I. Sachverhalt
A. Am 1. März 2024 veröffentlichte «20 Minuten» online einen Text von Anja Zobrist mit dem Titel «104 Tote bei Essensausgabe – ist der Waffenstillstand damit vom Tisch?». Die Journalistin berichtet von der Situation in Gaza: Am Tag zuvor habe das israelische Militär in der Umgebung einer Hilfslieferung Schüsse abgegeben, bei der mehr als 100 Menschen ums Leben gekommen seien. Die genauen Umstände des Vorfalls seien unklar, es gebe Widersprüche zwischen den Berichten des israelischen Militärs und der Hamas sowie denjenigen von Augenzeugen. Israel gebe an, es seien Warnschüsse gewesen, während Hamas und Augenzeugen sagten, die israelische Armee habe auf ZivilistInnen geschossen. Der Vorfall gefährde eine geplante Waffenruhe erheblich. Der Text bettet den Vorfall geopolitisch ein: So seien die USA ein paar Tage zuvor noch zuversichtlich gewesen, dass es schnell zu einer Waffenruhe kommen werde. Nach dem Vorfall mit den 104 Toten sei diese Zuversicht geschwunden. Die Journalistin legt in der Folge die Bedingungen für einen Waffenstillstand dar. Als Quelle gibt sie einen Vertreter der ägyptischen Regierung an, der diese Angaben gegenüber der Nachrichtenagentur AP (Associated Press) geäussert habe. Sie erwähnt auch, was die israelische Regierung zu dieser Frage sagt. Unter dem Online Artikel steht der Satz: «Mit Material der DPA» (Deutsche Presse-Agentur).
B. Am 2. März 2024 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel auf «20 Minuten» online ein. X. macht einen Verstoss gegen die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») sowie der zugehörigen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) geltend. Der Abschnitt, welcher die Gewalt rund um eine Hilfslieferung in Gaza beschreibe, entspreche nicht der Wahrheit. So zitiere der Artikel das israelische Militär, welches angebe, es habe sich bei den angeblichen Schüssen auf die (laut Hamas) ZivilistInnen nur um Warnschüsse gehandelt. X. ist der Ansicht, andere Medien hätten bereits vor Erscheinen des Artikels auf «20 Minuten online» (um 19.26 Uhr) darüber berichtet, Vertreter Israels hätten zugegeben, tödliche Schüsse auf ZivilistInnen abgegeben zu haben. Als Beispiele zitiert der Beschwerdeführer einen Bericht von «NBC News», der am Tag zuvor um 13.06 Uhr veröffentlicht worden war. Danach habe eine «Quelle in der israelischen Regierung» erklärt, mehrere Personen hätten sich in drohender Weise den Truppen genähert, woraufhin diese mit «live fire» geantwortet hätten, mit «Scharfschüssen». Der Vorfall würde untersucht. Ein Bericht im «Guardian», der am 1. März um 7.14 Uhr publiziert wurde, zitiere den Mediensprecher der israelischen Armee, der gesagt habe, zuerst habe die Armee Warnschüsse und dann «in Notwehr auch tödliche Kugeln» abgegeben. In einem in der Nacht auf den 1. März 2024 erschienenen Artikel in der «New York Times» stehe, ein Militärsprecher habe ausgeführt, SoldatInnen hätten das Feuer eröffnet, als sie vom Mob gefährlich bedrängt worden seien. Zuvor habe auch die «Washington Post» geschrieben, ein Mediensprecher habe zugegeben, dass das israelische Militär auf Menschen gefeuert habe. Diese Berichte, die allesamt vor dem monierten Beitrag auf «20 Minuten online» erschienen seien, würden belegen, dass sowohl die Pflicht zur Wahrheit (Ziffer 1 der «Erklärung») als auch die Suche nach der Wahrheit (Richtlinie 1.1) verletzt worden seien. Zudem seien offensichtlich wichtige Elemente von Informationen unterschlagen bzw. Tatsachen entstellt worden (Ziffer 3 der «Erklärung»).
C. Am 10. Oktober 2024 nahm der Rechtsdienst der TX Group im Namen der Redaktion «20 Minuten» Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Abweisung. Nach Ereignissen wie jenen, die im Artikel beschrieben seien, würden sich regelmässig die Veröffentlichungen und Medienberichte überschlagen. Es sei unmöglich, dass Medienschaffende sämtliche weltweit erschienenen Medienberichte lesen und zitierten – insbesondere jene, die sich auf ungenannte Quellen in israelischen Militärkreisen stützten. Der kritisierte Artikel stütze sich auf die Aussagen des israelischen Militärsprechers. Zum Zeitpunkt der Recherche, die im Verlauf des Morgens des 1. März 2024 gemacht worden sei, habe es keine weiteren offiziellen und anderslautenden Stellungnahmen gegeben. Weiter stütze sich der Text auf eine Agenturmeldung der DPA (Deutsche Presse-Agentur). Auch hier habe es keinen Grund gegeben, die Meldung in Frage zu stellen bzw. erneut zu verifizieren.
Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Belege seien zudem nicht so eindeutig, wie dieser glaubhaft machen wolle: Sie zitierten ungenannte Regierungsquellen, oder es sei die Rede von zwei unterschiedlichen, zeitlich nacheinander erfolgten, aber örtlich nahe beieinander liegenden Vorfällen. Im «Guardian» fehle die Zeitangabe der Stellungnahme des Militärsprechers Peter Lerner, so dass es sich um eine später zurückgezogene Stellungnahme handeln könne. Dies sei umso wahrscheinlicher, als «The Guardian» selber am Folgetag auf die Widersprüche hingewiesen und mitgeteilt habe, die Stellungnahme von Daniel Hagari, auf welche sich auch «20 Minuten» stützte, sei korrekt. («‹Contrary to accusations, we did not fire toward individuals seeking aid and we did not fire toward the humanitarian convoy from the ground nor from the air.› Earlier, another Israeli military spokesperson appeared to give a different account of which forces had opened fire. Lt Col Peter Lerner said troops guarding a checkpoint into north Gaza were responsible.»)
D. Am 11. Dezember 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 27. April 2025 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von JournalistInnen, dass sie sich an die Wahrheit halten, ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Ziffer 3 der «Erklärung» beinhaltet u. a. die Pflicht, keine wichtigen Elemente von Informationen zu unterschlagen. Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» gibt an, dass die Wahrheitssuche den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit darstellt. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten voraus.
Ausgangspunkt des Artikels ist eine Agenturmeldung der DPA sowie eine Agenturmeldung der AP. Gemäss Praxis des Schweizer Presserats dürfen sich Medien auf Agenturmeldungen verlassen, ohne dass es eine Pflicht zur Nachrecherche gibt. So hat er in einem Leitentscheid aus dem Jahr 1992 (Stellungnahme 3/1992) Folgendes entschieden: «Einem Journalisten kann nicht vorgeworfen werden, einen Agenturbericht nicht kritisch überprüft zu haben, da gemäss neuerer Gerichtspraxis ein Journalist seine Sorgfaltspflicht nicht verletzt, wenn er Agenturberichte nicht auf ihre sachliche Richtigkeit hin überprüft.» In späteren Entscheiden (beispielsweise Stellungnahme 60/2018) hat der Presserat diese Praxis bestätigt: «Laut Praxis des Presserats dürfen sich Journalisten bei Meldungen anerkannter Nachrichtenagenturen auf die Richtigkeit des Inhalts verlassen. Sie müssen die Meldungen daher nur ausnahmsweise mit eigenen Recherchen überprüfen. Die Quelle ist zu nennen.» Diese Forderung hat «20 Minuten» erfüllt.
Offen bleibt, wann die entsprechende Meldung der DPA erschien, und wann der Artikel fertig recherchiert und geschrieben wurde. Die Redaktion schreibt dazu: «Der Artikel wurde Stunden vor der Veröffentlichung recherchiert und produziert. Die Publikationszeit von 19.26 Uhr entspricht nicht dem Stand der Recherche, die im Verlauf des Morgens vom 1. März gemacht worden ist.» Diese Aussage ist problematisch. Gerade in einer Newsberichterstattung müsste der Zeitstempel dem Publikum vermitteln: Das ist der Stand des Wissens um 19.26 Uhr. Es wäre also möglich, dass in der Zwischenzeit neue Agenturmeldungen zum Vorfall erschienen sind, die zwingend hätten berücksichtigt werden müssen. Der Beschwerdeführer liefert aber keine entsprechende DPA- oder AP-Meldungen als Beleg. Insofern muss offenbleiben, ob DPA oder AP schon vor der Publikation des «20 Minuten»-Artikels eine korrigierte Version des ursprünglichen Agenturbeitrages publiziert haben. «20 Minuten» war nicht verpflichtet, die Agenturmeldung zu überprüfen oder selber nachzurecherchieren. Der Satz, es gebe Widersprüche zwischen den Berichten des israelischen Militärs und der Hamas, stellt demnach weder eine Verletzung der Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Quellen) der «Erklärung» dar noch eine solche von Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung».
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. «20 Minuten» online hat mit dem Beitrag «104 Tote bei Essensausgabe – ist der Waffenstillstand damit vom Tisch?» vom 1. März 2024 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Quellen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.