst zu machen. Die vom Beschwerdeführer kritisierte «Anleitung zur Nachahmung», welche sich durch die detaillierte Beschreibung der Straftaten ergebe, wird von Tamedia ebenfalls bestritten: Die teilweise detaillierten Schilderungen sollten «unter anderem dazu beitragen, dass Eltern kleiner Kinder einen Einblick in die Gedankenwelt der Täter erhalten und sich gegebenenfalls mit der Sicherheit ihres Kindes auseinandersetzen».

D. Am 29. März 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 8. Juli auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

Auf die Beschwerde ist einzutreten. Es trifft zwar zu, dass der Beschwerdeführer keine genauen Angaben darüber gemacht hat, inwiefern Richtlinien 7.3 (Kinder) und 7.7 verletzt sein sollen. Aus dem gesamten Kontext ist aber ersichtlich, was er mit den beiden angerufenen Bestimmungen gemeint hat. Vor allem aber hat er zu Richtlinie 8.3 klare Angaben gemacht.

Der Beschwerdegegnerin ist zuzustimmen, was die Bestimmungen von Richtlinie 7.3 und 7.7 betrifft: Sie wurden mit dem Artikel nicht verletzt. Die beiden Bestimmungen sind Ausführungen zu Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre), es geht dort um den Schutz der Privatsphäre von Kindern (Richtlinie 7.3), respektive von Opfern von Sexualdelikten (Richtlinie 7.7). Die Opfer müssen anonym bleiben, damit ihr Leiden nicht durch die Veröffentlichung der Taten noch verschlimmert wird. Die Privatsphäre der im vorliegenden Artikel beschriebenen Opfer von Gewalttaten wurde in keiner Weise verletzt, sie sind für die Leserschaft nicht kenntlich geworden. Die Richtlinien 7.3 (Kinder) und 7.7 (Sexualdelikte) sind nicht verletzt.

Was die Verletzung von Richtlinie 8.3 (Opferschutz) betrifft, bezüglich derer der Beschwerdeführer kritisiert, dass die sensationalistische Darstellung sich lese wie eine «Anleitung zur Nachahmung», so gilt Ähnliches: Zwar ist diese Bestimmung weiter gefasst: Sie schützt nicht nur die Opfer von «dramatischen Ereignissen oder Gewalt», sondern sie untersagt auch die «sensationelle Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen». Aber auch diese Bestimmung steht unter dem Titel «Opferschutz». Es sind wieder die Opfer, welche mittels dieser Bestimmung geschützt werden, nicht die Leserschaft.

Man mag sich fragen, ob «20 Minuten» mit der Schilderung von Details wirklich so weit hat gehen müssen wie im konkreten Fall. Oder ob gerade dies, wie Tamedia anführt, zur Aufklärung der Öffentlichkeit erforderlich sei. Fest steht aber, dass Richtlinie 8.3 (Opferschutz) nicht auf diese Frage ausgelegt ist, nicht auf den Schutz der Leserschaft vor Sensationalismus, sondern auf den Schutz der Opfer von dramatischen Ereignissen oder Gewalt vor der öffentlichen Zurschaustellung.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «20 Minuten» hat mit dem Artikel «Den letzten Atemzug eines Kindes spüren» vom 18. Januar 2018 weder gegen Ziffer 7 (Privatsphäre) noch gegen Ziffer 8 (Menschenwürde/Opferschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.