I. Sachverhalt
A. Dr. Lukas Brühwiler, Präsident der Katholischen Volkspartei (KVP) Schweiz, erhob mit Schreiben vom 9. Juni 2000 beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die „Thurgauer Volkszeitung“ in Frauenfeld, das „Thurgauer Tagblatt“ in Weinfelden und den „Thurgauer Volksfreund“ in Kreuzlingen („Tagesspiegel“-Zeitungen). Er warf ihnen vor, die KVP Thurgau im Abstimmungskampf über die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) praktisch boykottiert und falsch dargestellt und damit die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 3 (Quellenbezug; keine Unterschlagung wichtiger Informationselemente) des berufsethischen Kodex verletzt zu haben.
B. In einer Anschlussbeschwerde vom 7. August 2000 beschuldigte Dr. Lukas Brühwiler die „Tagesspiegel“-Zeitungen, die KVP Thurgau seit der Abstimmung über die bilateralen Abkommen (21. Mai 2000) vollständig und in jeder Hinsicht zu boykottieren.
C. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Roger Blum als Präsident sowie Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli, Silvana Ianetta, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina als Mitglieder angehören. Es beschloss zudem, entsprechend dem Antrag des Beschwerdeführers die Anschlussbeschwerde zusammen mit der ursprünglichen Beschwerde zu behandeln.
D. Mit Schreiben vom 27. Juli 2000 und vom 30. August 2000 nahm die Redaktion der „Tagesspiegel“-Zeitungen zu den beiden Beschwerden Stellung und beantragte, sie als unbegründet vollumfänglich anzuweisen. Die KVP argumentiere gerade gegenüber der Europäischen Union derart verleumderisch, unwahr, demagogisch und nicht belegbar, dass die Redaktion verantwortungsvoll handle, wenn sie solche Behauptungen nicht veröffentliche. Zudem wolle die Redaktion nur Stellungnahmen publizieren, mit deren Inhalt sie einverstanden sei und die sie verantworten könne.
II. Erwägungen
1. Es gehört ohne jeden Zweifel zur Aufgabe von aktuellen und politischen Medien, das politische Leben zu spiegeln. Dabei können kleine, in den politischen Gremien nicht oder nur marginal vertretene Parteien und Gruppierungen nicht ausgeklammert werden. Diese besitzen aber umgekehrt genau so wenig wie grosse Formationen einen Anspruch auf die Veröffentlichung ihrer Verlautbarungen. Es ist im Gegenteil in jedem Einzelfall Sache der Redaktion zu entscheiden, ob ein politischer Positionsbezug für das Publikum relevant und interessant ist. Es versteht sich von selbst, dass dabei grosse Parteien, Verbände und Organisationen, die in der Bevölkerung einen stärkeren Rückhalt haben und ihre Vorstellungen auch eher durchsetzen können, häufiger zum Zug kommen als kleine (vgl. die Stellungnahme i.S. Brühwiler / KVP des Kantons Thurgau c. „St. Galler Tagblatt“ / „Bodensee Tagblatt“ vom 1. Oktober 1999, Sammlung 1999, S. 145 mit weiteren Hinweisen).
2. Der Beschwerdeführer wirft den „Tagesspiegel“-Zeitungen vor, sie hätten die Katholische Volkspartei des Kantons Thurgau vor der Abstimmung über die bilateralen Verträge (21. Mai) weitgehend und seither vollständig boykottiert. Bei der Überprüfung der Frage, ob der Boykottvorwurf zutrifft, ob die allfällige Publikationsverweigerung begründet oder unbegründet ist und ob die KVP auch sonst auf schwerwiegende Weise ungerecht behandelt wurde, muss unterschieden werden zwischen (a) Medienmitteilungen der KVP im Zusammenhang mit Volksabstimmungen, (b) Veranstaltungsankündigungen der KVP, (c) Berichterstattungen über Veranstaltungen der KVP (d) Eigenleistungen der Medien und (e) Medienmitteilungen der KVP über andere politische Themen.
3. Gemäss den dem Presserat zur Verfügung gestellten Unterlagen äusserte sich die KVP Thurgau in den Monaten Februar bis Mai 2000 in Medienmitteilungen zweimal zu den Abstimmungen vom 12. März und dreimal zu den bilateralen Verträgen. Zum Abstimmungspaket vom 12. März verbreitete die KVP im Vorfeld einen Kommentar zur Beschleunigungsintiative und zur Fortpflanzungsinitiative und im Nachgang einen Kommentar zum Resultat. Die „Tagesspiegel“-Zeitungen veröffentlichten die erste Stellungnahme nicht, wohl aber die zweite, was völlig in ihrer redaktionellen Freiheit lag. Zu den Bilateralen meldete sich die KVP anfangs Februar zu Wort mit einer Stellungnahme unter dem Titel „Schweiz würde erpressbar“, Mitte Mai mit der Bekanntgabe der Parole und nach der Abstimmung mit einem Kommentar zum Ergebnis. Die Tagesspiegel-Zeitungen veröffentlichten die erste Mitteilung, nicht aber die beiden andern. Es ist das gute Recht einer Redaktion, nach der Volksabstimmung keine oder nur wenige ausgewählte Parteikommentare wiederzugeben. Es steht der Redaktion auch frei, bei der Publikation von Partei- und Verbandsparolen selektiv zu sein. Doch angesichts der Tatsache, dass sich die KVP im Thurgau kontinuierlich bemerkbar macht, wäre es im Sinne der Transparenz wünschbar gewesen, auch die Parole der KVP in einer kurzen Notiz mitzuteilen.
4. Am 27. April 2000 verbreitete die KVP Thurgau eine Medienmitteilung, in der sie auf den 3. Mai 2000 eine Veranstaltung zu den bilateralen Veträgen mit einem Vortrag von Dr.Lukas Brühwiler, Präsident der KVP der Schweiz, ankündigte. Die „Tagesspiegel“-Zeitungen veröffentlichten dieses Communiqué mit gutem Grund nicht. Zwar ist es Medien unbenommen, in eigenen Rubriken (Ausgeh-Magazinen grosser Tageszeitungen, Veranstaltungskalender im redaktionellen Teil von Printmedien, Hinweise im Radio) auf Veranstaltungen hinzuweisen. Aber eine Verpflichtung besteht keineswegs. Politische Organisationen laden zu ihren Anlässen vielmehr in der Regel brieflich, mit Streusendungen, eigenen Publikationen, Flugblättern, Kleinplakaten und/oder in Inseraten ein. Es ist nicht die Aufgabe der aktuellen Medien, den Parteien das Veranstaltungs-Marketing abzunehmen.
5. Mit der Einladung an die Medien, über die Veranstaltung vom 3. Mai 2000 zu berichten, offerierte die KVP Thurgau gleich einen Journalisten, der bereit sei, die Berichterstattung zu übernehmen. „Falls Sie ihm den Auftrag für die Berichterstattung erteilen möchten, erwartet er gerne Ihren Anruf (…)“, hiess es in der Einladung. Eine solche Offerte erweckt leicht den Verdacht, dass der betreffende Berichterstatter nicht unbefangen ans Werk gehen wird. Die „Tagesspiegel“-Zeitungen, die dem freien Journalisten keinen Auftrag erteilten, aber den Bericht unaufgefordert zugestellt erhielten, druckten ihn im Unterschied zur „Thurgauer Zeitung“ nicht. Völlig zu Recht: Denn erstens ist eine Redaktion nicht verpflichtet, über Veranstaltungen vor Abstimmungen und Wahlen lückenlos zu berichten. Zweitens ist eine Berichterstattung nur sinnvoll, wenn Gewähr dafür besteht, dass sie unbefangen, redlich und kritisch erfolgt.
6. Am 12. Mai 2000 gab die Redaktion der „Tagesspiegel“-Zeitungen einen Überblick über die Position von Wirtschaft, Gewerkschaften und Bauern im Thurgau zu den bilateralen Verträgen. Bei dieser Gelegenheit ging sie auch auf die wirtschaftlichen Argumente der Gegner ein, „die sich primär aus den Rechtsparteien FP, SD, KVP und EDU rekrutieren“, und bezeichnete deren Aussagen als „eher diffus“. Der Beschwerdeführer taxiert diese Bewertung als unfair, diffamierend und unwahr, weil sie der KVP Argumente unterschiebe, die sie nie vorgebracht habe. In der Tat beleuchtete Redaktor Marc Haltiner in dem kurzen Abschnitt jene Argumente der Gegner, die sich im wirtschaftlichen Bereich ansiedelten. Diese stammten nicht von der KVP. Haltiner sagte allerdings nichs Unwahres: Es traf zu, dass Gegner der Bilateralen so argumentierten. Und es stimmte, dass die KVP zu den Gegnern gehörte. Lediglich der Eindruck, dass die KVP exakt diese Argumentation mittrug, war nicht korrekt. Die Redaktion hat insofern nicht genügend differenziert. Da es sich aber letztlich um eine Lappalie handelt, hat sie damit die „Erklärung der
Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ nicht verletzt.
7. In der Anschlussbeschwerde geht der Beschwerdeführer auf den Vorwurf ein, Medienmitteilungen der KVP Thurgau zu politischen Fragen ausserhalb von Volksabstimmungen würden in den „Tagesspiegel“-Zeitungen nicht publiziert, und dies konsequent seit der Abstimmung über die bilateralen Verträge. Aufgrund der dem Presserat zur Verfügung stehenden Unterlagen veröffentlichte die KVP Thurgau zwischen dem 1. Juni und dem 1. August 2000 vier Medienmitteilungen zu solchen Themen – zur Beschwerde beim Presserat, zu einer Vielfalt aktueller Thurgauer Themen, zur Familienpolitik und zum 1. August. Die Tagesspiegel-Zeitungen veröffentlichten keine dieser Mitteilungen. Liegt demnach ein Boykott vor? Davon kann im Ernst keine Rede sein:
– Ein Medium ist nicht gehalten, dem Publikum mitzuteilen, dass eine Beschwerde gegen dieses Medium beim Presserat eingereicht worden sei. Es ist indessen aufgefordert, später den Entscheid des Presserates öffentlich zu machen. Die Tagesspiegel-Zeitungen haben völlig korrekt gehandelt, dass sie nicht bereits die Ankündigung des Presseratsverfahrens publizierten (Communiqué vom 24. Juni).
– Es kann einem Medium nicht zugemutet werden, eine Stellungnahme von neun Seiten Umfang und mit rund einem Dutzend verschiedenen Themen zu veröffentlichen (Communiqué vom 17. Juli). Parteien, die sich in einer Medienmitteilung nicht auf ein Thema beschränken und sich nicht kurz fassen, sind selber schuld, wenn sie nicht abgedruckt werden.
– Ein Medium muss die Stellungnahme der KVP zur Familienpolitik nicht tel quel öffentlich machen, sondern kann sie zu den Akten legen, um im geeigneten Moment und im Zusammenhang darauf zurückzukommen (Communiqué vom 25. Juli).
– Ein Medium ist nicht verpflichtet, eine Philippika der KVP zum Bundesfeiertag zu drucken (Communiqué vom 1. August).
Allerdings argumentiert die Redaktion der „Tagesspiegel“-Zeitungen auf unsicherem Boden, wenn sie erklärt, dass sie nur Stellungnahmen veröffentlicht, mit denen sie einverstanden sei und die sie verantworten könne. Dies könnte sie zwar tun, aber dann müsste sie konsequent sein. Denn sie veröffentlicht beispielsweise sowohl Stellungnahmen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) als auch der Sozialdemokratischen Partei (SP). Es ist eher unwahrscheinlich, dass sie jeweils mit beiden Parteien einverstanden ist. Wenn sie demnach dieses Prinzip bei den grossen Parteien nicht anwendet, dann darf sie es auch bei den kleinen nicht tun. Hingegen steht es ihr frei, Stellungnahmen abzulehnen, weil sie zu lang, zu spät, zu agressiv oder zu unwichtig sind. Und sie hat das Recht, Stellungnahmen abzulehnen, deren Inhalt offensichtlich unwahr ist.
8. Keine Person und keine Organisation kann daher ein Medium auf einer Veröffentlichungspflicht behaften. Der Publikationsentscheid liegt einzig und allein bei der Redaktion. Erst recht kann sie die Veröffentlichung verweigern, wenn völlig abwegige und haltlose Behauptungen aufgestellt werden. Die Redaktion der „Tagesspiegel“-Zeitungen weigerte sich mit gutem Grund, den von der KVP Thurgau und insbesondere Präsident Dr. Lukas Brühwiler gegenüber der EU erhobenen Vorwurf des Eurofaschismus und zugleich einer Ausrichtung nach dem Marxismus-Leninismus zu verbreiten, da sie ihn fragwürdig, unhaltbar und nicht belegbar fand. Journalistinnen und Journalisten sind verpflichtet, sich an die Wahrheit zu halten. Dies bedeutet gleichzeitig, dass sie nicht verpflichtet sind, Unwahrheiten zu veröffentlichen.
9. Der berufsethische Kodex fordert die Medien gleichzeitig auf, den gesellschaftlich notwendigen Diskurs zu sichern. Dies könnte bedeuten, dass just solche Behauptungen wie die der KVP und von Dr. Lukas Brühwiler explizit öffentlich gemacht werden, um sie zu kommentieren und in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Denn der Beschwerdeführer führt zum Beweis seiner Behauptungen eine grosse Zahl von Nummern der Zeitschriften „Zeit-Fragen“, „Abendland“ und „Bürger und Christ“ an, die im nationalkonservativ-reaktionären Lager angesiedelt sind und in denen beispielswweise der bekannte sowjentische Dissident Wladimir Bukowsky den „Totalitarismus der EU“ auf die gleiche Ebene stellt wie den Totalitarismus der Sowjetunion und in der EU einen intellektuellen Gulag konstatiert. Solche Vergleiche rufen geradezu nach einer journalistisch moderierten Klarstellung, bei der die Unterschiede zwischen Faschismus, Marxismus-Leninismus und Europäischer Union herausgearbeitet werden. Die „Tagesspiegel“-Zeitungen hätten daher auch zeigen können,
– dass Faschismus eine klar definierte Ideologie mit antiliberalen, antiparlamenarischen, antikommunistischen und meist auch antisemitischen Komponenten ist, der auf eine nationalistische Politik, eine autoritäre und korporatistische Ordnung und auf eine uniformierte Gesellschaft schwört und dessen Denken militaristisch ist;
– dass demgegenüber die Europäische Union zwar noch über kein starkes Parlament mit einer ihm verantwortlichen und stürzbaren Regierung verfügt, aber alle Mitgliedsländer ausgebaute Demokratien sind und dass sich die EU zusammen mit dem Europarat massgeblich um die Verankerung und Durchsetzung der Grundrechte verdient gemacht hat;
– dass Marxismus-Leninismus wiederum eine Ideologie mit antikapitalistischen, antirepräsentativen und antiliberalen Komponenten ist, die auf die „Diktatur des Proletariats“ hinarbeitet und den Staat und die Gesellschaft nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert und an die Stelle des Privateigentums das gesellschaftliche Eigentum setzt;
– dass hingegen die Europäische Union nach dem kapitalistischen Wirtschaftssystem funktioniert, auf demokratisch verfassten Ländern mit repräsentativen Regierungen basiert und sich gerade darum Richtung Osten erweitert, weil sich die dortigen Länder vom Marxismus-Leninismus losgesagt haben.
III. Feststellungen
1. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die „Tagesspiegel“-Zeitungen („Thurgauer Volkszeitung“, „Thurgauer Tagblatt“ und „Thurgauer Volksfreund“) die Katholische Volkspartei Thurgau boykottieren.
2. Dadurch, dass die „Tagesspiegel“-Zeitungen diverse Medienmitteilungen der Katholischen Volkspartei Thurgau nicht veröffentlichten, haben sie die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ nicht verletzt. Die Beschwerde wird daher abgewiesen.
3. Es wäre lediglich wünschbar gewesen, dass die Tagesspiegel-Zeitungen die Parole der Katholischen Volkspartei Thurgau zu den bilateralen Abkommen im Sinne der Transparenz und der Fairness kurz mitgeteilt hätten.
4. Stellt ein öffentlicher Akteur unhaltbare Behauptungen auf, so handelt ein Medium legitim, wenn es sich weigert, sie weiterzuverbreiten. Es würde aber auch zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen, wenn es sie öffentlich machte und kommentierend einordnete.