Nr. 36/2008
Wahrheit / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Justizdirektion Zürich c. «SonntagsBlick») Stellungnahme des Presserates vom 13. August 2008

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I. Sachverhalt

A. Am 2. März 2008 titelte der «SonntagsBlick» auf der Front «Verwahrter Kinderschänder allein im Ausgang». Die beiden Autoren Beat Kraushaar und Daniel Jaggi berichten unter dieser Schlagzeile über einen, wie es im Frontanriss weiter heisst, «neuen Gefängnis-Skandal». Der Artikel auf den Seiten 2 und 3 der gleichen Ausgabe «Verwahrter Pädophiler hatte Ausgang und lief frei herum! Neuer Justizskandal im Kanton Zürich: Im Urlaub geniesst ein verwahrter Pädophiler alle Freiheiten» stützt sich vor allem auf ein Telefongespräch ab, das ein in der zürcherischen Strafanstalt Pöschwies wegen «fortgesetzter Unzucht mit Kindern» Verwahrter am 27. Februar 2008 mit dem Zürcher SVP-Kantonsrat Claudio Schmid geführt hat. Der Politiker habe das «rund einstündige Telefongespräch» mit dem Pädophilen «vor einigen Tagen» aufgezeichnet und «mit dessen ausdrücklicher Einwilligung auf seiner Homepage veröffentlicht». Das Telefongespräch führte der Verwahrte mit einem ausgeliehenen Handy während eines begleiteten Urlaubs in einem Restaurant im zürcherischen Dietikon. Nach eigener Aussage zuerst von der Gartenterrasse aus und dann aus der Toilette, ohne dass sich sein Begleiter in unmittelbarer Nähe befunden habe.

Der Artikel zitiert über weite Teile aus dem Telefongespräch. Im Wesentlichen beschreibt der Verwahrte die Umstände, unter denen er mit Schmid telefoniert habe, berichtet über das seit Jahren bestehende und mittlerweile recht vertrauliche Verhältnis zwischen ihm und seinem Begleiter, sowie über die Tatsache, dass er in dieser Situation abhauen könnte – es aber nicht tue. Weiter kritisiert er den «Stumpfsinn», der im Strafvollzug laufe, «Schmusetherapien», die nichts brächten. Im Bericht wird zudem Thomas Manhart, Leiter beim Zürcher Amt für Justizvollzug, wie folgt zitiert: «Urlaube sind streng reglementiert. Handys und Internetzugang sind verboten. Aber erst wenn wir die Möglichkeit hatten, den Vorfall zu überprüfen, können wir konkret Stellung nehmen.»

In einem neben dem fast zweiseitigen Artikel platzierten Editorial kritisiert der damalige Chefredaktor Marc Walder die lasche Aufsicht über den Verwahrten als «erschreckend, ja unhaltbar». Weiter empfiehlt er eine angekündigte Motion von SVP-Nationalrätin Natalie Rickli betreffend Einführung eines nationalen Registers verurteilter pädophiler Straftäter zur Annahme.

Illustriert ist der Artikel mit dem Foto der Fassade eines Restaurants mit Gartenterrasse. Auf dem Bild ist markiert, wo der Verwahrte während des Telefongesprächs gestanden und wo, hinter einem Fenster, sein Begleiter gesessen haben soll. Flankiert wird der Bericht mit einer Bilderschiene zu drei Verbrechen, die verwahrte Sexualstraftäter während ihres Hafturlaubs begangen haben.

B. Als Reaktion auf den Bericht des «SonntagsBlick» veröffentlichte die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich und das Amt für Justizvollzug noch am gleichen Tag eine Stellungnahme zum obengenannten Artikel. Danach hatte der betroffene Verwahrte bereits während mehrerer Jahre unbegleiteten Hafturlaub, um soziale Kontakte – vor allem zu seiner Familie – aufrechtzuerhalten. Aufgrund der generellen Verschärfung der Urlaubspraxis seien ihm später nur noch begleitete Hafturlaube gewährt worden. «Begleitete Hafturlaube setzen voraus, dass auf Grund konkreter Umstände eine Fluchtgefahr ausgeschlossen werden kann. (…) Es ist Insassen nicht verboten, während Hafturlauben Telefongespräche zu führen. Sie können im Einvernehmen mit dem Aufsichtspersonal Telefongespräche führen. Im vorliegenden Fall bestand auch gemäss Auskunft des Insassen während des gesamten Urlaubes Sichtkontakt zwischen ihm und dem Begleiter.» Der «SonntagsBlick»-Redaktor habe der Leitung des Amts für Justizvollzug gegenüber in einer Anfrage vor der Publikation keinerlei Anhaltspunkte gegeben, um welchen Insassen oder Urlaub es sich handelte, was eine «substantielle Stellungnahme» verunmöglicht habe.

C. Am 10. April 2008 gelangte die Direktion der Justiz und des Inneren des Kantons Zürich mit einer Beschwerde gegen den «SonntagsBlick» an den Schweizer Presserat. Die Beschwerde beanstandet in erster Linie die Verletzung der Richtlinie 3.8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung bei schweren Vorwürfen). Zudem sieht die Beschwerdeführerin auch die Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheit) verletzt.

Zwar hätten sich die beiden Autoren vor der Publikation des beanstandeten Berichts mit einem Fragekatalog an die Justizdirektion gewandt. Auf entsprechende Nachfrage hätten sie sich aber geweigert, den konkreten Fall zu nennen, um den es ging. Unter diesen Umständen sei aber der Leiter des Amts für Justizvollzug nicht bereit gewesen, kurzfristige Abklärungen zu veranlassen.

Weiter werde das Publikum durch die faktenwidrige Schlagzeile «Verwahrter Kinderschänder allein im Ausgang» auf der Titelseite irregeführt und schliesslich entspreche das vom «SonntagsBlick» abgebildete Restaurant in Dietlikon nicht demjenigen Restaurant in Dietikon, von dem aus der Verwahrte telefoniert habe.

D. Am 15. Mai 2008 wies die anwaltlich vertretene Redaktion des «SonntagsBlick» die Beschwerde als unbegründet zurück. Weder die Anhörungspflicht noch das Wahrheitsgebot sei verletzt worden. Die Gelegenheit zur Stellungnahme habe der Leiter des Amts für Justizvollzug ungenützt verstreichen lassen. Zudem fehle es an einem schweren Vorwurf als Voraussetzung der Anhörungspflicht. Dass der Verwahrte allein im Ausgang war, sei eine zulässige Schlagzeile. «Denn dass er ‹begleitet› war, indessen sein Aufseher nicht neben ihm war, wird im Verlaufe des Artikels unmissverständlich mitgeteilt.» Schliesslich sei es völlig egal, ob die richtige oder die falsche Gaststätte in Dietikon abgebildet wurde. «Im Text steht nicht, dass in der abgebildeten Beiz sich das Gespräch abgewickelt habe und es ist mit Bedacht auf dem Bild auch kein Name der Gaststätte erkennbar.» Im Übrigen bleibe die Beschwerdeführerin den Beweis für ihre Behauptung schuldig, dass die «‹falsche› Beiz» abgebildet worden sein solle.

E. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann.

F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 13. August 2008 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Die Beschwerdeführerin sieht die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt. Die Anwendbarkeit der Richtlinie setzt zunächst einmal voraus, dass im beanstandeten Medienbericht überhaupt ein schwerer Vorwurf erhoben wird. Auch wenn der «SonntagsBlick» den Vorwurf nicht direkt formuliert, ist es für den Presserat klar, dass die Autoren der Leserschaft den Schluss aufdrängen, die Beschwerdeführerin habe die Bevölkerung im konkreten Fall (erneut) ungenügend vor einem gemeingefährlichen verwahrten Sexualstraftäter geschützt bzw. diesen während eines begleiteten Hafturlaubs schlampig überwacht. Dieser Vorwurf wiegt schwer, insbesondere wenn der politische Kontext der letzten Jahre zu den Themen Hafturlaub und Verwahrung einbezogen wird.

b) Die beiden «SonntagsBlick»-Journalisten haben den Leiter des Amts für Justizvollzugs denn auch am frühen Freitagnachmittag vor der Publikation wie folgt per E-Mail kontaktiert: «Wir haben heute über den Mittag noch Informationen über einen Verwahrten in der Strafanstalt Pöschwies erhalten. Es geht darum, dass dieser bei einem begleiteten Urlaub unbeaufsichtigt mit einem Handy eine Stunde lang Telefongespräche geführt hat. Die Aufsichtsperson sass in dieser Zeit im Restaurant und trank Kaffee. Zudem hat der Verwahrte im Urlaub
ebenfalls ungehindert Zugang zum Internet gehabt.» Zu diesem Sachverhalt stellten die Autoren eine ganze Reihe von Fragen:

«- Wie viele Verwahrte erhalten zur Zeit begleiteten Urlaub?

– Wie viele Verwahrte erhalten zur Zeit keinen begleiteten Urlaub?

– Dürfen Verwahrte bei einem begleiteten Urlaub ein Handy benutzen?

– Dürfen Verwahrte bei einem begleiteten Urlaub das Internet benutzen?»

Weiter erkundigte sich der «SonntagsBlick», was ein begleiteter Urlaub pro Tag koste, welche Sanktionen bei einem Verstoss gegen das Urlaubsregime verhängt würden und ob es in letzter Zeit Vorfälle mit Verwahrten bei begleiteten Urlauben gegeben habe.

Gemäss einer dem Presserat von der Beschwerdeführerin eingereichten amtsinternen Mail vom späten (gleichen) Freitag Nachmittag rief der Leiter des Amts für Justizvollzug, Thomas Mannhart, den Journalisten Beat Kraushaar damals zurück und sagte ihm, «dass ich zu einem rein spekulativen Vorhalt keine Stellungnahme abgeben könne. Er müsse schon Ross, Reiter und Wagen benennen. Dies machte er natürlich nicht, insistierte aber darauf, er habe ein mitgeschnittenes Telefonat, das ein Gespräch eines Verwahrten auf Urlaub mit einem Bekannten wiedergebe, was beweise, dass dieser unkontrolliert habe sprechen können. Dass das Telefonat getürkt sein könnte, andernorts geführt sein könnte oder sonst unter bestimmten uns nicht bekannten Rahmenbedingungen zustande gekommen sein könnte, wollte er durchs Band nicht wahrhaben. Ich blieb bei meiner Haltung und sagte, dass ich nur Stellung nehme, wenn der konkrete Fall auf den Tisch gelegt werde. Dies wollte Kraushaar aus Gründen des Quellenschutzes natürlich nicht. Also bliebs beim no comment verbunden mit dem Hinweis.»

c) Der Artikel vom 2. März 2008 gibt diese Reaktion von Thomas Manhart wie folgt wieder: «Urlaube sind streng reglementiert. Handys und Internetzugang sind verboten. Aber erst wenn wir die Möglichkeit hatten, den Vorfall zu überprüfen, können wir konkret Stellung nehmen.»

d) Hat der «SonntagsBlick» mit dem beschriebenen Verhalten der Anhörungspflicht Genüge getan. War die Umschreibung des Sachverhalts genügend konkret, um dem Leiter des Amts für Justizvollzug eine genügende Stellungnahme zu ermöglichen? Zwar ist die Berufung des Journalisten auf den Quellenschutz sachlich unhaltbar, wenn seine Quelle ein zum damaligen Zeitpunkt im Internet veröffentlichtes und damit im Prinzip für jedermann zugängliches Protokoll darstellte. Aber auch wenn es möglich und empfehlenswert gewesen wäre, den konkreten Fall gegenüber dem Amt für Justizvollzug genauer zu benennen, waren die Umschreibung und die gestellten Fragen nach Auffassung des Presserates auch so konkret genug, um eine Stellungnahme zu ermöglichen. Der Widerspruch zwischen der im «SonntagsBlick»-Artikel wiedergegebenen Aussage, Handys und Internetzugang seien bei begleiteten Hafturlauben streng verboten und die tags darauf in der Mitteilung des Amts enthaltenen Relativierungen, es sei Insassen nicht verboten, während Hafturlauben zu telefonieren, ist jedenfalls kaum auf die ungenügende Benennung des konkreten Falls zurückzuführen. Im Ergebnis ist eine Verletzung der Anhörungspflicht deshalb knapp zu verneinen.

2. a) Die Beschwerdeführerin beanstandet sodann eine Verletzung der Wahrheitspflicht unter zwei Gesichtpunkten: Die Frontschlagzeile «Verwahrter Kinderschänder allein im Ausgang» sei schlicht falsch und für die Illustration sei ein Bild eines Restaurants in Dietlikon verwendet worden, währenddem das Telefongespräch in Dietikon geführt wurde.

b) Zur beanstandeten Schlagzeile ist festzuhalten, dass diese über die vom «SonntagsBlick» dem aufgezeichneten Telefongespräch entnommenen Faktenbehauptungen hinausgeht. Denn die Leserschaft wird diese Schlagzeile kaum bloss dahingehend interpretieren, ein verwahrter Kinderschänder sei im begleiteten Urlaub während eines Telefongesprächs ungenügend beaufsichtigt worden. Der Presserat hat in der Stellungnahme 14/2008 eine Entstellung von Informationen bei einer stark zugespitzten, unscharfen Titelschlagzeile mit der Begründung verneint, diese werde bereits durch den Lead relativiert. Dies im Gegensatz zu dem der Stellungnahme 32/2000 zugrunde liegenden Sachverhalt, bei dem die Relativierung erst im Lauftext erfolgte. Vorliegend ist allein aufgrund der Titelschlagzeile zudem nicht klar, wo sich eine neuer «Gefängnis-Skandal» ereignet haben soll bzw. gegen wen ein schwerer Vorwurf erhoben wird. Erst auf den Seiten zwei und drei wird auf den Kanton Zürich Bezug genommen. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass der Zürcher Justizdirektion vorgeworfen wird, einen Verwahrten während eines begleiteten Hafturlaubs ungenügend beaufsichtigt zu haben. Eine Irreführung der Leserschaft über den zur Diskussion stehenden Sachverhalt ist entsprechend auszuschliessen.

c) Für den Presserat ist aufgrund der ihm eingereichten Unterlagen nicht klar, ob das für die Illustration verwendete Bild eines Restaurants – bewusst oder aufgrund einer Verwechslung – tatsächlich nicht demjenigen entspricht, an dem das Telefongespräch mit dem Verwahrten aufgenommen wurde. Immerhin bestreitet der «SonntagsBlick» aber nicht ausdrücklich, dass wohl die «‹falsch› Beiz» abgebildet wurde. Entgegen der Auffassung der Redaktion ist eine derartige Verwechslung zudem berufsethisch nicht gänzlich irrelevant. Denn die Verwendung einer unzutreffenden Abbildung ruft bei der Leserschaft die irreführende Wahrnehmung hervor, das Bild stehe in direktem Bezug zum Gegenstand der Berichterstattung. Wird jedoch bewusst ein Bild ohne direkten Bezug zum Sachverhalt zur Illustration verwendet, ist diese Funktion kenntlich zu machen. Ist die allfällige Ortsverwechslung oder ungenügende Kennzeichnung jedoch relevant genug, um eine Verletzung der Ziffer 1 bzw. 3 der «Erklärung» festzustellen? Der Presserat geht auch hier nicht davon aus, dass die Wahrnehmung des Sachverhalts durch die Leserschaft aufgrund dieser Fehlleistung erheblich verzerrt oder entstellt worden ist. Auch die Beschwerdeführerin macht dies nicht geltend, sondern verlangt, dass das Bild als Montage hätte gekennzeichnet werden sollen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «SonntagsBlick» hat mit der Veröffentlichung der Titelschlagszeile «Verwahrter Kinderschänder allein im Ausgang» und dem zugehörigen Bericht auf den Seiten 2 und 3 der Ausgabe vom 2. März 2008 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) nicht verletzt.