Nr. 4/2005
Wahrheitspflicht

(Arbeitsgemeinschaft PVC-Industrie c. «K-Tipp-Spezial») Stellungnahme des Presserates vom 11. Februar 2005

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Sagt mir woraus die Kleider sind» veröffentlichte die Zeitschrift «K-Tipp-Spezial» im Themenheft «Mode und Kleider» vom Mai 2004 einen Beitrag mit einem «Überblick über das riesige Angebot an Natur- und Chemiefasern». Zum Stichwort «Polychlorid / Polyvinylchlorid» war darin zu lesen: «Diese Faser findet sich manchmal in Wetterschutzbekleidung als Beschichtung und in billigen Lederimitaten. Polyvinylchlorid (PVC) ist ein Krebs auslösender Stoff.»

B. Am 10. Mai 2004 protestierte Norbert Helminiak namens der Arbeitsgemeinschaft der Schweizerischen PVC-Industrie bei der Redaktion «K-Tipp» gegen die «falsche» Ausssage «Polyvinylchlorid ist ein Krebs auslösender Stoff» und verlangte die Publikation einer Korrektur. «PVC ist ein harmloses weisses Pulver, das nicht Krebs auslösend ist.»

C. In der Folge konnten sich die Arbeitsgemeinschaft und die Redaktion nicht auf den Wortlaut einer redaktionellen Ergänzung / Korrektur einigen. Die Redaktion bot am 18. Mai 2004 per E-Mail die Publikation folgender Ergänzung an: «Im ÐK-Tipp-Spezialð zum Thema Mode und Kleider steht: ÐPolyvinylchlorid (PVC) ist ein Krebs auslösender Stoffð. Diese Aussage ist in dieser Form umstritten. Es muss deshalb heissen: PVC steht im Verdacht, Krebs auszulösen. Die Redaktion.» Demgegenüber beharrte die Arbeitsgemeinschaft der PVC-Industrie in ihrem Antwort-Mail vom gleichen Tag auf folgender Berichtigung: «Im ÐK-Tipp-Spezialð zum Thema Mode und Kleider steht: ÐPolyvinylchlorid (PVC) ist ein Krebs auslösender Stoffð. Diese Aussage ist in dieser Form falsch. Es muss deshalb heissen: PVC ist nicht Krebs auslösend. Die Redaktion.»

D. Am 23. Juni 2004 gelangte die Arbeitsgemeinschaft der PVC-Industrie mit einer Beschwerde an den Presserat und rügte, «K-Tipp-Spezial» habe mit der Publikation der falschen Aussage die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

E. Mit Stellungnahme vom 27. August 2004 wies René Schuhmacher die Beschwerde namens der Redaktion «K-Tipp» als unbegründet zurück. Polyvinylchlorid werde aus Vinylchlorid hergestellt. Sogar geringe Konzentrationan an Vinylchlorid könnten gemäss Reichl (Taschenatlas der Toxikologie) zu Tumoren führen. Unbestritten sei ferner, dass bei der Verbrennung von PVC entstehende Dioxine chronisch toxisch seien. PVC würde in vielen Produkten zudem häufig in problematischen Kombinationen z.B. mit Weichmachern eingesetzt, die ihrerseits im Verdacht stünden, krebsauslösend zu sein. Auch «Öko-Test» spreche den PVC-Produkten bei der Herstellung, beim Gebrauch sowie bei der Entsorgung toxische und zum Teil krebserregende Wirkungen zu. Beim beanstandeten Artikel habe es sich nicht um einen wissenschaftlichen Beitrag gehandelt. Aufgrund der gegenwärtigen Wissensstandes sei die von der Redaktion gewählte Kurzformulierung journalistisch vertretbar und jedenfalls nicht unwahr. Zudem sei der Beschwerdeführerin die Publikation einer korrekten redaktionellen Präzisierung angeboten worden.

F. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

G. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Presseratspräsidenten Peter Studer und der Vizepräsidentin Sylvie Arsever hat die vorliegende Stellungnahme per 28. Januar 2005 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet. Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher, die als freie Mitarbeiterin regelmässig für den «K-Tipp» schreibt, trat in den Ausstand.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat wiederholt festgehalten, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehört, zwischen den Parteien umstrittene Sachverhalte in einem Beweisverfahren zu klären (vgl. hierzu zuletzt die Stellungnahmen 66/2004). Wie u.a. in der Stellungnahme 34/2004 dargelegt, gilt dies insbesondere auch bei Themen, die in Fachkreisen kontrovers diskutiert werden. Deshalb kann der Presserat nicht absolut beurteilen, ob der Satz «PVC ist Krebs auslösend» wahr oder falsch ist. Vielmehr hat er relativ auf die von der Redaktion «K-Tipp-Spezial» eingereichten Unterlagen abzustellen und seine Prüfung darauf zu beschränken, ob sie die darin enthaltenen Informationen im Zusammenhang mit der beanstandeten Publikation unter dem Gesichtspunkt von Ziffer 1 der «Erklärung» berufsethisch korrekt bearbeitet hat.

2. Bereits in seiner Stellungnahme 9/1994 (zuletzt bestätigt in 54/2004) wies der Presserat zudem darauf hin, aus dem Verbot der Unterschlagung von wichtigen Informationselementen (Ziffer 3 der «Erklärung») könne nicht abgeleitet werden, dass bei der Berichterstattung über ein Thema sämtliche Aspekte wiederzugeben sind. Wer sich auf einzelne Aspekte beschränkt, hat aber darauf achtzugeben, dass weitere Aspekte nicht in unzulässiger Weise verkürzt werden. Vorliegend ist dementsprechend zu prüfen, ob die Formel «PVC ist ein Krebs auslösender Stoff» die ihr zugrunde liegenden Informationen in berufsethisch zulässiger Weise zusammenfasst oder ob der Leserschaft daraus ein unzutreffender Eindruck vermittelt worden ist.

3. a) Gemäss Darstellung der Redaktion «K-Tipp-Spezial» hätte eine präzise Formulierung gelautet: «Polyvinylchlorid wird aus krebserregenden Substanzen produziert (Vinylchlorid), wird als Produkt häufig mit krebsverdächtigen Substanzen vermischt (Weichmacher) und produziert bei der Verbrennung hochtoxische Dioxine.» Da das Heft aber nicht für Chemiker oder Laboranten geschrieben werde, müsse die Redaktion komplizierte Sachverhalte knapp und verständlich zusammenfassen. Aus diesem Grund sei die von der Redaktion gewählte Kurzform journalistisch vertretbar, jedenfalls nicht unwahr.

b) Zwar kann von der Redaktion einer Konsumentenzeitschrift berufsethisch nicht die Verwendung wissenschaftlicher Formulierungen verlangt werden. Dennoch macht es nicht nur für Fachleute, sondern auch für Konsumentinnen und Konsumenten einen gewichtigen Unterschied aus, ob die Gefahr krebserregender Wirkungen möglicherweise im Zusammenhang mit der Herstellung oder Entsorgung einer Substanz oder ob sie direkt bei der Verwendung durch den Verbraucher besteht. Der Satz «PVC ist ein krebsauslösender Stoff» legt der Leserschaft eines Konsumentenmagazins aber gerade letzteren durch die von «K-Tipp» vorgelegten Unterlagen nicht gestützten Schluss nahe.

Dementsprechend wäre die Zeitschrift berufsethisch bei allem Verständnis für die journalistisch geforderte Kürze zumindest verpflichtet gewesen, den umstrittenen Satz zu relativieren und darauf hinzuweisen, dass zwar nicht die Substanz selber krebsauslösend sei, jedoch ihre Herstellung und Kombination mit anderen umstrittenen Produkten ebenso wie die Entsorgung unter diesem Aspekt kritisiert werde. Allermindestens hätte «K-Tipp» die im eigenen Vermittlungsvorschlag enthaltene – allerdings viel ungenauere – Formel verwenden sollen, PVC «stehe im Verdacht, Krebs auszulösen».

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist.

2. «K-Tipp» hat mit der Publikation des verkürzenden Satzes «Polyvinylchorid (PVC) ist ein Krebs auslösender Stoff» die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Bei der Leserschaft entstand dadurch der von den diesem Vorwurf zugrundeliegenden Informationen nicht gestützte Eindruck, die Verwendung von PVC durch den Endverbraucher erhöhe bei diesem das Krebsrisiko unmittelbar. Deshalb wäre die Redaktion verpflichtet gewesen, darauf hinzuweisen, dass nicht die Substanz selber krebsauslösend sei, dass jedoch ihre Herstellung und Kombination mit anderen umstrittenen Produkten ebens
o wie die Entsorgung unter diesem Aspekt kritisiert werde. Allermindestens hätte die Redaktion eine in diese Richtung weisende Kurzformel veröffentlichen müssen.