Nr. 50/2003
Wahrheits- und Berichtigungspflicht

(X. c. «Beobachter») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 31. Oktober 2003

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I. Sachverhalt

A. In seiner Ausgabe 15/03 vom 25. Juli 2003 veröffentlichte der «Beobachter» unter dem Titel «Kaufen auf eigene Gefahr» einen Artikel von Maja Bosshart zum Thema Konsumentenschutz. Der Untertitel des Beitrags lautete: «Schweizer Konsumenten sind vor gefährlicher Ware schlechter geschützt als EU-Bürger. Der Bundesrat will die Situation verbessern – mit einer zahnlosen Gesetzesrevision.» Diese These des Artikels wurde im Text mit Statements der Konsumentenschützerin Simonetta Sommaruga, des Genfer Professors für Konsumentenrecht, Bernd Stauder, sowie von Alexander Brunner, Vizepräsident der Eidgenössischen Kommission für Konsumentenfragen belegt.

B. Am 10. August 2003 gelangte X. an den Presserat und rügte, der «Beobachter» habe mit der Veröffentlichung des Artikel vom 25. Juli 2003 das Wahrheitsgebot und die Berichtigungspflicht verletzt. Falsch sei die Kernaussage des Artikels: «Verursacht das Ledersofa Hautausschläge oder hat die Software im Auto einen Programmierungsfehler, haben Schweizer Kunden Pech gehabt. Während in der EU Ðnicht sichereð Produkte von Amts wegen sofort vom Markt genommen werden, existiert hierzulande nur eine Rückrufpflicht für schadhafte Medizinalprodukte wie Herzschrittmacher oder Präservative und für gesundheitsschädliche Lebensmittel (…) Schuld an der gegenwärtigen unbefriedigenden Situation ist die lückenhafte Gesetzgebung.»

Entgegen dieser Darstellung enthalten die schweizerischen Gesetze zur Produktesicherheit laut dem Beschwerdeführer ausnahmslos Regelungen, die es den Aufsichtsbehörden erlaubten, gefährliche Produkte vom Markt zu nehmen. Der «Beobachter» wäre deshalb verpflichtet gewesen, seine unwahre Darstellung durch eine Berichtigung zu korrigieren. «Als Zeitschrift, die sich regelmässig (und in der Regel auch in sehr respektabler Weise) mit Konsumentenanliegen befasst, wäre es dem Beobachter zuzumuten gewesen, z.B. mit ein paar Mausklicks in der Homepage des Bundesamtes für Gesundheit nachzuforschen, wie es mit der Produktesicherheit und mit Rückrufen von Amts wegen wirklich steht.»

C. In einer Stellungnahme vom 28. August 2003 wies der Chefredaktor des «Beobachters», Balz Hosang, den Vorwurf der Verletzung des Wahrheitsgebots zurück. Der Beschwerdeführer erhebe «seine eigenen Ausführungen zur objektiven ÐWahrheitð, obwohl er weiss, dass Bundesstellen und namhafte Experten anderer Meinung sind». Hinter der Auseinandersetzung stünden divergierende Auffassungen zwischen dem Büro für Konsumentenfragen des EVD und des Bundesamts für Justiz, bei dem der Beschwerdeführer als Chef einer Abteilung für Rechtssetzung tätig sei. Nach längerem hin und her – der Beschwerdeführer bzw. das Bundesamt für Justiz hätten zuerst eine «Richtigstellung» gefordert – sei in der Ausgabe vom 22. August 2003 eine Stellungnahme des Bundesamts für Justiz erschienen, was dem Beschwerdeführer bereits am 5. August 2003 mitgeteilt worden sei. Mit dem Abdruck der Stellungnahme «ist – unabhängig von der ÐWahrheitsfrageð – mindestens die Argumentationsbreite publizistisch hergestellt».

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 3. September 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt.

F. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer und den Vizepräsidenten Daniel Cornu und Esther Diener-Morscher hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Oktober 2003 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Auf die vom «Beobachter» angeführte Auseinandersetzung hinter der Beschwerde kann der Presserat nicht eingehen. Er muss – soweit für ihn möglich – zunächst prüfen, ob die im beanstandeten «Beobachter»-Artikel vom 25. Juli 2003 enthaltene wertende Aussage, in der Schweiz gebe es im Gegensatz zur EU keine umfassende, sondern nur eine punktuelle Rückrufspflicht für schadhafte Produkte, der «Wahrheit» entspricht. Sodann beantwortet er die Frage, ob gegebenenfalls eine Berichtigung angebracht gewesen wäre.

2. Gemäss Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» haben sich Medienschaffende «an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich darauf für sie ergebenden Folgen» zu halten; sie «lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Etwas weniger pathetisch konkretisiert die Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» (Wahrheitssuche): «Die Wahrheitssuche stellt den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit dar. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus. Diese Aspekte werden nachfolgend unter den Ziffern 3, 4 und 5 der ÐErklärung der Pflichtenð behandelt.»

Im Zusammenhang mit der Beschwerde ist unter dem Gesichtspunkt von Ziffer 3 der «Erklärung» insbesondere zu prüfen, welcher Mindestrechercheaufwand vom «Beobachter» bei einem derartigen Beitrag berufsethisch gefordert ist. Schliesslich besteht der unmittelbare Zusammenhang zwischen Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung» darin, dass eine Berichtigung unverzüglich zu veröffentlichen ist, sobald eine Redaktion von der Unrichtigkeit einer Meldung Kenntnis erhält. Steht für die betroffene Redaktion jedoch nicht oder nicht mit genügender Sicherheit fest, dass sie eine Falschmeldung veröffentlicht hat, kann ihr aus der Unterlassung einer Berichtigung kein Vorwurf gemacht werden.

3. a) Bezüglich der Wahrheitspflicht hat der Presserat in der Stellungnahme 32/2001 i.S. A. c. NZZ-Folio ausgeführt: «Es ist nicht Aufgabe des Presserates, heikle wissens- und gesellschaftspolitische Kontroversen nach dem Wahrheitskriterium zu bearbeiten. Zudem kann an die ÐWissenschaftlichkeitð aktueller Medien nicht ein allzuhoher Anspruch gestellt werden. Der berufsethische Kodex verlangt keine Ðobjektive Berichterstattungð, sondern lässt erkennbar einseitige und fragmentarische Standpunkte zu.» Der Presserat hat zudem immer wieder darauf hingewiesen, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehören kann, in einem Medienbericht enthaltene, zwischen den Parteien umstrittene Faktenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Der Presserat ist nicht in der Lage, ein umfangreiches Beweisverfahren zur Klärung komplexer Sachverhalte durchzuführen (Stellungnahme 21/2003 i.S. X. / Gemeinde Vorderthal c. «Facts»).

b) Vorliegend stehen sich zwei Auffassungen gegenüber: Jene des Beschwerdeführers, die wertende Hauptthese des Artikels (Schweizer sind vor fehlerhaften Produkten schlechter geschützt als EU-Bürger) sei unhaltbar, weil die ihr zugrundeliegenden Fakten unwahr seien. Und jene des «Beobachters», er sei trotz Zusatzrecherchen bis anhin nicht in der Lage zu beurteilen, welcher der divergierenden Standpunkte der «Wahrheit» entspreche.

c) Der Presserat sieht sich angesichts der den unterschiedlichen Parteistandpunkten zugrundeliegenden abweichenden (Experten-)Interpretationen der geltenden konsumentenschutzrechtlichen Bestimmungen (im weitesten Sinne) und der daraus gezogenen rechtspolitischen Schlussfolgerungen ebensowenig wie die Beschwerdegegnerin in der Lage, sich verbindlich zur Hauptfrage zu äussern: Erlaubt das geltende Recht bei fehlerhaften Produkten lediglich punktuell einen Rückruf von gefährlichen Produkten? Oder gewährleistet – wie vom Beschwerdeführer behauptet – bereits die heutige Gesetzgebung den flächendeckenden Rückruf von gefährlichen Produkten?

Aus den vorliegenden
rudimentären Akten (die Parteien haben darauf verzichtet, ihre Vorkorrespondenz von sich aus einzureichen) wird zumindest ersichtlich, dass die im «Beobachter»-Artikel erwähnten Experten offenbar die Auffassung vertreten, dass «die Pflicht zum Rückruf (…) heute nur für Medizinprodukte (bspw. Herzschrittmacher, Produkte etc. ) ausdrücklich geregelt» sei. «Eine allgemeine Pflicht zum Rückruf besteht in der Schweiz jedoch nicht.» (Vortrag «Begründung zum Experten-Entwurf für ein Konsumentenschutzgesetz» von Alexander Brunner, gehalten an einer SP-Medienkonferenz zu «Notwendigen Verbesserungen für den Konsumentenschutz» am 13. Juni 2003 in Bern).

Offenbar entzündet sich der Streit an den beiden unterschiedlichen Positionen: Gewährleistet die vom Beschwerdeführer behauptete generelle Möglichkeit eines durch die Aufsichtsbehörden veranlassten Rückrufs den Schutz der Konsumenten genügend? Oder sind die Hersteller – wie offenbar in der EU geregelt und wie im Expertenentwurf für ein Konsumentenschutzgesetz vorgeschlagen – gesetzlich zu verpflichten, gegebenenfalls den Rückruf von nicht sicheren Produkten von sich aus zu veranlassen? Angesichts der diesbezüglich unvollständigen und letztlich unklar bleibenden Parteidarstellungen kann der Presserat diesen Aspekt wie eingangs ausgeführt aber nicht abschliessend beurteilen. Ungeachtet davon wäre aber jedenfalls die Wertung, «Schweizer Konsumenten sind vor gefährlicher Ware schlechter geschützt als EU-Bürger» auch bei dieser Sachlage berufsethisch nicht zu beanstanden. Allenfalls wäre für die Leserschaft eine etwas ausführlichere Erklärung der dieser Wertung zugrundeliegenden Fakten und Interpretationen hilfreich, was der «Beobachter» offenbar von sich aus in einem Nachfolgeartikel nun ohnehin nachliefern will.

4. Aus Sicht des Presserates steht also nicht fest, dass die «Beobachter»-Redaktion jedenfalls im massgeblichen Zeitraum zwischen der Veröffentlichung des Artikels am 25. Juli 2003 und der Beschwerdeeinreichung vom 10. August 2003 davon ausgehen musste, eine Falschmeldung veröffentlicht zu haben. Folglich handelte sie richtig, als sie zumindest die der Stossrichtung des Artikels widersprechende Stellungnahme des Bundesamts für Justiz veröffentlichte und damit den widersprechenden Expertenstandpunkten nachträglich Rechnung trug. Auch eine Verletzung von Ziffer 5 der «Erklärung» ist deshalb zu verneinen.

5. Soweit der Beschwerdeführer schliesslich geltend macht, die Autorin des Artikels wäre angesichts der Parteistellung der von ihr zitierten Experten berufsethisch verpflichtet gewesen, deren Standpunkt bereits vor der Veröffentlichung durch ergänzende Recherchen zu überprüfen, überspannt er die Anforderungen an die journalistische Tätigkeit. Zumal die Autorin gemäss ihren Ausführungen in einem E-Mail an den Beschwerdeführer geltend macht, neben Bernd Stauder, Alexander Brunner und Konsumentenschutzorganisationen auch das Büro für Konsumentenfragen des EVD sowie die Eidgenössische Kommission für Konsumentenfragen konsultiert zu haben. Dies gilt umso mehr, als wie oben ausgeführt, die berufsethische «Erklärung der Pflichten» auch eine für die Leserschaft erkennbare parteiergreifende, einseitige Berichterstattung zulässt. Hier ist diese Voraussetzung offensichtlich erfüllt, dürften doch Leserinnen und Leser des «Beobachters» von vornherein davon ausgehen, dass diese Zeitschrift in Konsumentenrechtsfragen eine pointierte Haltung einnimmt. Dies gilt umso mehr, wenn in einem Artikel zur Begründung der Hauptthese an erster Stelle auf eine Konsumentenschützerin und SP-Politikerin Bezug genommen wird.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.