I. Sachverhalt
A. Am 3. Oktober 2002 veröffentlichte die Zeitung «Der Bund» unter dem Titel «Verdächtiger in Albanien gefasst», eine Meldung der Nachrichtenagentur Associated Press, Nachrichtenredaktion Schweiz (nachfolgend: AP). Laut der Meldung war der Hauptverdächtige eines Mordfalls in der Umgebung von Bern aus dem Jahr 1991 in Albanien verhaftet worden und solle jetzt in die Schweiz ausgeliefert werden.
B. Mit Beschwerde vom 5. November 2002 gelangte X., Tochter des Mordopfers, an den Presserat. Sie rügte:
– die Pressemitteilung enthalte falsche Angaben über den seinerzeitigen Tathergang. – In der AP-Meldung seien zudem zu viele für das Verständnis nicht notwendige Hintergrundinformationen veröffentlicht worden, die die Angehörigen leicht identifizierbar machten. Die Konsequenz daraus sei, dass ihre Familie wieder auf den Mordfall angesprochen worden sei. Ihres Erachtens sei es überflüssig gewesen, den Tatort auszuschreiben. – Weiter hätte AP die offizielle Benachrichtigung des EJPD abwarten sollen, anstatt die von den albanischen Behörden erhaltenen Informationen unverzüglich zu veröffentlichen. Die Agentur habe damit in Kauf genommen, dass die Angehörigen durch die Medien statt durch die Polizei von der Verhaftung erfahren hätten. – Schliesslich sei es entgegen der Meldung völlig offen, ob die albanischen Behörden den mutmasslichen Täter ausliefern würden. Dies könne Jahre dauern.
C. In einer Stellungnahme vom 19. November 2002 beantragte der Chefredaktor von AP-Schweiz, Balz Bruppacher, die Beschwerde sei abzuweisen. An der Verbreitung der Meldung über die Verhaftung des mutmasslichen Täters eines Mordfalls habe ein öffentliches Interesse bestanden. AP habe sich auf die summarische Wiedergabe des Sachverhalts beschränkt und das berufsethische Verbot von sensationellen Darstellungen nicht verletzt. Zu den Rügen der Beschwerdeführerin führte AP im Einzelnen aus:
– Bei der Sachverhaltsdarstellung über die 1991 begangene Tat habe sich die Nachrichtenagentur auf eine Meldung gestützt, die AP am Tag der Tat gestützt auf eine Mitteilung der Kantonspolizei Bern verbreitet habe.
– AP habe bewusst auf eine Namensnennung verzichtet, obwohl ihr der Name des Opfers gestützt auf die vom AP-Korrespondenten in Tirana übermittelten Informationen der albanischen Behörden vorlag. Eine summarische Wiedergabe des Sachverhalts samt Orts- und Datumsangaben sei im Falle der Verhaftung eines mutmasslichen Täters eines Tötungsdelikts angemessen. Dieses Vorgehen entspreche im übrigen auch der Praxis von Behörden und Medien, wenn der Täter eines Tötungsdelikts in der Schweiz verhaftet wird. Negative Folgen für die Angehörigen würden sich nur dann vermeiden lassen, wenn in solchen Fällen gänzlich auf eine Berichterstattung verzichtet würde, was wegen des legitimen Informationsbedürfnisses der Öffentlichkeit in solchen Fällen nicht in Betracht komme.
– Darüber hinaus entspreche es der Praxis der Nachrichtenagenturen und anderer Medien, Informationen dann aufzugreifen, und unter Angabe der Quellen weiterzuverbreiten, wenn die Quelle als glaubwürdig eingestuft wird. Eine Meldung, die auf ausländischen behördlichen Angaben beruht, nur deshalb zu unterdrücken, weil die Schweizer Behörden von der Nachricht noch keine Kenntnis haben, entspreche nicht dem Selbstverständnis von AP als aktuelles Nachrichtenmedium.
– Schliesslich habe sich AP auch bei der Sachverhaltsdarstellung bezüglich der Auslieferung des Verhafteten unter klarer Nennung der Quelle auf die Auskunftsperson der albanischen Polizei abgestützt.
D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.
E. Am 26. November 2002 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt.
F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 7. Februar 2003 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Soweit die Beschwerdeführerin beanstandet, entgegen der AP-Meldung vom 3. Oktober 2002 sei ihr Vater nicht auf dem Weg zum Stall tödlich verletzt worden, sondern vielmehr «im Stall ermordet und zwar mit einem gezielten Schuss», kann der Presserat diese Frage aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen nicht beurteilen. Ohnehin ist aber das Verhalten der Nachrichtenagentur in diesem Punkt berufsethisch bereits deshalb nicht zu beanstanden, wenn sie sich bei der Darstellung des Sachverhalts aus dem Jahr 1991 auf eine zum damaligen Zeitpunkt offensichtlich nie beanstandete eigene Meldung stützte. Ebenso wie Publikumsmedien grundsätzlich auf die Richtigkeit von Agenturmeldungen vertrauen dürfen (Stellungnahme 3/92 i.S. SAIH c. «Rheintalische Volkszeitung» und «Rheintaler»), kann auch von Agenturen nicht verlangt werden, dass sie jedesmal, wenn sie eine frühere Meldung wiederverwenden, deren Inhalt noch einmal von Grund auf überprüfen.
2. a) Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» auferlegt den Medienschaffenden die Pflicht, die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Gemäss der Richtlinie 7.6 (Namensnennung) veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten in der Gerichtsberichterstattung – vorbehältlich von Ausnahmen – grundsätzlich weder Namen noch andere Angaben, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen. Der Presserat hat in seiner Praxis diesen Grundsatz der Nichtidentifikation der Betroffenen über die Gerichtsberichterstattung im engeren Sinne hinaus ausgedehnt (vgl. z.B. 8/00 i.S. L. c. «Beobachter»; 41/00 i.S. A. c. «Basler Zeitung» und 12/02 i.S. X. c. «Tribune de Genève»).
Gemäss der Richtlinie 8.5 (Opferschutz) zur «Erklärung» haben Autorinnen und Autoren von Berichten über dramatische Ereignisse oder Gewalt zudem immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abzuwägen. «Journalistinnen und Journalisten sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren. Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt.»
b) Der Presserat hat in seiner Stellungnahme 53/02 i.S. X. c. «20 Minuten» eine Beschwerde abgewiesen, die sich gegen die Nennung des genauen Tatortes eines Gewaltdeliktes richtete. Allerdings war die Angabe der genauen Adresse und die Abbildung des betroffenen Gebäudes im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der Respektierung der Privatsphäre der von einer Berichterstattung Betroffenen nicht unproblematisch. «Denn diese Angaben können ebenso wie die Namensnennung dazu führen, dass Betroffene über den engen Kreis von Bekannten, Verwandten und Freunden hinaus identifizierbar werden. Mithin kann die Privatsphäre von Personen, die nicht dem öffentlichen Leben zuzuordnen sind, bei einer solchen Berichterstattung auch bei einem Verzicht auf die Namensnennung bloss gestellt werden, ohne dass dies immer durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt wäre.» Bereits in der Stellungnahme 7/97 i.S. A. c. «Le Matin» hat der Presserat jedoch darauf hingewiesen, dass es sich auch bei einer anonymisierten Berichterstattung kaum je vermeiden lässt, dass die Beteiligten für einen beschränkten Teil des Publikums (Angehörige, Fr
eunde, Bekannte usw.) erkennbar sind.
c) Vorliegend geht die Lokalisierung der Berichterstattung weniger weit als beim Sachverhalt, der der Stellungnahme 53/02 zugrunde lag. Zwar wird der Ort genannt, nicht jedoch die genaue Adresse. Dennoch hatte die Angabe des Ortes und weiterer Einzelheiten – wie die Beschwerdeführerin zu recht geltend macht – zur Folge, dass wohl ein erheblicher Teil der Bewohnerinnen und Bewohner der Ortschaft gewusst haben dürften, um welche Familie es ging. Daran hätte auch ein Verzicht auf die Ortsnennung kaum etwas geändert. Denn ein solcher Mordfall – selbst wenn dieser 10 Jahre zurückliegt – bleibt auch in der Bevölkerung einer mittelgrossen Ortschaft längere Zeit in Erinnerung. Insbesondere gilt dies für Personen, denen die Angehörigen von Täter und Opfer persönlich bekannt sind.
Wenn aber der Verzicht auf die Nennung der Ortschaft kaum etwas an der Tatsache geändert hätte, dass die anonymisierte Berichterstattung für einen beschränkten Teil des Publikums ohnehin konkreten Personen zugeordnet werden konnte, hätte sich die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte neuerliche Konfrontation der Angehörigen des Opfers mit der 10 Jahre zurückliegenden Tat – wenn überhaupt – nur dann vermeiden lassen, wenn die Medien entweder ganz auf die Berichterstattung über die Verhaftung des mutmasslichen Täters verzichtet hätten oder sich auf einige wenige abstrakte Angaben beschränkt hätten (z.B. Verhaftung des mutmasslichen Täters eines im Kanton Bern vor 10 Jahren begangenen Tötungsdelikts). Eine derart knappe, stark verkürzte Meldung würde nach Auffassung des Presserates aber dem legitimen Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht genügend Rechnung tragen. Auch die Berücksichtigung der der Richtlinie 8.3 (Operschutz) zur «Erklärung» zugrunde liegenden Wertungen führt vorliegend zu keinem anderen Ergebnis der Interessenabwägung, hat sich doch AP auf die Weiterverbreitung einer nüchtern abgefassten Meldung beschränkt. Von einer sensationellen, die Angehörigen unnötig verletzenden Darstellung kann offensichtlich keine Rede sein.
3. a) Die Beschwerdeführerin rügt weiter, AP hätte mit der Weiterverbreitung der Information zuwarten müssen, bis die Angehörigen durch die Polizei über die Verhaftung des mutmasslichen Täters informiert worden seien. Für die Veröffentlichung der Information habe keine Eile bestanden. AP macht dazu geltend, zwar beim EJPD angefragt zu haben, ob dieses über die Verhaftung bereits informiert war, was verneint worden sei. Dessenungeachtet habe AP als aktuelles Medium mit der Verbreitung der Meldung nicht zuwarten können.
b) In der Stellungnahme 2/95 i.S. Bundesanwaltschaft / «SonntagsZeitung» hat der Presserat darauf hingewiesen, dass von Journalistinnen und Journalisten erwartet werden kann, mit der Publikation einer Information von öffentlichem Interesse zuzuwarten, wenn äusserst wichtige andere Interessen auf dem Spiel stehen. Im konkreten Fall machte die Bundesanwaltschaft damals geltend, der Erfolg einer Ermittlungsaktion gegen Aktivitäten der «Islamischen Heilsfront (FIS)» sei durch den vorzeitigen Bericht der «SonntagsZeitung» gefährdet worden.
c) Die Meldung über die im Zusammenhang mit einem schweizerischen sogenannten Kapitaldelikt erfolgte Verhaftung eines Tatverdächtigen im Ausland gehört grundsätzlich unverzüglich an die Öffentlichkeit. Insofern ist die von der Beschwerdegegnerin angeführte Praxis der Schweizer Medien nicht zu beanstanden, entsprechende Informationen ungeachtet des Kenntnisstandes der Schweizer Behörden sofort zu veröffentlichen. Wenn es aber ohnehin den beruflichen Gepflogenheiten entspricht, routinemässig das EJPD zu kontaktieren, ob dieses über eine Verhaftung bereits orientiert ist, sollten sowohl Medien als auch Behörden gleichzeitig darauf hinwirken, dass Betroffene möglichst unverzüglich und unmittelbar durch die Behörden informiert werden. Wenn dies vorliegend leider unterblieben ist, kann dies aber nicht ohne weiteres der Beschwerdegegnerin angelastet werden. Anders wäre der Sachverhalt allenfalls dann zu beurteilen, wenn das EJPD gegenüber die Nachrichtenagentur um einen kurzen zeitlichen Aufschub zwecks vorgängiger Benachrichtigung der Angehörigen gebeten hätte. Die dem Presserat vorliegenden Unterlagen deuten jedoch nicht auf eine solche Bitte hin.
Schliesslich fällt bei allem Verständnis für die Argumentation der Beschwerdeführerin bei der Beurteilung dieser Rüge auch ins Gewicht, dass die Information über die Ergreifung eines Täters im Ausland für die Opfer doch erheblich weniger gravierend erscheint, als die Benachrichtigung über die Tat selber. Dementsprechend erscheint der Umstand, dass die Angehörigen des Opfers vorliegend via Medien über die Verhaftung des mutmasslichen Täters informiert wurden zwar als bedauernswert, jedoch nicht als derart schlimm, dass allein schon deshalb auf eine Verletzung der Richtlinie 8.3 zur «Erklärung» zu erkennen wäre.
4. a) Schliesslich macht die Beschwerdeführerin geltend, der Meldung von AP sei fälschlicherweise zu entnehmen gewesen, der Verhaftete werde umgehend an die Schweiz ausgeliefert. Entgegen der Meldung sei es aber vollständig offen, ob und vor allem wann dies geschehen werde.
b) In der beanstandeten Meldung ist dazu folgender Satz zu lesen: «Jetzt soll der Kosovo-Albaner bald in die Schweiz ausgeliefert werden». Die entsprechende Passage von AP Albanien lautete: «Albanien police arrested und would extradite to Switzerland (…)». Gemäss Darstellung der Beschwerdegegnerin stützt sich AP Albanien dabei auf Angaben der albanischen Polizei. Unter diesen Umständen kann der schweizerischen Agentur von vornherein kein Vorwurf gemacht werden, zumal auch der – vom «Bund» übrigens nicht aufgenommene – Terminus «bald» nur eine ungenaue zeitliche Angabe macht. Ohnehin dürfte dem Publikum der Schweizer Medien aufgrund zahlreicher einschlägiger Informationen in verschiedenen spektaktulären Fällen bekannt sein, dass der Ausgang von Auslieferungsverfahren mit ausländischen Staaten oft ungewiss ist und jedenfalls häufig längere Zeit beansprucht. Im konkreten Fall konnte dem «Bund» vom 4. Februar 2003 zwischenzeitlich entnommen werden, dass der Tatverdächtige nun offenbar bereits im Januar 2003 von Albanien an die Schweiz ausgeliefert worden ist.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Ebenso wie Publikumsmedien grundsätzlich auf die Richtigkeit von Agenturmeldungen vertrauen dürfen, kann auch von Agenturen nicht verlangt werden, dass sie jedesmal, wenn sie eine frühere Meldung wiederverwenden, deren Inhalt noch einmal von Grund auf überprüfen.
3. Die Nennung des Tatorts in einer Meldung über die Verhaftung des mutmasslichen Täters eines 10 Jahre zurückliegenden Tötungsdelikts ist dann zulässig, wenn davon auszugehen ist, dass der Bericht vom näheren Umfeld der Beteiligten und den Bewohnerinnen und Bewohnern der Ortschaft auch bei einem Verzicht auf die Ortsnennung ohnehin konkreten Personen zugeordnet werden könnte.
4. Die Meldung über die im Zusammenhang mit einem schweizerischen sogenannten Kapitaldelikt erfolgte Verhaftung eines Tatverdächtigen im Ausland gehört grundsätzlich ungeachtet des Kenntnisstandes der Schweizer Behörden unverzüglich an die Öffentlichkeit. Wenn die Erstverbreitermedien in solchen Fällen aber ohnehin routinemässig das EJPD kontaktieren, sollten sie zusammen mit diesem darauf hinwirken, dass von der Verhaftung Betroffene möglichst schnell und unmittelbar durch die Behörden informiert werden.