Nr. 8/1990
-91: Stellungnahme des Presserates, vom 23. Oktober 1991,

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Stellungnahme

Es ist nicht Sache des Presserates zu beurteilen, ob die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruches auf Gegendarstellung gegeben sind. Leserbriefseiten sind dem redaktionellen Verantwortungsbereich entzogen, ohne allerdings die zivil- und strafrechtliche Verantwortung der Redaktion auszuschliessen. Sie sind ein „freies Tummelfeld” für Meinungen und Ansichten aus dem Leserkreis, für die per definitionem keine journalistischen Kriterien gelten können und denen nach der Berufsethik der Journalisten möglichst wenig Grenzen zu setzen sind, um möglichst viele und unterschiedliche Reaktionen auf einen Artikel publik zu machen. Nach Meinung des Presserates sollte allerdings jede Zeitung „Spielregeln” für die Leserbriefseite aufstellen, die in regelmässigen Abständen publiziert und auch redaktions-externen Autoren von Beiträgen bekanntgegeben werden.

Prise de position

Le Conseil de la presse n’a pas à juger si les conditions légales de l’exercice du droit de réponse sont remplies. Les pages dans lesquelles paraissent des lettres de lecteurs échappent à la responsabilité de la rédaction sans que, pour autant, la responsabilité civile et pénale de celle-ci soit exclue. Ces pages constituent un réceptacle librement ouvert à l’expression des opinions et avis des lecteurs. Par définition, aucun critère journalistique ne peut leur être appliqué. En outre, en vertu de l’éthique professionnelle des journalistes, il y a lieu de limiter aussi peu que possible l’expression de ces opinions, afin d’obtenir un maximum de réactions différentes à un article publié. De l’avis du Conseil de la presse, il incombe toutefois à chaque journal de définir les règles du jeu qui valent pour la page des lettres de lecteurs, de publier ces règles à intervalles réguliers et de les porter à la connaissance des auteurs de telles lettres.

Presa di posizione

I. Sachverhalt

A. E. gelangte mit Schreiben vom 3. Januar 1991 an den Präsidenten des Presserates des Verbandes der Schweizer Journalisten, mit der Bitte um um Stellungnahme zu ihrer Auseinandersetzung mit dem „Tages-Anzeiger” über eine verweigerte Duplik bzw. Gegendarstellung nach Veröffentlichung von Leserbriefen als Reaktion auf ihren Beitrag „Ich möchte leben, aber nicht so” im „Tages-Anzeiger” vom 7. Januar 1991. Dem Presserat liegt neben der erwähnten Eingabe samt Unterlagen die Korrespondenz zwischen Frau E. und Presserats-Präsident Bernard Béguin vor (Ihre Schreiben vom 5.2.91 und 5.8.91; Herrn Béguins Schreiben vom 3.2.91 und 8.8.91).

B. Der Presserat entschuldigt sich, dass er E. bis heute über keine weiteren Schritte in dieser Angelegenheit informiert zu haben. Tatsächlich blieb das Dossier liegen, nachdem sich Bernard Béguin nach seiner Wahl zum Präsidenten der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) von der Leitung des Presserates zurückgezogen hatte, andererseits erst am 19. September wieder eine Plenarsitzung des Presserates stattfand und bis dahin niemand zur Behandlung des Falles beauftragt war. Zur genannten Sitzung am 19. September wurde M. Edlin als Vizepräsident und damit zuständig für die Geschäftsführung des Presserates in der Deutschschweiz die Akten übergeben, und der Presserat folgte einstimmig seinem Antrag auf die im weiteren folgende Beurteilung des ihm von E. unterbreiteten Falles.

C. Die Reaktion des „Tages-Anzeiger” hat nach Publikation des bei Frau E. in Auftrag gegebenen Beitrages „Ich möchte leben, aber nicht so” eine ganze Seite mit verschiedenen Leserbriefen als Reaktion auf diesen Artikel veröffentlicht. Da diese Leserbriefe nach Ansicht von E. „persönlichkeitsverletzende Vorwürfe” enthielten, bat sie den „Tages-Anzeiger” um Publikation einer Gegendarstellung, was ebenso wie die Aufnahme einer „Replik” ihrerseits auf der Leserbriefseite abgelehnt wurde. Diese Ablehnung begründete Toni Lienhard, Mitglied der Redaktionsleitung des „Tages-Anzeiger”, damit, dass A.E. in ihrem Beitrag bereits ausführlich zu Wort gekommen sei und nun nur weitgehend Argumente wiederholen würde, die sie schon in ihrem Artikel aufgeführt habe (Schreiben des „Tages-Anzeiger” vom 21. Januar 1991). Mit dieser Beurteilung zeigt sich A.E. nicht einverstanden. In ihrer Eingabe an den Presserat fragt sie an,

– ob persönlichkeitsverletzende Vorwürfe in Leserbriefen ein Recht auf Gegendarstellung begründen, in welcher die angegriffenen Person diese Vorwürfe entkräften kann;

– ob die Tatsache, dass die Redaktion durch Änderungen und Streichungen Ton und Inhalt des Artikels verschärft hat, ein Recht auf Gegendarstellung begründet;

– ob die Begründung der Redaktion des „Tages-Anzeigers” für die Ablehnung der Gegendarstellung beziehungsweise ihrer Duplik stichhaltig sei.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hält fest, dass er in Wahrung seiner Aufgabe, über die Einhaltung der „Erklärung der Rechte und Pflichten des Journalisten” zu wachen, nicht die Begründung der Ablehnung einer Gegendarstellung rechtlich würdigen kann (das wäre die Aufgabe des Richters); er vermag jedoch der Ansicht des „Tages-Anzeigers” zu folgen, dass die „Gegendarstellung” von A.E. nicht, wie es das Gesetz verlangt, ausschließlich Tatsachendarstellungen beschlägt, sondern Meinungsäusserungen und Wertungen. Übrigens: Nicht Persönlichkeitsverletzung begründet den Anspruch auf Gegendarstellung, sondern bereits Betroffenheit, allerdings wie gesagt, bezüglich Tatsachen und nicht Meinungen; ehrverletzende Äusserungen in der Presse können natürlich Gegenstand einer gerichtlichen Straf- oder Zivilklage sein.

2. Die von der Redaktion des „Tages-Anzeigers” vorgenommenen Änderungen im Text des Artikels – Änderungen, die Frau E. subjektiv verständlicherweise als „Verschärfung” des Inhaltes bewertet – liegen im Rahmen einer redaktionellen Bearbeitung eines Textes, über die den Autoren/die Autorin vorgängig zu informieren zwar möglich, aber sicherlich nicht durch eine Pflicht des Journalisten zwingend vorgeschrieben ist. Auch hier lässt sich der Anspruch auf „Gegendarstellung” (ob im rechtlichen oder im Sinn der von der Redaktion einzuräumenden Möglichkeit der „Erwiderung”) nicht oder nur schwerlich begründen.

3. Die den Presserat beschäftigende Frage ist also, ob die Ablehnung der Veröffentlichung der Duplik von Frau E. auf der Leserbriefseite durch die Redaktion des „Tages-Anzeiger” eine Verletzung der „Pflichten des Journalisten” darstellt, wo es heisst: „Er berichtigt jede von ihm veröffentlichte Meldung, deren materieller Inhalt sich ganz, oder teilweise als falsch erweist”. Ohne nun erneut zu beurteilen, ob der Inhalt sowohl der Leserbriefe (im Sinn von „Meldungen”) wie auch der Entgegnung von Frau E. nun „materieller” oder eben „meinungsäussernder” Art ist (und damit auch, ob Anspruch auf Gegendarstellung besteht beziehungsweise die Veröffentlichung eine Duplik in Form eines Leserbriefes als angebracht erscheinen würde), muss festgehalten werden, dass Leserbriefseiten dem sonst geltenden redaktionellen Verantwortungsbereich entzogen sind, ohne allerdings die zivil- und strafrechtliche Verantwortung der Redaktion auszuschliessen. Sinngemäss sind Leserbriefseiten ein „freies Tummelfeld” für Meinungen und Ansichten aus dem Leserkreis, Äusserungen, bei denen per Definitionen keine journalistischen Kriterien, schon gar nicht berufsethische, gelten können. Die Berufsethik des Journalisten besteht sogar darin, diesem Meinungsäusserungs-Forum möglichst wenig Grenzen zu setzen, um möglichst viele und unterschiedliche Reaktionen auf einen Artikel publik zu machen.

4. Jede Zeitung sollte allerdings nach Meinung des Presserates „Spielregeln” für die Leserbriefseite aufstellen, die in regelmässigen Abständen publiziert und den Autoren be
kanntgegeben werden, die mit Beiträgen zu Themen beauftragt werden, die absehbar und gewünscht Reaktionen aus der Leserschaft provozieren (wie dies in diesem Fall sicherlich zutrifft). Solche „Spielregeln” müssten auch die Frage der Möglichkeit der Replik/Duplik sowohl des Autors/der Autorin wie von Drittpersonen klar festlegen. Dabei bleibt offen, ob eine Zeitung solche Repliken und Dupliken generell oder unter bestimmten Umständen zulässt oder generell ausschliesst; wichtig ist lediglich die Gleichbehandlung aller. Unangetastet bleibt auch das Recht der Redaktion, über die Veröffentlichung von Leserbriefen in eigener Verantwortung aufgrund der gesetzlichen Kriterien, gegebener Umstände (wie Platzangebot, Form eines Leserbriefs oder Berücksichtigung möglichst vieler divergierender Stellungnahmen) und eben gemäss erstellter „Spielregeln” zu entscheiden beziehungsweise Kürzungen vorzunehmen.

III. Feststellungen

Aus diesen Gründen hält der Presserat fest:

In Berücksichtigung dieser Überlegungen und in Ermangelung einer die „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten” beschlagenden Problemstellung tritt der Presserat nicht materiell beziehungsweise im Sinne eines Entscheides oder einer Stellungnahme (die A.E. in ihrem Schreiben vom 24. Januar auch ausdrücklich für „nicht nötig” halten) auf Ihre Eingabe ein. Er bringt jedoch zum Ausdruck, dass in diesem Fall die Regelung einer Erwiderung auf Leserbriefe der Autorin des die Reaktionen auslösenden Beitrages nicht von vornherein klar war und die zuständige Redaktion des „Tages-Anzeigers” erst anlässlich ihres Begehrens auf Erwiderung (Duplik bezw. Gegendarstellung) die Argumente für die Ablehnung der Publikation nannte. Darin vermag der Presserat eine Unterlassung der „Tages-Anzeiger”-Redaktion zu sehen. Durch Kopie des den Sachverhalt erklärenden Schreibens an A.E. an die Redaktion des „Tages-Anzeigers” und durch Aufnahme dieses Schreibens in die Sammlung der Stellungnahmen und Entscheide des Presserates macht er die hier betroffenen Redaktion und alle Zeitungsredaktionen auf die Zweckmässigkeit von klaren Regelungen der Behandlung von Leserbriefen (auch gerade als Erwiderung auf Leserbriefe) aufmerksam, Regelungen, die der Leserschaft einer Zeitung in regelmässigen Abständen, in Fällen von Beiträgen, welche die Diskussion der Leser förmlich suchen, auch den betreffenden Autoren/Autorinnen vorgängig zur Kenntnis gebracht werden sollten.