Nr. 46/2002
Anonyme Anschuldigung / Namensnennung

(X. c. «Handels-Zeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 10. Juli 2002

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I. Sachverhalt

A. Am 20. März 2002 veröffentlichte die «HandelsZeitung» unter dem Titel «Clearingstelle Schweiz» einen Artikel im Zusammenhang mit einer Spenden- bzw. Schmiergeldaffäre um die Kölner SPD. Der Autor Frank Seidlitz stellte darin fest, dass die Schweiz viel stärker als bisher bekannt in die Aktivitäten eines europäischen Müllkartells und somit auch in die Korruptionsskandale um Müllverbrennungsanlagen in Deutschland verwickelt gewesen sei. Der Artikel geht darauf ein, welche Firmen in die Korruptionsskandale verwickelt gewesen seien und wie dabei vorgegangen worden sei.

Gemäss den Ergebnissen der Kölner Ermittlungskommission, so der Artikel, sollen die involvierten Firmen nie direkt Schmiergelder bezahlt, sondern diese über Transfer- und Clearingstellen «gewaschen» haben. «Schweizer Beratungsfirmen haben Scheinrechnungen ohne Gegenleistung ausgestellt. Das Geld floss dann in die Schweiz und wurde teilweise weitergereicht.» Im Verdacht, eine solche Clearingstelle zu sein, stand laut Artikel unter anderem die deutsche Firma T., «deren Firmenchef im Mittelpunkt des Skandals im nördlichen Nachbarland steht». Im letzten Abschnitt des Artikels war dann zu lesen: «Im weiteren sitzt im Verwaltungsrat von T. Schweiz der umtriebige Zürcher Anwalt X. Selbst am Firmensitz in Deutschland weiss man nicht, welchen Bezug der Wirtschaftsanwalt, den derzeit noch ein Berufungsverfahren wegen angeblicher Urkundenfälschung beschäftigt, zum mittelständischen Unternehmen hat. Die Kölner Ermittler haben nun Voruntersuchungen gegen X. aufgenommen. Ihr Verdacht: Über ihn und seine Firmen sollen Schmiergelder geflossen sein. Handfeste Beweise gibt es allerdings nicht. X. selbst wollte sich zu den Anschuldigungen nicht äussern.»

B. Am 27. März 2002 veröffentlichte die «HandelsZeitung» eine Gegendarstellung, worin der Rechtsvertreter von X. festhielt, dass «X. weder direkt noch indirekt an den angeblichen Zahlungen im Zusammenhang mit Ðschwarzen Kassenð für Parteispenden und Schmiergelder beteiligt war. Richtig ist zudem, dass X. im genannten Komplex anwaltlich tätig geworden und dafür honoriert worden ist. Die im Artikel genannte T. Schweiz AG, in deren Verwaltungsrat X. Einsitz nahm, wurde im September 2001 gegründet und hat mit den zur Diskussion stehenden Sachverhalten nicht das Geringste zu tun.» Das im Artikel erwähnte Verfahren wegen angeblicher Urkundenfälschung – bei dem das Zürcher Kassationsgericht kürzlich ein Urteil des Zürcher Obergerichts aus dem Jahr 2000 aufgehoben habe – habe mit dem Gegenstand des Artikels der «HandelsZeitung» überhaupt nichts zu tun. Seitens der Redaktion wurde, so ein der Gegendarstellung angefügter Satz, an der Darstellung festgehalten.

C. Am 13. Mai 2002 machte der anwaltlich vertretene X. in einer Beschwerde an den Presserat geltend, die «HandelsZeitung» habe mit dem letzten Abschnitt des Artikels «Clearingstelle Schweiz» in der Ausgabe vom 20. März 2002 gegen die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 7 (Respektierung der Privatsphäre, Unterlassen anonymer Anschuldigungen, Namensnennung) sowie die Anhörungspflicht (Fairness-Grundsatz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen. Mit der Relativierung der Gegendarstellung durch den Satz, die Redaktion halte an ihrer Darstellung fest, habe die «HandelsZeitung» zudem das Fairness-Prinzip sowie die Ziffern 1 und 7 der Erklärung verletzt.

Im Einzelnen wirft der Beschwerdeführer folgende medienethische Fragen auf: «a) Durfte die anonyme Anschuldigung überhaupt verbreitet werden?»; «b) Durfte der Name von Dr. X. im Zusammenhang mit einer anonymen Anschuldigung genannt werden?»; «c) Durfte die Redaktion die Gegendarstellung zu einer anonymen Anschuldigung mit dem Zusatz ÐDie Redaktion hält an ihrer Darstellung festð publizieren, nachdem sie bereits im beanstandeten ersten Bericht festgestellt hatte: ÐHandfeste Beweise gibt es allerdings nicht?ð»; «d) Durfte die ÐHandelsZeitungð den folgenden Satz publizieren: ÐX. selbst wollte sich zu den Anschuldigungen nicht äussernð, nachdem der Beschwerdeführer weder von der ÐHandelsZeitungð kontaktiert worden war, noch irgendwelche Äusserungen gegenüber Dritten gemacht hat, er wolle sich zur Angelegenheit nicht äussern?»

D. Mit Schreiben vom 13. Juni 2002 beantragte Dr. Kurt Speck, Chefredaktor der «HandelsZeitung», die Beschwerde sei abzuweisen. Die «HandelsZeitung» sei ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht vollumfänglich nachgekommen. Zu den vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Fragen nahm er wie folgt Stellung: a) Redaktionsmitarbeiter Frank Seidlitz habe die ihm seit länger bekannte, zuverlässige Quelle (ein Mitglied einer polizeilichen Sonderkommission der Kölner Kriminalpolizei) überprüft. Diese hätte im Falle ihrer Offenlegung mit erheblichen Nachteilen rechnen müssen. b) Die Namensnennung von X. sei nötig gewesen, um eine Verwechslung mit dem Zürcher Rechtsanwalt Y. auszuschliessen. Die «HandelsZeitung» habe zudem nicht als erste über den Fall berichtet. Der Name von X. sei schon andernorts genannt worden. c) Mit dem redaktionellen Nachsatz unter der Gegendarstellung habe die «HandelsZeitung» zum Ausdruck gebracht, dass die gemachten Angaben sorgfältig recherchiert worden seien. Er sei vom Gegendarstellungsrecht her zulässig. d) Der Autor Frank Seidlitz habe X. wiederholt in dessen Büro telefonisch zu erreichen versucht, um ihn mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Dessen Sekretärin habe ihm schliesslich mitgeteilt, dass sich X. nicht zu den Vorwürfen äussern wolle.

E. Mit Schreiben vom 27. Juni 2002 machte der Beschwerdeführer geltend, die Kölner Polizei habe keine Voruntersuchung geführt. Eine solche sei offenbar lediglich von einem Teil einer Sonderkommission erwogen wurde. Der Anfangsverdacht, der zu den erwähnten Ermittlungen führte, habe sich offenbar nicht bestätigt. Bis heute sei kein offizielles Verfahren gegen X. eröffnet worden. Zudem bestreite das Sekretariat von X. die Darstellung des Autors des Artikels betreffend der behaupteten Telefonanrufe. Um die Sache klar zu stellen, sei allenfalls ein Auszug der Swisscom zu verlangen.

F. Mit Schreiben vom 12. Juli 2002 hielt die «Handels-Zeitung» ihrerseits an der bisherigen Darstellung der Fakten fest.

G. Das Presseratspräsidium übertrug die Beschwerde zur Behandlung an die 1. Kammer, die sich wie folgt zusammensetzt: Peter Studer (Kammerpräsident), Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli Mazza, Silvana Iannetta, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 10. Juli 2002 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Ziffer 7 der Erklärung verpflichtet die Medienschaffenden, die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Ebenso haben sie anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen. Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» verlangt, das Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen noch andere Angaben veröffentlichen, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden. Ausnahmen sind unter anderem dann zulässig, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist, so z.B. wenn eine Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist (diese Ausnahme ist laut der genannten Richtlinie mit Zurückhaltung anzuwenden und setzt voraus, dass die vorgeworfenen Handlungen im Zusammenhang mit der Bekanntheit stehen) oder wenn die Namensnennung notwendig ist, um eine für Dritte nachteilige Verwechslung zu vermeiden.

b) Der vorliegende Fall steht im Zusammenhang mit dem Schmiergeldskandal um die
Kölner SPD, in den auch Treuhänder und Beraterfirmen aus der Schweiz verwickelt sind. Sie operierten offenbar als Clearingstellen, um die Schmiergelder reinzuwaschen und an die Adressaten auszuhändigen. Das öffentliche Interesse ist deshalb auch in der Schweiz gross, zu erfahren, wer in diesen Skandal verwickelt ist. Personen, die möglicherweise als Hintermänner agierten, werden zu Personen der Zeitgeschichte. Dies trifft zweifellos auch auf X. zu.

c) Der Beschwerdeführer führt dazu jedoch an, dass «selbst wenn man Dr. X. als Person der Zeitgeschichte betrachten würde, müsste er sich als Rechtsanwalt nicht gefallen lassen, in dieser Phase eines Verfahrens (dessen Einleitung bestritten wird) mit Name genannt zu werden». In der Stellungnahme 6/99 i.S. X. c «Blick»/«SonntagsZeitung» vom 10. März 1999 hat der Presserat festgestellt, dass die Namensnennung einer Person – ein öffentliches Interesse vorausgesetzt – auch dann zulässig ist, wenn sich die Untersuchungen erst im Ermittlungsstadium befinden. Vorauszusetzen ist, ein Verdacht sei begründet und die Ermittlungen stehen im Zusammenhang mit der Funktion der betroffenen Person.

d) Erhält ein Journalist vertrauliche Informationen eines Mitglieds einer polizeilichen Sonderkommission betreffend eines erheblichen deliktischen Verdachts gegen eine bekannte Persönlichkeit, darf er grundsätzlich von einem genügend begründeten Verdacht ausgehen, wenn der Verdacht durch die eingesehenen Ermittlungsakten belegt scheint. Dies gilt umso mehr, wenn ein Journalist wie vorliegend den Informanten seit mehreren Jahren als zuverlässig kennt. Vor der identifizierenden Veröffentlichung eines derartigen strafrechtlichen Vorwurfes ist aber in jedem Fall der Betroffene vorgängig zu kontaktieren und ist seine Stellungnahme im Medienbericht wiederzugeben (vgl. unter vielen: Stellungnahme 9/97 i.S. J. c. «Anzeiger von Uster»). Da es sich bei X. um einen in der Medienöffentlichkeit bekannten Wirtschaftsanwalt handelt, ist auch der Zusammenhang zu seiner Funktion gegeben. Die Namensnennung des Betroffenen war deshalb zulässig. Dies ungeachtet dessen, ob bei einer anonymisierten Berichterstattung zudem eine Verwechslungsgefahr mit einem anderen bekannten Anwalt bestand, über den zeitgleich in den Medien im Zusammenhang mit dem Abfallskandal berichtet wurde.

2. Bezüglich der Frage der Anhörung muss sich der Presserat jedoch ebenso wie bei der vom Beschwerdeführer gerügten Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1) mit der Feststellung begnügen, dass sich die Sachverhaltsdarstellung der Parteien diametral widerspricht. Während die Beschwerdegegnerin darlegt, dass sie versuchte X. zu kontaktieren und mit den Vorwürfen zu konfrontieren, verneint der Beschwerdeführer jegliche Anrufe des «HandelsZeitung»-Journalisten auf seinem Sekretariat. Es ist nicht Sache des Presserates, zu versuchen, hier die «Wahrheit» durch Zeugeneinvernahme oder Einfordern anderweitiger Beweismittel herauszufinden zu versuchen, weshalb offen bleiben muss, ob die «HandelsZeitung» der Anhörungspflicht Genüge getan hat oder nicht.

3. Ziffer 7 der «Erklärung» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen. Medien sind umkehrt aber grundsätzlich berechtigt, Informationen zu veröffentlichen, die ihnen durch Indiskretionen bekanntgeworden sind, falls ihnen unter anderem die Informationsquelle bekannt ist und das Thema von öffentlicher Relevanz ist (Richtlinie A1 zur «Erklärung der Rechte»). Schliesslich dürfen Medienschaffende gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» die Quellen vertraulicher Informationen nicht preisgeben. Die Grenze zwischen der zulässigen Veröffentlichung vertraulicher Informationen und der verpönten Publikation anonymer Anschuldigungen ist allerdings dann überschritten, wenn Medienschaffende eine auch für sie unüberprüfbare Information eines unbekannten Dritten weiterverbreiten (Stellungnahme 5/97 i.S. B. c. «Facts». Vorliegend war wie oben ausgeführt die Quelle dem Journalisten bekannt und erscheint es zudem ohne weiteres gerechtfertigt, dass dem Informanten Anonymität zugesichert wurde, weil dieser andernfalls mit für ihn negativen Folgen rechnen musste. Im Ergebnis ist deshalb auch die Rüge der Veröffentlichung anonymer Anschuldigungen zurückzuweisen.

4. Der Beschwerdeführer sieht schliesslich eine Verletzung des Fairnessprinzips durch die Veröffentlichung des Zusatzes «Die Redaktion hält an ihrer Darstellung fest» zur in der «Handelszeitung» am 27. März 2002 veröffentlichten Gegendarstellung. Abgesehen davon, dass sich die «HandelsZeitung» mit diesem Zusatz im Rahmen des gemäss Art. 28k Abs. 2 ZGB rechtlich Erlaubten bewegt, ist es aus medienethischer Sicht zu begrüssen, wenn die Leserschaft davon Kenntnis nehmen kann, ob die Faktendarstellung zwischen Medienredaktion und Betroffenen wieiterhin umstritten ist oder ob sich die Redaktion zwischenzeitlich der Sichtweise des Gegendarstellers angeschlossen hat.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

2. Erhält ein Journalist vertrauliche Informationen eines Mitglieds einer polizeilichen Sonderkommission zu einem erheblichen deliktischen Verdacht gegen eine bekannte Persönlichkeit, darf er grundsätzlich auf diese Informationen abstellen, wenn der Verdacht durch die eingesehenen Ermittlungsakten belegt scheint. Vor der identifizierenden Veröffentlichung eines derartigen strafrechtlichen Vorwurfes ist aber in jedem Fall der Betroffene vorgängig zu kontaktieren und ist seine Stellungnahme im Medienbericht wiederzugeben.

3. Es liegt im Interesse der Leserschaft, wenn sie davon Kenntnis nehmen kann, ob eine Faktendarstellung zwischen Medienredaktion und Betroffenen weiterhin umstritten ist oder ob sich die Redaktion zwischenzeitlich der Sichtweise des Gegendarstellers angeschlossen hat.